von Holger Czitrich-Stahl
Unter den Historikern der DDR gehörte Günter Benser (geb. 1931) zu den bedeutendsten. Er verfasste Monographien, gab Quelleneditionen zur Geschichte der kommunistischen Partei und Bewegung in Deutschland heraus und publizierte zur Arbeiterkultur, in deren Milieu er aufwuchs. Für sein in der DDR entstandenes Schaffen wurde Benser, der heute noch u.a. für den Förderkreis Archive und Bibliotheken der Geschichte der Arbeiterbewegung tätig ist, mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Nach ›Wende und Anschluss‹, wie er das Zustandekommen der deutschen Einheit zuspitzt, setzte er sich mit der Geschichte der DDR und ihrer ›Abwicklung‹ auseinander, die er am Schicksal des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA) und dessen Auflösung durch die ›Treuhand‹ 2013 dokumentierte.
Zu Beginn des Jahres 2018 erschien in der edition ost seine rückblickende Betrachtung und Bewertung des Umbruchprozesses in der DDR und der Entwicklungen und politischen Entscheidungen, die schließlich am 3. Oktober zum Beitritt der inzwischen wieder ins Leben gerufenen Länder der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG führten. Dabei erinnert Benser immer wieder an die getroffenen Richtungsentscheidungen, die häufig mit einer Alternativlosigkeit begründet wurden. Dass es stets auch andere Handlungsoptionen gab, entrückt mehr und mehr dem kollektiven Gedächtnis, das Benser auffrischen möchte. Und in der Tat wäre eine deutsche Einheit über eine gemeinsame Verfassungsdiskussion und Verfassungsgebung nach Artikel 146 möglich gewesen: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Dass es nicht auf diesem Weg zur Einheit kam, beruht letztlich auf politischen Entscheidungen, deren Folgen im Buchtitel mit »vertanen Chancen von Wende und Anschluss« zum Ausdruck kommen, wobei durchaus der Akzent auf »Anschluss« gelegt werden dürfte.
In 18 Kapiteln geht Benser auf Schlüsselsituationen, Stimmungen und fundamentale Probleme ein, die den Weg zur staatlichen Einheit begleiteten oder strukturierten. Dabei blickt er aus heutiger Problemsicht zurück, wenn er die vorhandenen sozialen Spaltungen zwischen Arm und Reich oder zwischen Ost und West betrachtet und die stärkere Zugänglichkeit vieler Ostdeutscher für rechtspopulistische oder noch schlimmere Scheinlösungen analysiert. Dass die Einheit gelungen sei, bestreitet er aus der Sicht eines Ostdeutschen und ehemaligen DDR-Bürgers: »Das ist ein Irrtum. Die Vorgänge haben im Osten Wunden gerissen. Diese sind noch lange nicht vernarbt, sie sind offen. Und werden es auch bleiben, solange keine andere Politik betrieben wird«. Er will, wie er schreibt, auch keinesfalls »eine tatsachengestützte Realität gegen eine gefühlte Realität« austauschen (S. 13), sondern erörtern, was hätte werden können, hätte in der politischen Auseinandersetzung nicht von vornherein die Formel der ›Alternativlosigkeit‹ mögliche Alternativen verhindert. Einigen Kapiteln stellt er deshalb Zitate voran, die genau diese Tendenz einschlagen und die Möglichkeiten ausloten, die eine Integration wirklicher Vorzüge der DDR für einen Gestaltwandel der BRD zu einer ausgebauten sozialen Demokratie geboten hätte, so etwa von Ossip K. Flechtheim, Peter Brandt, Matthias Platzeck, selbst von Helmut Kohl. Doch anhand dessen Politik zeichnet Benser nach, wie sich aus einem tastenden Voranbewegen in Richtung Einheit über konföderative Elemente (10-Punkte-Plan bzw. Hans Modrows Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft) die Strategie einer schnellen Vereinnahmung entwickelte. Hatte Kohl noch am 11. Februar 1990 im ZDF erklärt: »Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausläuft« (S. 46), so musste