von Ulrich Siebgeber
Vorschläge für ein Krippenspiel
In der Alltagsrealität ein herbes Los, zählt politische Blindheit zu den erfolgreicheren Konzepten. Und was wäre schon, nach dem Willen der regierenden Koalition, nicht politisch? Entsprechend blind geht es in der Gesellschaft zu. Dort ist bekanntlich jeder Einzelne seines Glückes Schmied, vorausgesetzt, er besitzt einen Hammer und findet etwas zum Draufschlagen, einen Medienartikel etwa oder ein Politiker-Konterfei, vielleicht auch die imaginierte ›Fresse‹ des Nachbarn, dessen Ansichten … Schwamm drüber.
Für viele mit politischer Blindheit Geschlagene ist das weihnachtliche Krippenspiel so etwas wie das christliche Nonplusultra: Die einen hacken, wie man hier und da liest, heimlich Ochs und Esel die Köpfe ab und die anderen setzen sie sich verkehrt herum auf. Gerade noch im Schummerlicht leerer Kirchen die Zeit der kurzen Tage verdämmernd, erblüht das Krippenspiel im Glanz der wiedergefundenen Familie, die vielleicht nie ganz verloren gegangen war. Bekennt, wer sich zum Krippenspiel bekennt, auch sein Christentum? Niemand weiß es, niemand will es so genau wissen: Blindheit ist, siehe oben, die politische Tugend der Saison.
von Immo Sennewald
Wer die Gesellschaft umwälzen will, muss die Axt an die Wurzeln legen, er muss radikal sein. Revolutionäre waren nicht erst seit Marx, Engels und dem »Manifest der Kommunistischen Partei« darüber einig, dass theoretische, später praktische Kontroversen mit den für elend und veränderungsbedürftig befundenen Verhältnissen grundstürzend sein müssen – ohne Rücksicht auf die eigene Herkunft. Radikal.
Für alle, die sich weder mit Latein noch mit Kaderwelsch auskennen: Radix bedeutet die Wurzel. Falls Sie sich fragen, was »Kaderwelsch« ist – hier hilft ein Blick ins Spätwerk von Bertolt Brecht. Zeit seines Lebens hatte er sich mit kapitalistischen Ausbeutern angelegt, er ernährte sich trotzdem nicht vegetarisch, rauchte Zigarren, fuhr sehr gern Auto, hatte zahlreiche Affären mit Frauen, deren poetische Inspiration er ebenso vereinnahmte wie ganze Texte der Geliebten. Für »MeToo« wäre er gewesen, was einem hungrigen Alligator eine nackte Badende ist.
von Ulrich Schödlbauer
Absaufen, Freunde, der nasse Tod … das ist nichts für Gesellschaften. Oder doch? Eine abgesoffene Gesellschaft, wie sähe sie aus? Einsames Wrack, am Meeresgrund vor sich hinrostend, von Fischen durchschwärmt, algenüberzogen, vom lautlosen Fraß der Mikroorganismen einmal abgesehen…: Wo sind die Bewohner? Wohin das lärmende Volk? Frage die Planken, frage die Rettungsboote, frage die Retter, die Hinter- und Überbliebenen! Sie alle wissen es nicht. Von sich wissen sie zu berichten, allenfalls vom Nächsten, der sich als Fernster entpuppte. Rette sich, wer kann! Die einen können, die anderen nicht. Das bleibt übrig, wenn Gesellschaft zugrunde geht. Nicht viel, wenn man mich fragt. Was zwingt den Wasserscheuen, Tauchzeug anzulegen und unter Wasser auf Erkundung zu gehen? Das Gewissen? Welches Gewissen? Das Gewissen der Welt? Wurde sie schuldig? Die Welt hat kein Gewissen. Das, nur das, hat sie mit ihren Lenkern gemein.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G