von Reiner Zilkenat
Angesichts der Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche eskalieren die publizistischen Wortmeldungen von Befürwortern und Opponenten dieses Projektes. Dabei spielt die Wertung des ›Tages von Potsdam‹ am 21. März 1933 eine herausragende Rolle, als der Reichspräsident Paul von Hindenburg und der Reichskanzler und ›Führer‹ der NSDAP Adolf Hitler sich in Anwesenheit des ehemaligen Kronprinzen vor und in der Garnisonkirche die Hand reichten. Otto Dibelius, der Generalsuperintendent der Kurmark, hielt eine Predigt, die das neue Regime willkommen hieß.
Der Journalist und Historiker Matthias Grünzig kann für sich in Anspruch nehmen, die lange Vorgeschichte dieses symbolträchtigen Aktes, als die Nazi-Bewegung an der ›Weihestätte‹ Preußens öffentlichkeitswirksam die Legitimation der alten Eliten erhielt, detailliert erforscht zu haben. Darüber hinaus beleuchtet er die Jahre des Dritten Reiches und der Nachkriegszeit bis zur Sprengung der Garnisonkirchenruine im Mai/Juni 1968. Seine unmittelbar aus den Akten verschiedener staatlicher und kirchlicher Archive sowie aus der zeitgenössischen Presse erarbeitete Studie schließt eine Forschungslücke zur Historie der Garnisonkirche und stellt überdies einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Protestantismus im 20. Jahrhundert dar. Vor allem kann der Autor bislang als ›gesichert‹ verbreitete Erkenntnisse zur Geschichte des Gotteshauses widerlegen und viele neue Forschungsergebnisse präsentieren.
Grünzig führt den Leserinnen und Lesern die Garnisonkirche als einen Ort zahlreicher Veranstaltungen mit eindeutigen politischen Aussagen in den Jahren der Weimarer Republik und während der NS-Zeit vor Augen. Eindrucksvoll rekonstruiert er die Fülle von Veranstaltungen rechtsextremer, monarchistischer, nationalistischer und nazistischer Organisationen, die sich in den Jahren nach 1918 beinahe die Klinke in die Hand gaben: Zum Beispiel der Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten, der Bismarckbund, die Deutschnationale Volkspartei, Kriegervereine und Traditionsverbände des kaiserlichen Heeres, die Vereinigten Vaterländischen Verbände Potsdams, der Nationalverband Deutscher Offiziere, der Alldeutsche Verband, die Deutschvölkische Freiheitsbewegung, der Deutsche Ostbund, der Großdeutsche Jugendbund, studentische Burschenschaften und die ›Hitlerjugend‹ veranstalteten ›Heldengedächtnis‹- und ›Reichsgründungsfeiern‹, ›Fahnenweihen‹, Gottesdienste aus Anlass des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung des Versailler ›Schand‹-Vertrages und zum Andenken an die verstorbene Kaiserin sowie Kranzniederlegungen in der Gruft mit den Sarkophagen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II.
Pfarrer, darunter ehemalige Hofprediger und Militärpfarrer aus wilhelminischer Zeit, aber auch der aufstrebende Otto Dibelius, verschafften mit ihren nationalistischen Predigten und Ansprachen der gespenstischen Szenerie derartiger Veranstaltungen einen scheinbar kirchlichen Charakter. Häufig wurden die genannten Feierlichkeiten durch die Anwesenheit von Prinzen und Prinzessinnen aus dem Hause Hohenzollern sowie von Generälen und anderen hohen Offizieren des kaiserlichen Heeres ›geadelt‹.
Alle diese Veranstaltungen, die von Matthias Grünzig sorgsam belegt werden und deren Ablauf zum Teil detailliert nachgezeichnet wird, waren in der Regel hasserfüllte Demonstrationen gegen die republikanische Staatsform, gegen die parlamentarische Demokratie und gegen den gewachsenen politischen Einfluss der Arbeiterbewegung, besonders gegen die in Preußen regierende Sozialdemokratie. Kurzum: Die Garnisonkirche mutierte immer stärker von einem Gotteshaus zu einem Ort politisch rechtsextremer Agitation. Der ›Geist von Potsdam‹ revoltierte hier in aller Öffentlichkeit gegen den ›Geist von Weimar‹.