DDR-Ministerpräsident Modrow schon zwei Tage später ernüchtert konstatieren: »Ich war […] kein verantwortlicher Gesprächspartner mehr« (S. 51). In der Sache ging es um die Initiative der DDR-Regierung, einen Solidarbeitrag für einseitig von der DDR getragene Reparationen – 10 bis 15 Milliarden DM – zur Wirtschafts- und Währungsstabilisierung zu erbitten. Im Vergleich zu den seit 1990 geleisteten Transferleistungen an die beigetretenen Bundesländer, so Benser, ist dies eine bescheidene Summe. Selbst wenn die aufgestellte Rechnung eher optimistisch ausfallen dürfte, politische Gesten wie jene der Überlegenheit zeitigen ihre Folgen. Und Benser führt sie auf eine strategische Umorientierung der Bundesregierung in der zweiten Januarhälfte 1990 zurück. Spätestens seit dem 28. Januar sei nachweislich nicht mehr an dem Konzept einer Vertragsgemeinschaft gearbeitet worden, vielmehr hätten der Stimmungsumschwung in der DDR und die anstehenden Volkskammerwahlen die Unionsparteien und den Kanzler zur Forcierung des Einheitsprozesses nach den eigenen Geschwindigkeitsvorstellungen veranlasst (S. 53-55). Kritische Stimmen seitens westdeutscher Intellektueller wie Jürgen Habermas blieben mehr und mehr ungehört. Und so scheiterte die Vorstellung, über einen vertraglich geregelten, auf längere Sicht angelegten Einigungsprozess könne es eine Synthese aus den besten Errungenschaften beider Modelle auf deutschem Boden geben. Die Folgen sieht Benser bilanziert im Ergebnis der ›Treuhand‹ und ihrer Arbeit: »Auf diese Weise hat die Treuhandanstalt am Ende der vierjährigen Amtszeit von Birgit Breuel, aus 600 Milliarden Plus, von denen Detlev Karsten Rohwedder mal sprach, 256 Milliarden Minus gemacht.« Nach drei Jahren war die Anzahl der ostdeutschen Industriearbeitsplätze von 3,2 Millionen auf 760.000 ›geschrumpft‹ (S. 119). Die vollzogene Einheit vom 3. Oktober 1990 kommt für Benser einer ›Sturzgeburt‹ gleich. Die historische Volkskammerwahl vom 18. März beschleunigte dieses Szenario. Die Niederlage der Bürgerbewegungen und den Sieg der ›Allianz für Deutschland‹, deren Option die schnelle Einheit war, kommentierte Bärbel Bohley mit den Worten: »Die Mehrheit derjenigen, die eine Kolonialisierung wollte, hat gesiegt« (S. 81). Die vielen Situationen der Niederlage, ich selbst weise auf Bischofferode hin, und die als Demütigung empfundenden politischen Entscheidungen, die aus der DDR stammende berechtigte Forderungen manchmal auch brüsk und herablassend abwehrten, führten für Benser zu den heute feststellbaren Differenzen in der politischen Kultur, nicht zuletzt kulminierend in der stärkeren Akzeptanz von AfD und Pegida. Das ist nichts Neues, und das behauptet Benser auch nicht. Ihm geht es um die historische Aufarbeitung eines Prozesses, der ungleichberechtigt vonstatten ging und die Lebensleistungen vieler Ostdeutscher und somit ihr Selbstwertgefühl angriff. Auch die des Autoren selbst.
Womöglich denkt der eine oder andere, es handele sich um ein weiteres Buch der Abrechnung mit der Einheit. Sicher nicht. Benser arbeitet mit Dokumenten und Fakten und platziert sie in den Ereignisketten. Insofern trifft eine solche Kritik nicht zu. Er rechnet auch nicht mit dem ›Modell BRD‹ ab, sondern bringt seine Wertschätzung zum Ausdruck (S. 10). Entscheidende Fehler wurden im Vorhinein und auch 1989/90 in der DDR-Politik gemacht. In der DDR Sozialisierte werden ihn verstehen. Leser, die wie ich schon erwachsen waren, als die Einheit vollzogen wurde, sollten sich um Empathie bemühen. Jüngere sollten es vorbehaltlos lesen. Benser will kritisieren und zugleich zum Nachdenken anregen. Und er fordert dazu auf, jenseits aller Befindlichkeiten Neues zu wagen. Es gibt immer Alternativen.