von Immo Sennewald
Als 1938 in Leipzig sein erster Roman Fata Morgana über den Straßen erscheint, ist Erwin Wickert 23 Jahre alt. Mit 21 ist er als deutscher Austauschstudent quer durch die USA gereist, nach Ende seines DAAD-Stipendiums auf eigene Faust von der Ostküste nach Kalifornien getrampt, per Autostopp oder unter Lebensgefahr, wie einst Jack London als ›Hobo‹ – also Schwarzfahrer auf Güterzügen. Was er sieht und erlebt, wirbelt fast alle von zu Hause mitgebrachten Begriffe von Amerika davon, aber er bemüht sich sogleich, so viel wie möglich zu beschreiben: für einen regelmäßigen Rundbrief an die Austauschstudenten und in Artikeln für Zeitschriften in Deutschland. Dort wartet der Wehrdienst auf ihn, deshalb will er keinesfalls zurück. Sein Geld reicht noch für eine Passage von San Francisco nach Japan im Zwischendeck eines Frachters, als Tellerwäscher hat er etwas dazu verdient, Asien wird, nach der für ihn befreienden Zeit in Amerika, das nächste große Abenteuer.
Ulli Kulke hat ihn 2007 – ein Jahr vor seinem Tod mit 93 Jahren – interviewt, und Wickerts enorme Energie, Weitsicht, kluge Selbstbeobachtung und sein Humor sprechen aus dem damals für die Welt geschriebenen Text. Als er starb, hinterließ er ein reiches Oeuvre an Romanen, Hörspielen, Sachbüchern, zahllosen Artikeln, Korrespondenzen. Die neu erschienene Biografie nimmt sich indessen vor allem des Diplomaten Erwin Wickert an, und wer sie heute, mit dem Abstand von Jahrzehnten zu Drittem Reich, Weltkrieg, Zerstörung und Wiederaufbau, Kaltem Krieg, Mauerfall und Deutscher Einheit liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Das alles hat dieser Mann nicht nur er- und überlebt, er hat in einem halben Dutzend Ländern – egal ob Demokraten oder Diktatoren sie regierten – beobachtend, analysierend, verhandelnd, gelegentlich tricksend, an deren Geschichte mitgewirkt – und er hat im Auswärtigen Amt schon in den 60er Jahren der Entspannungspolitik wichtige Impulse gegeben.
Der Emeritus Prof. Christian Hacke würdigt in einem klugen Vorwort die Ausnahmestellung Erwin Wickerts unter den deutschen Diplomaten, bevor Ulli Kulke ihn selbst einführend zu Worte kommen lässt:
»Das 20. Jahrhundert war großartig in seinen Schrecken, niederdrückend in langen Leidenszeiten, erschütternd im Unrecht an unschuldigen Menschen, beschämend in der Feigheit selbst der Anständigen vor der Wahrheit. Es war wunderbar, dass dem Menschen Kenntnis, Bewusstsein und Erinnerung zuteil wurde, um sich selbst und die Welt in extremis sehen und zu einem kleinen Teil verstehen zu können.«
So äußerte er sich am Lebensende voller Dankbarkeit, und sein Biograf überblickt die wichtigsten Stationen der Jahrhundertreise, ehe er sich dem ersten Teil der Biografie zuwendet: »Abenteuer und Neugier (1915 – 1947)«. In den acht Kapiteln stößt der Leser immer wieder auf Grundimpulse des Denkens und Handelns des Heranwachsenden: Sich nicht damit zufrieden geben, was verordnet und scheinbar unausweichlich ist, die eigenen Möglichkeiten rasch erkennen und ergreifen, gelegentlich Grenzen überschreiten – ohne sich in wenig Erfolg versprechender Rebellion zu verlieren. Vater Erwin sen., zuvor preußischer Beamter und autoritärer Charakter, musste sich infolge des verlorenen Weltkriegs und in den Krisenjahren immerhin als Unternehmer einer ländlichen Ziegelei bewähren. Die Kindheit im Dorf verlief für Klein-Erwin glücklich: verspielt, ungebunden, naturnah. Erste Stummfilme weckten Träume von Amerika, Karl Mays Bücher die vom Schreiben.
Während der Gymnasialzeit in Wittenberg wuchs die Distanz zum Vater, aber dank guter Lehrer öffneten ihm die griechische, lateinische und deutsche Sprache die Welt zur Geschichte, Kunst, Philosophie und – das beschreibt er mit 75 in seiner Autobiografie – sie trainierten sein eigenständiges Denken. Er wurde untauglich für den Gleichschritt: Ehrgeiz und Selbstbewusstsein regten sich.
