von Felicitas Söhner
Im zwanzigsten Jahr nach Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages und vier Jahrzehnte nach Willy Brandts Versöhnungsgeste vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos veröffentlicht der polnische Historiker Tomasz Szarota erstmals eine Auswahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten in deutscher Sprache.
Das mehrfach ausgezeichnete Mitglied des Historischen Instituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften ist im Dezember 2009 aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« ausgetreten und ist innerhalb Polens vor allem durch seine vielfältigen Publikationen in Presseorganen wie beispielsweise der Polityka oder der Gazeta Wyborcza bekannt.
Das neue Buch Szarotas ist gleichzeitig der erste Band aus der neuen Buchreihe des fibre-Verlags Historische Dialoge, welche durch die Kooperation des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und des in Berlin und Danzig erscheinenden zweisprachigen Magazins DIALOG initiiert wurde.
Die siebzehn Beiträge in Stereotype und Konflikte bilden eine breit gefächerte Kompilation, in der Szarota die wechselseitigen Wahrnehmungen beider Nachbarn beschreibt. Die Auswahl seiner Texte umfasst thematisch zwei Jahrhunderte deutsch-polnischer Sichtweisen und Problematiken. Der gewählte Zeitrahmen macht dem Leser deutlich, dass das bilaterale Verhältnis schon lange Zeit vor den Grauen des Nationalsozialismus von Stereotypen und Empfindlichkeiten geprägt war. Es liegt an dieser Stelle weniger im Interesse, alle Beiträge einzeln im Detail zu beleuchten. Vielmehr soll danach gefragt werden, welche Herangehensweisen und thematischen Schwerpunkte der Autor verfolgt.
Tomasz Szarota: Stereotype und Konflikte – Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen, Osnabrück (Fibre-Verlag) 2010, 400 S.
Der Verfasser beschäftigt sich in einem Teil der Beiträge mit der kultur- und ideengeschichtlichen Wahrnehmung von Deutschen in Polen sowie Polen in Deutschland. Ein weiterer Schwerpunkt der Publikation liegt in der Darstellung der Geschichte der deutschen Besatzung Polens und des Zweiten Weltkriegs mit seinen politischen und gesellschaftlichen Folgen als konstituierendes Kriterium für die nachfolgenden nachbarschaftlichen Beziehungen.
Nach einem einleitenden Vorwort von Basil Kerski und Robert Traba zur Eröffnung der neuen Buchreihe geht Szarota in seinem Vorwort auf die enge Verbindung der deutsch-polnischen Beziehungen mit seiner persönlichen Familien- und Lebensgeschichte ein.
Gleich im ersten Beitrag vergleicht Szarota Darstellungen des wilhelminischen Berlins von Intellektuellen wie Albertandy, Chopin, Mickiewicz, Kraszewski, Paderewski, Prus oder Rubinstein zu einer Zeit, in der der polnische Staat auf den Landkarten nicht existierte. Die Auswahl an Zitaten und Berichten stellt das Empfinden einer unerträglichen Atmosphäre Preußens für die Vertreter polnischer Kultur in zum Teil außergewöhnlich düsteren Bildern dar.
Im Abschnitt »Der 18.-19. März 1848 in Berlin« beschreibt der Historiker einerseits die gefeierten Aktivitäten von Polen während der Märzereignisse in Berlin als die treibende Kraft der revolutionären Freiheitsbewegung. Andererseits zeigt er, wie schnell die deutsche Polen-Begeisterung der Revolutionäre aus dem Bürgertum wieder verschwand, als offensichtlich wurde, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mitstreiter aus Polen ebenfalls die Errichtung eines Nationalstaates vor Augen hatten – jedoch nicht nur eines deutschen, sondern auch eines polnischen.
Weiter enthüllt Tomasz Szarota die Ursachen und Umstände der Straßenunruhen in Berlin 1877, in welchen sich die Gewalt gegen polnische Arbeiter entlud. Der Autor beschreibt wie deutsche Arbeitslose gegen die Polen handgreiflich wurden und darauf bestanden, dass ihre polnischen »Konkurrenten« der Metropole Berlin den Rücken kehren sollten.
Im Folgenden eruiert der Verfasser zahlreiche Klischees in deutschen Wörterbüchern. Er erläutert Entstehung und Funktion von Redensarten über ›den Polen‹ als unverständlich redenden bzw. einfältigen Menschen oder über das negativ besetzte polnische Regierungssystem. Diesem voran geht Szarota auf das abwertende Stereotyp der »Polnischen Wirtschaft« (S. 116 f.) ein, welches der deutsche Reiseautor, Naturforscher und Publizist Georg Forster zum Ausgang des 18. Jahrhunderts verbreitete.
