
von Wolfgang Rauprich
Als Markus Wolf 1986 vorzeitig seinen Generalsrock an den Nagel hing und den Dienst als Chef der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR quittierte, ahnte mancher wache Beobachter in diesem Land und sicher auch anderswo, dass da mehr dahintersteckte als die Ambition dieses Mannes, Kochbücher zu schreiben und sein Altenteil zu genießen. Was wurde nicht alles spekuliert über die Hintergründe. Waren es seine Misserfolge in den Jahren zuvor, die unter anderem dazu führten, dass der ›Mann ohne Gesicht‹ kenntlich wurde? Waren es seine zweifellos vorhandenen amourösen Abenteuer, die, wie der Spiegel später kolportierte, den spröden Stasi-Chef Erich Mielke dazu bewegten, ihn aus dem Apparat zu drängen? Oder war es doch Wolf selbst, der diesen Abgang ganz zielgerichtet betrieb, um völlig andere Absichten effektiver verfolgen zu können? Als mit allen Wassern gewaschener Geheimdienstler wusste Wolf längst, dass die DDR als Staat nicht zu halten sein würde, da sich auch der große Bruder Sowjetunion bereits in einem Abwärtssog befand, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Von alledem und mehr handelt das Buch von Michael Wolski 1989 Mauerfall in Berlin mit dem Untertitel Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion.
von Steffen Dietzsch
Als Meinungen schon justiziabel wurden
Eine diskurs-polizeiliche Episode aus der DDR-Philosophie
Die vorliegende Dokumentation führt hinein in die Frühgeschichte der Agonie sozialistisch-kommunistischer Machtkultur in Deutschland, – als 1958 an der (Ost)Berliner Philosophischen Fakultät eine studentische Diskussionsveranstaltung nicht rhetorisch mit einem quod erat demonstrandum endete, sondern in einem Alles-was-sie-ab-jetzt-sagen-kann-gegen-sie-verwendet-werden. Statt Lorbeer aufs Haupt klickten im Forum die Handschellen; für die Betroffenen momentan unerwartet, aber eben doch bloß ein weiterer Fall in der Universalgeschichte politischer Niedertracht.
In der kommunistischen Zeitrechnung galt die zweite Hälfte der Fünfziger Jahre als eine – hoffnungsfrohe – Periode des technischen, wissenschaftlichen und auch politischen Umbruchs. Man beschrieb das Belebende jener Zeit in meteorologischen oder floristischen Metaphern, – als Tauwetter oder (maoistisch) Lasst-hundert-Blumen-blühen.
Eine Art Kompass im digitalen Zeitalter
von Herbert Ammon
Bereits um die Jahrtausendwende sprachen Soziologen wie Anthony Giddens und Ralf Dahrendorf (Auf der Suche nach einer neuen Ordnung.Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, 2003) von der ›runaway world‹. Die digitale Revolution war in vollem Gange, unter neoliberalen Vorzeichen forcierten die westlichen Industrieländer die Globalisierung, der rapide soziale Wandel ging einher mit dem ›Wertewandel‹ unter dem Oberbegriff ›Individualisierung‹.
Die seither in offenbar noch schnellerem Rhythmus ablaufende Beschleunigung des historischen Prozesses (im umfassenden Sinne von Technik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Machtverhältnissen und Politik), ist das Leitmotiv des anno 2013 erstmals erschienenen Buches des Mainzer Historikers Andreas Rödder. Für die vorliegende vierte Auflage – bezogen auf das Jahr 2017 – hat der Autor das Manuskript aktualisiert, ohne allerdings über die denkbaren Folgen des Brexit für EU-Europa und die immer deutlicheren Machtprojektionen Chinas unter dem seit 2013 regierenden Präsidenten Xi Jinping zu reflektieren. Die Corona-Pandemie und ihre Konsequenzen lagen noch außerhalb des zeitgeschichtlichen Horizonts.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G