Ulli Kulke verfolgt diese Entwicklung und lässt Erwin Wickert oft selbst zu Wort kommen. Er erzählt journalistisch; die Kapitel untergliedert er mit Zwischentiteln wie Pickelhaube statt Puppenstube oder Zwischen Anpassung und Spiel mit dem Feuer. Das ist ein Gewinn an Lesbarkeit insbesondere moderner digitaler Formate, wohl auch Service für Leser, die in Zeiten medialer Übersättigung lange Texte nicht gut verkraften – aber mich fesselte jederzeit das Geschehen, gerade während der nationalsozialistischen Diktatur. Geschichten wie die des Verlegers Max Barthel, einst überzeugter Kommunist, 1933 Fürsprecher der NSDAP, obwohl einige seiner Schriften von den Nazis verbrannt wurden, entsprechen meinen Erfahrungen mit der Untauglichkeit politischer Stempelkästen fürs Erfassen menschlichen Verhaltens. Nicht jeder gibt fürs Parteibuch seinen Mut, seine Hilfsbereitschaft, sein selbständiges Denken und die Werte von Tradition und Ethik auf.
Mag sein, dass der junge Erwin – auf Druck seines Vaters hatte er 1933 die Mitgliedschaft in der SA beantragt – auch durch seine Bekanntschaft mit John Rabe, dem deutschen Siemens-Vertreter in Nanjing (Nanking), in diesem Punkt bestätigt wurde. Rabe war überzeugtes NSDAP-Mitglied, rettete aber während der Massaker japanischer Truppen 1937/38 mehr als 200 000 Chinesen das Leben. Als er 1938 heimkehrte, wurden ihm seine Proteste gegen die japanischen Gräuel übel vergolten. 1997 half Erwin Wickert, den längst Vergessenen zu rehabilitieren, indem er unter dem Titel John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking dessen Tagebücher publizierte.
Auch Wickert trat 1940 in die NSDAP ein – nur so konnte er im Dienst des Auswärtigen Amtes arbeiten, als frisch promovierte und verheiratete ›wissenschaftliche Hilfskraft‹ in der Kulturabteilung. Derweil wurden Konkurrenzkämpfe der NS-Ministerien von Goebbels und Ribbentrop immer grotesker, die Versetzung an die Front drohte. Überraschend bot ihm sein Chef an, einen kleinen Rundfunksender des AA in Schanghai vor dem Zugriff von Goebbels zu bewahren. Es war einer der vielen Glücksfälle in seinem Leben – gleich nach dem zweifellos größten: der Ehe mit Ingeborg, die er ›Franz‹ nannte, und die ihn bis zu ihrem Tod 1999 in all den kommenden Abenteuern begleitete.
Schon wegen der exotischen Umgebung, der wechselnden Gefahren und schillernden Figuren wie dem Sowjetspion Richard Sorge fesseln besonders die Kapitel über Wickerts Arbeit als ›Rundfunkattaché‹ und das Zusammenleben der kleinen Familie in Shanghai, wo im Mai 1941 Sohn Wolfram, und Tokio, wo im Dezember 1942 Ulrich zur Welt kam. Hier überlebten die vier den pazifischen Krieg in internationaler Gesellschaft. Bemerkenswert bleibt, wie alert Wickert sich in China und Japan bewegte, ohne die Sprachen wirklich zu beherrschen, allein aufgrund seiner Kenntnisse kultureller und historischer Grundlagen und seines meist verlässlichen Gespürs für Menschen. Nur im Fall Sorge hatte es versagt – und das beschäftigte ihn bis ins Alter.
Schwarz-Weiß-Fotos aus jener Zeit beschließen den ersten Teil des Buches, und der zweite hat nicht weniger an Spannung, Anekdoten und Einsichten in den Gang der Geschichte zu bieten als der erste. Diplomatie und Zeitgeschichte (1947 – 2008) ist er überschrieben. Die Familie, ins kaputte Deutschland zurückgekehrt, arrangierte sich mit kargen, beengten und turbulenten Verhältnissen, trickste sich mittels Schwarzmarkt, Beziehungen und Improvisationstalent durch – wie schon in den letzten Monaten in Japan.
»Alles war knapp, und doch waren wir reich. Wir waren davongekommen, und das Kostbarste überhaupt war uns geblieben: Zeit.«
Wickert nutzte sie, indem er sich ein neues Genre als Autor eroberte: das Hörspiel. Schon 1952 erhielt er als erster den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den wichtigsten im boomenden Radio – und fortan waren seine Texte so gefragt, dass die Familie davon leben konnte. Zugleich entstanden Netzwerke einflussreicher Freunde bis nach Japan und die USA. Zuzuschreiben ist das gewiss auch seiner Frau, deren Gastfreundschaft ihrer Klugheit in nichts nachstand.
