von Jürgen Hofmann
Mit seinem Titel greift der Autor einen lakonischen Kommentar auf, den ein Unbekannter als Graffito an Berliner Gemäuer hinterlassen hatte. Für einen Staat, den es nie gab, ist der politische, institutionelle, finanzielle und personelle Aufwand seiner Erforschung und Deutung enorm. Er übertrifft bei weitem die Aufmerksamkeit, die der Geschichte der Bunderepublik gewidmet wird. Fußnoten der Geschichte können offensichtlich einen erstaunlichen Nachhall entwickeln. Dabei steckt die DDR-Forschung der zurückliegenden Jahrzehnte in einer politisch gewollten und sich selbst reproduzierenden Sackgasse. Renommierte Zeithistoriker haben das längst bemerkt und verlangen deshalb nach »neuen Perspektiven auf ein altes Thema«. (Siehe Ulrich Mählert, Hg.: Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016) Zukunft wird DDR-Geschichte als historische Disziplin nur haben, wenn sie aus der Umklammerung durch politische Interessen heraustritt.
Die vorliegende Sammlung von Studien ist außerhalb der etablierten und institutionell verankerten Geschichtswissenschaft entstanden. Sie repräsentiert eine durch Abwicklung und Ausgrenzung entstandene wissenschaftliche Subkultur. Mit Siegfried Prokop meldet sich einer der produktivsten Vertreter zu Wort. Mit den zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen und bisher nicht bzw. in der ›grauen Literatur‹ nur eingeschränkt rezipierten Studien lenkt er den Blick auf Ereignisse und Prozesse, die trotz der unvermeidlichen Lücken ein Gesamtbild skizzieren, das sich nicht als ›Untergang auf Raten‹ liest. Diesem Deutungsmuster widerspricht Prokop mehrfach und nachhaltig. Einführend teilt er die DDR-Geschichte in vier Perioden ein: die Vorgeschichte ab 1945, die Ulbricht-Ära 1949 bis 1970, die Ära Honecker von 1971 bis 1989 und die kurze Phase des demokratischen Aufbruchs 1989/90. Diesen Perioden ordnet er dreiundzwanzig Studien unterschiedlichen Umfangs zu. Ob die erste Periode nur Vorgeschichte der doppelten Staatsgründung war, dürfte künftig noch einmal zu diskutieren sein.
Die Fülle der Ereignisse und Vorgänge sowie das ausgebreitete und ausgewertete Material machen es unmöglich, jede Studie angemessen zu besprechen. Es kann deshalb nur punktuell auf Inhalte und Aussagen eingegangen werden. Prokop skizziert zunächst Grundlinien der Deutschlandpolitik der vier Mächte. In diesem Zusammenhang macht er auch auf die Widersprüchlichkeit sowjetischer Deutschlandpolitik aufmerksam. Aufklärung ist gegenwärtig noch nicht möglich, da entscheidende Archive Russlands immer noch verschlossen sind. Weitere Abschnitte widmen sich der Churchill-Rede in Fulton, der Debatte um die Oder-Neiße-Grenze und den nationalen Aspekten in der Entwicklung der SBZ und der DDR. Die angeführten Beispiele, die von der Logik des sowjetischen Modells abwichen, wiegen jedoch nicht auf, das in entscheidenden Bereichen – wenn auch in Variationen – dem sowjetischen Gesellschaftmodell gefolgt wurde. In der Frage, ob die DDR eine Errungenschaft oder eine Notlösung gewesen sei, rät Prokop zu einem nüchternen Rückblick. Die »Überbewertung der DDR-Gründung«, die in einigen linkssektiererischen Gruppierungen fortlebt, solle der Vergangenheit angehören. (S. 93)
In zwei Studien beschäftigt sich Prokop mit dem 17. Juni 1953, den Problemen der Forschung in der DDR zu diesem Themenkomplex und den internationalen Aspekten und Fragen der historischen Wertung. DDR-Forscher standen vor dem Problem, dass ihnen der Zugang zu den Archiven für dieses Thema verwehrt blieb. Zudem mussten sie die offiziellen, politisch intendierten Bewertungen kolportieren. Es war Rolf Stöckigt (1922-2012), der das erste Mal Korrekturen am Klischee vom »konterrevolutionären Putsch« vornahm. Prokop resümiert, dass der unbestrittene Verweis auf die »hochgradige Abhängigkeit« von der UdSSR nicht dazu dienen darf, die »SED-Führung und DDR-Regierung aus der Verantwortung für falsche Weichenstellungen … zu entlassen« (S. 157). Das kann wohl auch für andere Abschnitte der DDR-Geschichte gelten.
