von Holger Czitrich-Stahl
Die Geschichte der Arbeiterbewegung und der ›kleinen Leute‹ schlechthin erschließt sich nicht allein aus Sachbüchern oder Quellen, sondern auch aus der Literatur. Stets spitzten auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Feder, um die Geschichten derjenigen zu erzählen, die im Dunklen der Gesellschaft oft nicht gesehen werden. Natürlich Bertolt Brecht, aber auch Heinrich Heine, Harriet Beecher Stowe, Egon Erwin Kisch, Gerhart Hauptmann, Victor Hugo oder Bettina von Arnim stehen für literarische Werke, die sich der Schicksale des gemeinen Mannes oder der gemeinen Frau annehmen und die sozialen Umstände und individuellen Nöte ihrer Protagonistinnen und Protagonisten zur Sprache bringen, verallgemeinern und politisieren. In der DDR gab es u.a. die ›Zirkel schreibender Arbeiter‹, aus denen Autoren wie Volker Braun, Roland M. Schernikau oder Bernd Schirmer hervorgingen. Der ›Werkkreis Literatur der Arbeitswelt‹ in der Bundesrepublik Deutschland wiederum besaß in Erika Runge Max von der Grün und Erasmus Schöfer bekannte Schriftsteller. Meistens aber schrieben nicht die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst – was in der DDR zumindest im Ansatz umgesetzt wurde –, sondern es wurde über sie geschrieben.
Das aktuelle Heft 2010/II der »Arbeit – Bewegung – Geschichte« befasst sich in seinem Schwerpunkt mit diesem Kontext von ›Arbeit und Literatur‹. Den sieben Beiträgen dazu ist ein Editorial von David Bebnowski vorangestellt. Es zeugt von Ehrgeiz. Bebnowski strukturiert darin den Ansatz dieses Heftes zwischen Autoren und Leserschaft, Intention und Rezeption, Fiktion und Gesellschaft etc. Literatur kann nicht Geschichtswissenschaft ersetzen, besitzt aber die künstlerische Freiheit, die den Historikerinnen und Historikern aus Gründen der Quellentreue versagt ist. »Jedoch genau wegen dieser Freiheit bietet die Literatur einen direkten, mitunter sinnlich erfahrbaren Zugang zu kollektiven Gedankenwelten«, wie sie sich in Klassenstrukturen oder sozialen Milieus auffinden lassen. Und es stellen sich unter anderem Fragen nach den Wechselbeziehungen zwischen literarischen Vorstellungen und sozialen und kulturellen Selbstwahrnehmungen der Arbeitenden in Zeiten gravierender soziologischer und ökonomischer Veränderungen, nach grundlegenden Zugängen zu Arbeit und Klasse, nach der historischen Betrachtung der Beziehungen zwischen Arbeit und Literatur sowie nach Veränderungsprozessen der Vermittlung und Wahrnehmung von Arbeit. Inspiriert wurde die Konzeption des Ansatzes durch Patrick Eiden-Offes Buch »Die Poesie der Klasse« (2017), wie Bebnowski ausführt: »Der von Prekariat und dauerhafter Unsicherheit geprägte Arbeitsalltag im 21. Jahrhundert erinnert an die Zeit vor dem Entstehen der historischen Arbeiterbewegung. Eine Suche an den Rändern dieser Zeit soll frische Gedanken provozieren und Raum für neue Vorstellungswelten schaffen.« Methodisch eingerahmt werden die Schwerpunktbeiträge von zwei Interviews, die Bebnowski mit Anke Stelling und Patrick Eiden-Offe führte. Im Interview mit der Schriftstellerin Stelling geht es unter anderem um den Verlust von Klassenbewusstsein in Zeiten des Neoliberalismus und um dessen Wiederaneignung in der gegenwärtigen Zeit des Umbruchs. So antwortet sie auf Bebnowskis Frage nach den Konsequenzen auf die Wiedergewinnung von Klassenbewusstsein: »Im besten Fall die Überwindung dieser individualisierten Scham. Zu wissen, dass es auch gesellschaftliche Gründe fürs eigene Scheitern, für die