Es bedurfte etlicher Avancen ehemaliger Kollegen aus Japan, bis Wickert 1955 ins Auswärtige Amt zurückkehrte. Schon bald erwies sich der Wert seines Mottos Audiatur et altera pars – musterhaft für Dialoge seiner Hörspieldramaturgie – beim Dienst in den mannigfachen Konfliktzonen des Kalten Krieges. Wer wie ich das Geschehen seit den 50er Jahren selbst erlebt hat, immer wieder einmal am Rande eines Atomkriegs, mit all seinen personellen Wendungen, wechselnden Bündnissen, der fortwährenden Konfrontation mit der Spaltung Deutschlands, der wird von den Begebenheiten im Auswärtigen Amt, in Ceaucescus Rumänien und in China kurz nach dem Tod Mao Zedongs wieder in seinen Bann gezogen. In Peking endete die Karriere des Diplomaten 1980.
Ulli Kulke hat Landmarken des 20. Jahrhunderts sichtbar gemacht. Unterstützt durch Zitate Wickerts und seiner Zeitgenossen zeigt er dessen vielseitige Begabung und seinen enormen Anteil an der deutschen Ostpolitik sowie an der Aufnahme und raschen Ausdehnung deutsch-chinesischer Beziehungen in der Ära Deng Xiaopings. Wer ihn aus der Sicht des 21. Jahrhundert betrachtet, wird darüber erstaunen, was sein tiefes Verständnis für historische, kulturelle und politische Eigenarten der Beteiligten, sein selbständiges, nicht selten unkonventionelles Herangehen, seinerzeit im Ringen von Diplomaten ermöglicht hat.
Einen ›Ruhestand‹ hat er sich auch in seinen letzten 28 Jahren nicht vorstellen können, im Gegenteil, er mischte sich streitlustig in die öffentliche Debatte ein: Um die Bewertung des Tian Anmen-Massakers und Reaktionen darauf, gegen die Einführung des Euro, um die nachträgliche Beurteilung historischer Persönlichkeiten nach moralischen Maßstäben des aktuellen Zeitgeistes und nicht zuletzt um die von Außenminister Josef Fischer praktizierte Personalpolitik nach dessen Amtsantritt. Daraus bezieht Ulli Kulke die Spannung fürs 17. Kapitel Putztruppen-Revoluzzer – Joschka Fischer gegen die ›Mumie‹ Erwin Wickert. Der Konflikt um angebliche Verwicklungen des Diplomatenkorps in Verbrechen der Nazidiktatur schlug hohe Wellen in Politik und Medien. Fischer sah sich ›in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968‹. Er zog gegen die alten Herren mit einer ›Historikerkommission‹ zu Felde.
Erwin Wickert erlebte das ruhmlose Ergebnis der Mühewaltungen von Fischers ›Putztruppe‹ nicht mehr. Gegenüber seinem enormen literarischen und politischen Pensum, das zwischen 1980 und 2008 noch einmal an Höhe gewann, wirkt der ›68er‹ jedenfalls zwergenhaft.
Unter dem Titel Er war der Pharao hat der Biograf ein Interview mit dem Historiker Daniel Koerfer angehängt, der 2013 das Buch Diplomatenjagd veröffentlichte und darin die Vorwürfe der Fischer-Kommission nicht nur entkräftete, sondern deren Autoren Nachlässigkeiten und Fehler nachgewiesen hat. Einer Ehrenrettung ihres Vater hätten die Söhne Wolfram und Ulrich so wie die Tochter Barbara Wood gewiss nicht bedurft; die von Wolfram geleitete Wickert Stiftung kann mit umso größerer Zuversicht Leben und Werk des ›Abenteurers zwischen den Welten‹ im kulturellen Gedächtnis – nicht nur Deutschlands – wach halten.
Nach der Lektüre von Ulli Kulkes gescheiten, unterhaltsamen und sachkundigen Texten verlangte mein Gedächtnis alsbald nach einem Wiedersehen mit denen des ›Originals‹. Mein Lob auf die Biografie schließe ich deshalb mit der Empfehlung, sich von ihr anregen zu lassen: Zu China von innen gesehen etwa, 1982 bei DVA Stuttgart erschienen. Das Buch hilft beim verständigen Betrachten des Riesenreichs mindestens so gut wie vor 40 Jahren. Spannend und humorvoll ist es obendrein.