Wie die protestantische Amtskirche, so waren auch die Geistlichen an der Garnisonkirche, aber ebenso ein bedeutender Teil der Gemeindemitglieder und der Gemeindekirchenrat, über den 30. Januar 1933 und den ›Tag von Potsdam‹ höchst erfreut. Endlich waren die Repräsentanten der Weimarer ›Gottlosen-Republik‹ von den Nazis im Bündnis mit den Deutschnationalen verjagt worden. Dass dabei terroristische Maßnahmen von den braunen Machthabern angewandt wurden, störte nur wenig. Die innen- und außenpolitischen Ziele der neuen Regierung wurden im Grundsatz seit jeher geteilt.
Unter der Kanzel der Garnisonkirche saßen in der Nazizeit allerdings auch tapfere Offiziere, die zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gehörten, wie der später zum Generalmajor avancierte Henning von Tresckow. Doch ihr ›christliches Gewissen‹ schwieg, als Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter verhaftet, in die Konzentrationslager und Zuchthäuser gesperrt und ins Exil getrieben wurden. Es schwieg, als bereits am 1. April 1933 das erste judenfeindliche Pogrom seinen Lauf nahm und am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen vom braunen Mob in Brand gesteckt und schließlich sechs Millionen Juden ermordet wurden. Es schwieg, als das Dritte Reich die Tschechoslowakei zerstückelte, die Nachbarstaaten mit unprovozierten Angriffskriegen überzog und im Juni 1941 einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR begann. Auch vom Turm der Garnisonkirche ertönten die Siegesglocken. Die Opposition mancher Potsdamer Offiziere gegen das herrschende Regime sollte sich erst dann zeigen, als alliierte Truppen an der Ost- wie an der Westfront sich der Reichsgrenze zu nähern begannen und die totale Niederlage unausweichlich war.
Besonders wertvoll sind die unmittelbar aus den Akten rekonstruierten Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche nach 1945 zur Frage eines möglichen Wiederaufbaus des durch einen Bombenangriff kurz vor dem Kriegsende, am 14. April 1945, zerstörten Gotteshauses. Grünzig belegt mit dankenswerter Gründlichkeit und Ausführlichkeit, dass diese Frage im Zusammenhang mit einer damals geführten Diskussion zur Neuausrichtung des Gemeindelebens in der DDR beantwortet werden müsste. Angesichts der dramatisch rückläufigen Zahl von Gottesdienstbesuchern wurde innerhalb der Kirche das grundsätzliche Problem erörtert, ob es noch zeitgemäß sei, große Sakralbauten zu unterhalten bzw. wiederherzustellen. Für wichtiger wurde es erachtet, Gemeindezentren zu errichten, in denen sich die immer kleiner werdende Schar der Gemeindemitglieder neben Gottesdiensten zu offenen Veranstaltungen (Lesungen, Jugendstunden, Diskussionen, Gesprächskreise), vor allem mit jungen Leuten, treffen und die Kirche dadurch auf Außenstehende wieder attraktiver wirken könnte.
Deshalb war ein Wiederaufbau der Garnisonkirche für die Kirchenleitungen kein vorrangiges Thema; im Gegenteil stand die Rekonstruktion anderer im Krieg zerstörter Kirchen obenan auf der Agenda der protestantischen Kirche in Potsdam und Brandenburg. Der Autor destruiert in diesem Zusammenhang mit Hilfe akribischer Aktenrecherchen auch die stets von neuem verbreitete Mär, dass Walter Ulbricht, der auch bei dieser Gelegenheit als ›Schurke vom Dienst‹ herhalten muss, anlässlich eines Besuchs in Potsdam persönlich den ›Befehl‹ zur Sprengung der Garnisonkirchenruine erteilt hätte.
Insgesamt legt Matthias Grünzig den bislang bedeutendsten Beitrag zur Geschichte der Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert vor, der sich in einer nüchtern-sachlichen, ja beinahe unterkühlten Tonlage seiner Thematik nähert und sich jeder vordergründigen Parteinahme zu den aktuellen Kontroversen enthält. Er wird hoffentlich bei den Protagonisten des Pro und Contra zu einer Versachlichung der von ihnen geführten Debatten führen. Grünzigs Studie sind zahlreiche aufmerksame Leserinnen und Leser zu wünschen.