von Steffen Dietzsch
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Ein erster Blick auf diesen voluminösen Band könnte Missverständnisse aufkommen lassen über Umfang und Intensität des Fachs ›Philosophie‹ in der ehemaligen DDR.
Der Blick aber, der diesem Band wirklich angemessen wäre, kann nicht monovisual, sondern muß stereoskopisch sein: Was heißt das? – Mit dem stereoskopischen Blick erweitere ich das Gesehene über eine vordergründige Fläche hinaus in einen Hintergrund. Erst das macht es möglich, die Personen dieses Verzeichnisses als je verschieden in einen historisch-geistigen Raum hinein vernetzt zu lesen und zu verstehen. Und das würde auch vor jenem ersten Missverständnis bewahren, in diesem Band etwa ein Philosophenlexikon zu vermuten. Rauh hatte den schönen, gestalterischen Einfall, die philosophische Arbeit in der DDR zusammen mit den extra-philosophischen Bedingungen ihrer Möglichkeit als ein personales Geflecht vorzustellen. Das erst lässt die nicht-kognitiven Konstellationen im DDR-Philosophie Betrieb sichtbar werden.
Damit macht dieses Namens-Glossar – gewissermaßen über den kurzen (Funktionärs-Personal)Weg – einen der Horizonte sichtbar, vor dem allein das akademische Fach Philosophie (DDR-spezifisch) entscheidend zu verstehen ist: nämlich ihre auffallend politische Formbestimmtheit als eine der nicht-kognitiven Voraussetzungen und Konsequenzen ihres Verkehrsalltags. Das unterscheidet vor allem den Philosophie-Betrieb dort von dem anderer Baracken des sozialistischen Lagers: Zu erinnern wäre z.B. in Warschau an Leszek Kolakowski, Kazimierz Ajdukiewicz, Henryk Elzenberg, Zygmunt Bauman, in Prag an Jan Patočka, Karel Kosik, Jiří Černý, Karel Berka, in Budapest an Agnes Heller, Miklós Almási, Ferenc Tőkei, oder an die jugoslawische Praxis-Gruppe (Gajo Petrović, Predrag Vranicki, Milan Kangrga.
Als Gesamtgestalt bezieht dieser DDR-Philosophiebetrieb sein ›Framing‹ aus einer sich selbst verordneten Politizität, das heißt, er existiert nur als politischer Körper. Dies aber manifestiert sich in verdeckter Evidenz. Das auch deshalb, weil jene nicht-kognitiven Elemente definitiv nicht klar abgrenzbar bzw. messbar sind, aber sie reproduzieren sich und kontaminieren das theoretische bzw. technische Arbeitsquantum der Einzelnen. Das Passwort, um hier Teilhabe zu gewinnen, heißt: Das-musst-du-politisch-sehen.
Im Personenverzeichnis sind dazu viele übergroße Bereitschaften, aber auch bemerkenswerte Resilienzen im Einzelfall dokumentiert.
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Zu den zentralen nicht-kognitiven Bedingungen zählen Plan- und Abstimmungsverhältnisse mit Institutionen und Repräsentationen der Staatspartei und ministerieller Komitees und Kommissionen, sowie mit Partei- & Staatsmedien. Deren Personal war – nicht nur in Krisenzeiten – zuständig für die nötige politische Betriebstemperatur auch in philosophischer Lehre und Forschung. Alle Arbeitsvorgaben (Teamprojekte, Einzelthemen, Buch-, Dissertations- oder Editionsabsichten) mussten einen parteilich sensiblen Verwaltungsprozess absolvieren. Man hatte es bei diesen planförmigen Arbeitsumständen also nicht nur mit dieser oder jener bürokratischen Alltagshürde in Verwaltungsabläufen zu tun, sondern mit fest etablierten, sich selbst organisierenden Hierarchien politischer Kompetenz und Weisungsbefugnis.
Diesen nicht-kognitiven Dauerdienst hat das Personenverzeichnis: als ein ansonsten überwiegend unauffälliges aber informiertes Netzwerk in verschiedenen Lemmata namhaft gemacht. Dazu gehören Funktionsträger ganz unterschiedlicher Provenienz, etwa Polit-Exilanten wie Abusch, Ackermann, Duncker, Hager, Kurella und Ulbricht. Aber das waren größernteils eben obrigkeitskonfirmierte, d.h. ressentimentbereite und risikosscheue Parteiarbeiter wie Berg, Helene, Besenbruch, Walter, Hörnig, Hannes, Mertsching, Günter, Möhwald, Werner oder Wolf, Hanna. – Und natürlich werden hier im Verzeichnis die politisch immer maßgeblichen Sowjetaktivisten namhaft gemacht, die den Philosophiebetrieb von Anfang an dominierten und einhegten: Dafür stehen Namen wie Alexandrow, Fedossejew, Iljitschow, Nikolai Jantzen, Jessin, Judin, Lyssenko, Mitin, Nikitin bis hin zu Suslow, Semjonow und Shdanow.
Als gewissermaßen Schlußsteine in dieser nicht-kognitiven Architektur mussten konsequenterweise natürlich auch sowohl ›Josef‹, der Sohn des georgischen Schusters Wissarion Dshugashwili, als auch Mao Tse-tung mit je eigenen Lemmata erscheinen. Aber warum erscheint eigentlich nicht auch Lenin? Der doch – qualitativ singulär – sowohl als Quelle wie auch Gegenstand zum kognitiven, wie nicht-kognitiven Zentrum jener Philosophie gehörte.
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Das Ende dieses – philatelistisch gesagt – philosophischen Sammelgebiets weist auch eine philosophische Pointe aus: Wir sehen eine Beziehungsumkehrung von politisch forcierten Ursachen und deren entropischen Wirkungen, die ihrerseits sofort wieder als Ursachen für das Ende jenes ›Elends der Philosophie‹ (mit Marx gesagt) namhaft zu machen wären.