von Steffen Dietzsch
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Ein erster Blick auf diesen voluminösen Band könnte Missverständnisse aufkommen lassen über Umfang und Intensität des Fachs ›Philosophie‹ in der ehemaligen DDR.
Der Blick aber, der diesem Band wirklich angemessen wäre, kann nicht monovisual, sondern muß stereoskopisch sein: Was heißt das? – Mit dem stereoskopischen Blick erweitere ich das Gesehene über eine vordergründige Fläche hinaus in einen Hintergrund. Erst das macht es möglich, die Personen dieses Verzeichnisses als je verschieden in einen historisch-geistigen Raum hinein vernetzt zu lesen und zu verstehen. Und das würde auch vor jenem ersten Missverständnis bewahren, in diesem Band etwa ein Philosophenlexikon zu vermuten. Rauh hatte den schönen, gestalterischen Einfall, die philosophische Arbeit in der DDR zusammen mit den extra-philosophischen Bedingungen ihrer Möglichkeit als ein personales Geflecht vorzustellen. Das erst lässt die nicht-kognitiven Konstellationen im DDR-Philosophie Betrieb sichtbar werden.
von Peter Brandt
Häftling Nr. 1935 – das Verfolgungsschicksal des Zeugen Jehovas Ernst Reiter
Die Geschichtswissenschaft kennt seit über drei Jahrzehnten den Begriff der ›vergessenen Opfer‹ des Nationalsozialismus. Genau betrachtet, wurde fast jede Gruppe der im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten nach 1945 Opfer eines gesellschaftlichen Verdrängungs- und Verleugnungsprozesses, für den ›Vergessen‹ manchmal auch ein Euphemismus war. Maßgeblich für eine Überwindung dieses ›Vergessens‹ der Opfergruppen waren in allen Fällen aus den Opfergruppen selbst kommende Initiativen.
Zunächst waren es jüdische Überlebende und jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – zumeist beides in einer Person –, die den Holocaust dokumentierten und erforschten, lange bevor die Ermordung der europäischen Juden zu einem zentralen Thema der Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde. Doch bei den meisten Opfergruppen bestand keine eigene wissenschaftliche Tradition, die diesen Aufarbeitungs- und kollektiven Erinnerungsprozess tragen konnte. Nicht-fachliches Engagement aus den Opfergruppen war entscheidend für die Erinnerung, Erforschung und Anerkennung. Wachsende, zwangsläufig nicht immer konfliktfrei verlaufende Unterstützung aus der Fachwissenschaft trat hinzu; heute gibt es auch eine wissenschaftliche Forschung, an der Nachkommen der Überlebenden oder spätere Generationen der einstigen Opfergruppen teilhaben.
von Steffen Dietzsch
Nationaler Einschluss und Neues Europa?
Piɬsudski gehört zu den großen Irredentisten, die im Gefolge des Versailler Vertrags hervortraten und die die politische Geographie Europas nachhaltig – bis heute – in Bewegung hielten. Sein Traum eines Polska Międzymorze (›zwischen-den-Meeren‹) beflügelt bis heute die geopolitische Phantasie seiner Anhänger; er war ihnen damit der große Realist der Utopie. – Templin erzählt davon in seiner außerordentlich gut recherchierten, anekdotenreich und lesefreundlich – manchmal im familiären Ton – geschriebenen Biografie. Seine Darstellung von Piɬsudskis dramatischer Lebens- und Politikentwicklung ist empathisch, engagiert und analytisch. Dadurch kann seine Arbeit zu einer weiteren produktiven Grundlage werden für eine erneuerte, künftige Diskussion über die besondere Rolle des Neuen Polen in den Anfängen und Verläufen des sogenannten Weltbürgerkriegs (1919-1989). Zu dessen vorläufigem Ende (1989) gehört als Ursprung und Konsequenz, dass jenes geistige wie geopolitische Scheitern der Sowjetunion auf das Waterloo des Bolschewismus zurückzuführen ist, als das der historisch singuläre Sieg von Piɬsudskis Armee im sowjetisch-polnischen Krieg vor Warschau (August 1920) verstanden werden muss. Es gehört aber auch zur Tragik von Piɬsudskis politischem Projekt, dass im nationalen (und militärkultischen) Furor und in den national-ethnischen Überdehnungen, mit denen die Polonia Restituta begründet wurde, allerdings auch einige Gründe seines Untergangs (1939-1944) begriffen werden müssen.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G