In den nächsten Kapiteln stellt der Warschauer Historiker den Karikaturenkrieg der deutschen satirischen Presse gegen den wiedererstandenen polnischen Nationalstaat dar, der im Kladderadatsch oder im Simplizissismus stattfand. Szarota zeigt anhand vielfältigen Bildmaterials das Polenbild der beiden Satireblätter, welche mit Hilfe von Gestalten wie der des Vielfraßes, des ungezogenen Kindes oder mit Ekel besetzten Tieren darum bemüht waren, den Nachbarn in schärfster Weise zu diffamieren. Dabei konstatiert der Verfasser die Position, dass die stärkste Verunglimpfung des polnischen Nachbarn nicht im Dritten Reich, sondern während der Zeit der Weimarer Republik stattgefunden habe, was er an der Darstellung positiv besetzter Äußerungen Hitlers zur Person Piłsudskis in den ersten Jahren nach dessen Tod aufzeigt. (S. 215 ff.)
Tomasz Szarota erläutert in den folgenden Beiträgen die Stimmungen in Europa am Vorabend des Kriegsausbruchs, die Lage der Polen in einer vergleichenden Betrachtung der Besatzungsverhältnisse während der beiden Weltkriege sowie das Erinnern und Vergessen von Massenmorden während der Kriegszeit. Dabei diskutiert er einige blinde Flecken in zeitgenössischen Geschichtsdebatten, wobei er sich vor allem auf eine Bagatellisierung deutscher Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg bezieht. Hier belegt der Verfasser differenziert, wie deutsche Historiker in ihren Untersuchungen die Verbrechen bei der Bombardierung Warschaus durch das deutsche Militär übergehen und bezieht sich dabei vor allem auf zeitgenössische Publizisten wie Jörg Friedrich, Cajus Bekker und Horst Boog (S. 303).
Szarota verurteilt eine einseitige Darstellung der Luftangriffe auf Dresden als Kriegsverbrechen, während gleichzeitig die deutschen Bombardierungen von Rotterdam und Warschau im Einklang der der Haager Kriegsrechtskonventionen gesehen würden; in dieser liegt für ihn die eindeutige Gefahr einer Verfälschung der Geschichte.
Weiter äußert sich der Historiker über Formen und Methoden des polnischen Kampfes um die Wiedererlangung der verlorenen staatlichen Existenz sowie der Wahrung der nationalen Identität, wobei er insbesondere auf die Rolle der »Armia Krajowa«, der Untergrundaktivitäten und des Warschauer Aufstands eingeht.
Abschließend geht Szarota auf den Fall der deutschen Hauptstadt und die Bedeutung der Kapitulation 1945 aus dem polnischen Blickwinkel ein. Er zitiert einen Korrespondentenbericht von Stanisław Ryszard Dobrowolski: »An den Hauswänden große Propagandaaufschriften: ›Berlin bleibt deutsch!‹ Wie soll es denn sonst sein? Chinesisch? Natürlich bleibt es deutsch, aber nicht nationalsozialistisch, nicht banditenhaft. Damit ist jetzt Schluss.« (S. 390)
Der polnische Historiker hat mit Stereotype und Konflikte ein längst überfälliges Buch vorgelegt, das in seiner Vorstellung der deutsch-polnischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert manche Aspekte aufdeckt und anspricht, die bislang hierzulande nur in geringem Maße erforscht oder gar öffentlich diskutiert wurden.
Er untersucht, wie sowohl heutzutage als auch in der Vergangenheit das bilaterale Stimmungsbild vor allem durch Medien und Politik manipuliert und belastet wird. So liefern die nun auch in deutscher Sprache vorliegenden Beiträge eine solide Grundlage, welche dem Verstehen des Nachbarschaftsverhältnisses nützlich sind.
Szarotas Materialien zeichnen sich durch ihren klaren, eingängigen Sprachstil aus, der ohne überflüssiges Theorieheischen oder Fachlatein auskommt, sondern vielmehr durch treffende Wort- und Bildzitate dem Leser seine Positionen verdeutlicht. Der Blick des Autors - der die Arbeit seiner Fachkollegen in Deutschland mehrfach würdigt - auf die westlichen Nachbarn ist dabei zwar durchweg kritisch, jedoch nie ungerecht oder gar gegenstandslos.