von Holger Czitrich-Stahl
Heft III von Arbeit – Bewegung – Geschichte erschien Ende September 2017 und widmet sich dem Schwerpunkt »An den Rändern der Revolution: Marginalisierung und Emanzipation im europäischen Revolutionszyklus ab 1917«. Wie auch in anderen Zeitschriften, die sich hundert Jahre nach den beiden russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 mit dem Revolutionszyklus von 1917-1923 beschäftigen, bemüht sich auch das hier betrachtete Periodikum um einen erweiterten Blickwinkel auf die Ursachen, Triebkräfte, Ereignisse und sozialen Träger der Umwälzungen jener Jahre nach dem herannahenden Ende des Ersten Weltkrieges und dem Abflauen der revolutionären Kämpfe 1922/23.
Und so formulieren Axel Weipert und Florian Bennewitz in ihrer Einführung zum Themenschwerpunkt: »Es waren politisch, sozial und kulturell marginalisierte Gruppen, die ab 1917 vehement mit ihren Bedürfnissen und Forderungen die Bühne betraten. Obwohl der Blick lange auf das Proletariat fokussiert war, gehörten zum revolutionären Ferment der Jahre ab 1917 auch nationale Minderheiten, eine radikalisierte Frauen- und Jugendbewegung, bürgerliche Intelligenz und künstlerische Avantgarden« (S. 7). Aber auch die in diesen komplizierten Prozessen zum Ausdruck kommenden Beziehungen zwischen Partikularismus und Universalismus sollen analytisch in den Blick genommen werden, ebenso die Spannungen zwischen Kommunismus, Anarchismus und christlichem Sozialismus etwa oder die Beteiligung regionaler sozialer Randgruppen. Gewiss haben auch die zeitgeschichtlichen Reflexionen über die ›Arabellion‹ diese Betrachtungsweise über Revolutionen beeinflusst. Und so thematisieren die sechs auf die Einleitung folgenden Beiträge die Rolle der künstlerischen Avantgarde in den revolutionären Prozessen in Russland, Österreich und Deutschland (Marcel Bois), die Bedeutung des christlich inspirierten Sozialisten Leonhard Ragaz in Zürich im Kontext von Revolution und Geschlechterfrage (Ruedi Epple) und die Landarbeiterbewegung während der irischen Revolutionsperiode 1916-1923 (Terence M. Dunne). Es folgen Analysen der Kommunisten-Syndikalisten der spanischen CNT 1917-1924 (Artur Zoffmann Rodriguez), der Rolle der Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internationale« in der österreichischen Revolution 1918/19 (Peter Haumer) sowie abschließend ein Aufsatz von Christoph Jünke über »Die Bolschewiki und die Demokratie«.
Auch unter den Buchbesprechungen finden sich zahlreiche Bezüge zum Themenschwerpunkt. Der Bericht von Uwe Sonnenberg über das Gothaer Kolloquium »100 Jahre Gründung der USPD« lässt durchblicken, dass es längst auch neue Diskussionsstränge in der Bewertung des Verhältnisses zwischen den großen Strömungen der Arbeiterbewegung, also Sozialdemokraten und Kommunisten gibt, die alte Dichotomien aus den Zeiten des ›Bruderkampfes‹ und des Kalten Krieges zu überwinden tauglich sind.
Ein ausführlicher Literaturbericht über neue Veröffentlichungen zum Spanischen Bürgerkrieg von Herbert Mayer reflektiert die wissenschaftlichen Regungen anlässlich der achtzigsten Wiederkehr des faschistischen Franco-Putsches gegen das republikanische Spanien 1936 und des Wirkens der internationalen Spanienkämpfer 1936-1939. Dass es zwischen Donau und Alpen nicht nur beschaulich zuging, sondern auch in der Großregion zwischen Augsburg und dem Allgäu massive Arbeiteraktionen gab, dokumentiert Claus- Peter Clasen in seiner »Streikstatistik für Bayerisch Schwaben 1919-1934«.
Dass der Versuch gelingen konnte, Spezifisches und Allgemeines im Revolutionskontext zusammen zu führen, verdankt sich nicht zuletzt dem Aufsatz von Christoph Jünke über die Bolschewiki und ihr Verhältnis zur Demokratie. In seinen in Thesenform gestalteten Ausführungen stellt er eingangs fest, dass der »Nominalsozialismus«, also der Staatssozialismus der UdSSR, weder an mangelnder Reife noch am »feindlichen Druck des Weltkapitalismus gescheitert« sei, sondern »an der Frage der Demokratie, an der mangelnden demokratischen Legitimation« (S. 112) Die Ursachen dieses Demokratiedefizits lägen im konkreten Verlauf der Revolutionen von 1917 und deren Folgen in den 20er und 30er Jahren. Er wendet sich gegen die verbreitete Auffassung, die Bolschewiki hätten von vorneherein eine sozialistische Demokratie lediglich als taktische Phrase behandelt, nicht aber als ein konkretes Ziel im Sinne einer Rätestruktur des Sozialismus. Erst das zeitweilige Abbröckeln der Hegemonie der Bolschewiki ab dem Winter 1918, ihr Widerpart einer Mehrheit in der Konstituante aus Menschewiki und abgespaltenen Sozialrevolutionären und der Austritt der Sozialrevolutionäre aus dem Rat der Volkskommissare sowie das Aufflackern von Richtungskämpfen innerhalb der Bolschewiki erzwangen eine Verengung der Herrschaftspraxis auf Mittel der Diktatur und der Militärherrschaft, forciert durch den Bürgerkrieg im Riesenreich und die Intervention von außen. Bemerkenswert erscheint Jünke, dass es immer wieder Phasen auch in diesen Jahren nach 1918 gab, in denen die Bolschewiki Maßnahmen der politischen Öffnung umsetzten, besonders auf dem 7. Allgemeinen Sowjetkongress im Dezember 1919 (S. 118f). Und so versucht Jünke, ein demokratisches Basispotenzial der Bolschewiki immer wieder zu identifizieren, stellt aber fest, dass es nach dem Ende des Bürgerkrieges keine gewollte Rückkehr zu demokratischeren Formen der Herrschaft mehr gegeben habe, sondern eine Verstetigung der Diktatur in Form einer Tugend- und Erziehungsdiktatur, wie sie schon Rosa Luxemburg in ihrer Schrift Zur russischen Revolution 1918 aufkeimen sah. Jünke schlussfolgert hieraus nicht zu Unrecht, dass ein allein klassenpolitisch definiertes Demokratieverständnis dazu neigt, bewährte und übertragbare Formen demokratischer Institutionen und Praxis gering zu schätzen und deshalb nicht zur Anwendung gelangen zu lassen. Dieses Defizit traditionell-marxistischer Demokratietheorie gelte es zu thematisieren, um es letztendlich auch zu bewältigen.