Eine Studie aus dem Jahre 2000 beschäftigt sich mit dem »fortschreitenden Theorieverlust« in den Parteiprogrammen der SED. Prokop schlägt einen Bogen von den »Grundsätzen und Zielen« aus dem Jahre 1946 bis zum Parteiprogramm unter Erich Honecker im Jahre 1976. Er erinnert daran, dass die SED 1963 der verkürzten historischen Perspektive anderer Parteien des Ostblocks nicht folgte und den Aufbau des Kommunismus nicht auf die Tagesordnung setzte. Dieser durchaus realistische Ansatz konnte jedoch nicht hinreichend ausgebaut werden. Die bereits Mitte der 1990er Jahre publizierten Forschungen über Anton Ackermann finden in der Studie leider keine Berücksichtigung. (Siehe u.a. Jürgen Hofmann: Anton Ackermann und die Orientierung auf den besonderen deutschen Weg, in: Arbeiterbewegung und Antifaschismus, Köln 1995, S. 152-165) Immerhin war Ackermann einer der maßgeblichen Autoren des Aufrufs der KPD von 1945 und der »Grundsätze und Ziele« von 1946. Das Konzept des »besonderen deutschen Weges« zum Sozialismus wird in seinen Konsequenzen erst deutlich, wenn die nicht veröffentlichten Reden Ackermanns einbezogen werden. Dass das Programm der SED von 1976 »die DDR in die Sackgasse« führte, lässt sich schwerlich bestreiten (S. 128).
Ausführlich und quellengesättigt reflektiert Prokop die Reformdebatten in den Intellektuellenzirkeln sowie die verschiedenen Reformansätze 1956/57. Für die Geschichte eines Staates, der schließlich an seiner Reformunfähigkeit scheiterte, ist es durchaus von Interesse nach diesen Ansätzen und ihrem Schicksal zu fragen. Für ein Geschichtsbild, das mit dem Ende der DDR alle Fragen beantwortet sieht, ist das vermutlich irrelevant. Wem es jedoch um differenzierte Bilder und Bewertungen geht, der findet hier noch spannende Vorgänge und Hinweise auf verpasste Chancen. Dem vom XX. Parteitag der KPdSU und der Chruschtschow-Rede beeinflussten Diskurs im Kulturbund der DDR über Stalinismus und die Orientierung auf das Weltniveau schreibt Prokop »eine Schlüsselrolle zu« (S. 171). Hier hätte sich der Leser etwas mehr Distanz gewünscht. Die gesellschaftliche Wirkung solcher interner Debatten blieb schließlich sehr begrenzt.
Zum Thema Mauerbau 1961 macht Prokop noch einmal auf ein Gespräch aufmerksam, dass der anglikanische Pfarrer und Journalist Paul Oestreicher ein Jahr später mit Walter Ulbricht führte, in dem letzterer seine Zwangslage ungeschönt einräumte. Das »Übereinstimmende in den Reformkonzepten von DDR und ČSSR« (S. 236) am Ausgang der 1960er Jahre wird leider nur angedeutet. Hier wären vergleichende Betrachtungen angezeigt.
Vom Ausgang der 1960er Jahre springt Prokop thematisch in das letzte DDR-Jahrzehnt. Er umreißt die gesellschaftliche Situation in der DDR und ihre Rahmenbedingungen. Für die DDR war der Ausfall der Führungsmacht UdSSR wesentlich dramatischer als für andere Länder im Ostblock. Zwar erfuhr die DDR mit ihrer Dialog-Orientierung gegen die ›Eiszeitpolitik‹ international Zustimmung, verstand es jedoch nicht, diesen Aufwind zur inneren Erneuerung zu nutzen. Moskau beobachtet die damaligen deutsch-deutschen Kontakte mit großem Argwohn. (Weitere Dokumente bei Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan: Die Häber-Protokolle. Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973-1985, Berlin 1999) Das gegenseitige Misstrauen überschattete auch das Verhältnis zu Gorbatschow und seiner ›Perestroika‹. Nach Prokop habe es eigene Lösungen und Vorschläge gegeben, »die die Reformer in der SED schon längere Zeit zu offerieren suchten« (S. 252). Der innere Dialog kam allerdings viel zu spät zustande. Er habe jedoch »einen wesentlichen Anteil daran, dass der Umbruch … nicht abrutschte in die Formen eines Bürgerkrieges« (S. 266). Ob die Regierung Lothar de Maizière mit einem Rücktritt auf ihren kaum vorhandenn Spielraum für die Vertretung ostdeutscher Interessen hätte aufmerksam machen können, bleibt m. E. zweifelhaft.
Schließlich fragt Prokop, ob 1989 eine friedliche Revolution war? Den Charakter einer Revolution oder einer Konterrevolution möchte er den Ereignissen nicht zubilligen. Abschließend geht er der Frage nach, woran die DDR gescheitert ist. Die Diskussion, »ob es sich bei bestimmten Defiziten der realsozialistischen Gesellschaft … nur um ›Kinderkrankheiten‹ oder … nicht doch fundamentale Fehlentwicklungen« (S. 291) handelt, ist keineswegs erledigt. Ihr Ausgang wird die Entwicklung von tragfähigen Zukunftsvisionen der Linken nachhaltig beeinflussen.