eigene Beschränktheit gibt. Das klingt nach Binse, aber wie gesagt: Ich glaube, wir haben´s mit Gehirnwäsche zu tun. Mit Introjekten. Und für die Gesellschaft ist so ein wiedererwachendes oder neu entwickeltes Bewusstsein auch heilsam. Mit der kann´s ja auch nicht länger so weitergehen«. Auf die Frage nach dem Beitrag der Literatur zur Aufklärung über soziale Probleme und Konflikte reagiert die Autorin mit dem Hinweis auf die emotionale Komponente von Literatur, die »zur politischen Kopf- und Herzensbildung« beitrage und »ein erstaunlich günstiges und leicht zugängliches Empathietraining« sei. Bezieht sich dieses Interview vor allem auf die Jetztzeit mit der Deindustrialisierung, Globalisierung und Entsolidarisierung, so dreht sich das Gespräch mit Eiden-Offe um dessen Untersuchung der gerade erst entstehenden Arbeiterklasse in der Periode des Vormärz. Ein Schlüsselsatz dieses Gedankenaustausches lautet in Anlehnung an Antonio Negri: »Was kommt nach der Arbeiterklasse, was kommt nach der formierten Industrie-Arbeiterklasse und den klassischen Organen ihrer Repräsentation, also Parteien und Gewerkschaften? Und er antwortet auch selbst: das Proletariat! Das Proletariat in seiner ungeordneten, undisziplinierten (Un-)Gestalt; ein Proletariat, das historisch kaum organisiert war und das kaum zu organisieren ist und das einem zwischen den Fingern zerrinnt, wenn man es zu greifen versucht«. Tatsächlich leben wir ja in einer Zeit schnell wachsender Unsicherheit, prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse, zunehmend lückenhafter sozialer Absicherung, mit sinkendem Organisationsgrad der Gewerkschaften sowie mit dem Zerbröckeln der klassischen sozialdemokratischen Parteien, in der sich nicht unbeträchtliche Teile der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen rechtspopulistischen Angeboten zuwenden. It all begins where it ends? Dieser Faden durchzieht diesen Themenschwerpunkt. Der Vollständigkeit halber sei auch auf dessen andere Beiträge hingewiesen. Sherry Lee Linkon (Washington D.C.) betrachtet ›Deindustrialisierungsliteratur‹, also postindustrielle Arbeiterliteratur. Helen Thein (Potsdam) stellt das Schreiben des Wanderers zwischen dem kapitalistischen West-Berlin und der realsozialistischen DDR dar, Ronald M. Schernikau stellt es in den Kontext der sich verändernden Arbeitswelt seit dem letzten Quartal des 20. Jahrhunderts. Auf sie folgt Kathy M. Newman (Pittsburgh) mit dem lesenswerten Aufsatz »Der Plot der Arbeiter. Einhundert Jahre Klassenkampf auf der Leinwand«. Ebenfalls vorwiegend aus dem angloamerikanischen Kontext schöpft Jan Goggans (Merced/USA) in seiner Studie über die Lesegewohnheiten der US-amerikanischen Arbeiterklasse von 1830 und 1930. Florence S. Boos (Iowa) befasst sich mit »Marginalien am Seitenrand – Lebenserzählungen viktorianischer Arbeiterinnen« und stellt die Autobiographien der Arbeiterschriftstellerinnen Mary Ann Ashford, Janet Greenfield Bathgate und Mary Smith, die im 19. Jahrhundert lebten und schrieben, in den Mittelpunkt.
Es folgen ein Diskussionsbeitrag zu den aktuellen Debatten über die Entwicklungen in Frankreich (Eribon u.a.), drei Texte zur Geschichtskultur, zwei Berichte und zahlreiche Buchbesprechungen in bewährter Bandbreite. Sechs Abstracts runden das Heft ab. Es zeigt sich, dass die Ausgaben der »Arbeit – Bewegung – Geschichte« am kompaktesten und überzeugendsten sind, deren Schwerpunkt durch ein Editorial verklammert ist und so zur Leseführung beiträgt. Dazu gehört in jedem Fall das aktuelle.