Friedrich Ebert und Rosa Luxemburg als historische Akteure in Alfred Döblins Erzählwerk November 1918
von Max Bloch
Von seinem, längst kanonisierten, Erfolgsroman Berlin Alexanderplatz abgesehen, muss Alfred Döblin als das gelten, als was er sich in seinen letzten Lebensjahren selbst empfunden hat: als ein vergessener Autor. Insbesondere Erfolg- und Wirkungslosigkeit seiner vierbändigen Tetralogie November 1918 bedrückte ihn stark. In diesem »Erzählwerk« – so der von Döblin gewählte Terminus – ging es ihm, wie sein Biograph Wilfried F. Schoeller schreibt, um nichts weniger, als »erzählend an den Ursprung der gesellschaftlichen Katastrophe [in Deutschland, M.B.] vorzudringen.«
(Schoeller 2011: 494) Umso stärker musste es ihn belasten, dass die deutsche Öffentlichkeit, mit deren demokratischer Umerziehung es ihm nach 1945 ernst war, zu seinen Lebzeiten das Werk kaum rezipierte oder auch nur zur Kenntnis nahm. Weder in West noch in Ost.
November 1918 entstand zwischen 1937 und 1943 im französischen und amerikanischen Exil. Nach einer nicht ganz einfachen Publikations(vor)geschichte erschienen die vier Bände 1978, über 20 Jahre nach Döblins Tod, bei dtv und stießen – nach Jahren der Versenkung –, wenn auch auf kein ungeteiltes, so doch wenigstens auf ein Echo: Während der Germanist Klaus Schröter sie als ein Werk »von rohester Kunstlosigkeit und diffusem Gehalt« abkanzelte (Schröter 1978: 130), stand für Hans Mayer, der Döblin selbst noch auf dem Krankenlager besucht hatte, fest: »Größeres hat Döblin nicht geschrieben« (Mayer 1978). 1981 folgte bei Rütten&Loening die DDR-Lizenzausgabe. Die große Döblin-Renaissance hat sich daran gleichwohl nicht angeschlossen. 2008 wurde November 1918 dann jedoch vom S. Fischer Verlag, Döblins altem Hausverlag, als Teil der Döblin-Werkausgabe neu herausgebracht; 2011 erschien Schoellers voluminöse Döblin-Biographie, und so scheint sich neues Interesse an diesem, wie Schoeller schreibt, wohl »sperrigen«, aber vielleicht gerade dadurch interessanten Autoren zu regen (Schoeller 2011: 16). Grund genug, sich auch mit seinem umfangreichsten Werk, eben der November-Tetralogie, neu zu befassen, mit der er – aus der Distanz des Exils – das historische Ereignis »Novemberrevolution« zu erfassen und nachzuerzählen unternimmt.
Obgleich der USPD nahestehend und mit dem Rätegedanken spielend, war Döblin selbst 1918/19 kein flammender Revolutionär gewesen (Schoeller 2011: 182). Und auch in November 1918 – zumindest in den ersten drei Bänden – ist sein Blick auf Revolution und Revolutionäre durchaus nicht affirmativ. Im Gegenteil: Die Multiperspektivität des Werkes lässt viele Standpunkte und Meinungen gelten, und das macht das von Döblin entfaltete Panorama so wertvoll und interessant: Der Leser ist bei den Sitzungen der Volksbeauftragten ebenso dabei wie im Kasseler Hauptquartier; er hört zu, was Ebert und Scheidemann, »der ölige Herr«, nach den Sitzungen tuscheln; und er ist Zeuge, wenn der Major von Schleicher gegen seinen Vorgesetzten General Groener wegen dessen »Faible für Ebert« intrigiert; er ist unter den heimkehrenden Soldaten, deren Marschtritt den »Generalbass dieser Wochen« bildet und deren Wut und Verbitterung er spürt; er setzt an Bord der »George Washington« mit dem Präsidenten Wilson über den Großen Teich, ja, er ist sogar beim Scheitern seiner manichäischen Hoffnungen in Versailles dabei und bei seinem Tod in Washington, D.C.; der Leser sitzt aber auch in der Stube der Proletarier, die für Spartakus kämpfen; er schlendert mit den Kriegs- und Revolutionsgewinnlern, den aalglatten Schiebern und Schwindlern durch Berlin, wo sie Witterung aufnehmen, von wo der Wind als nächstes weht; und er lauscht im »Rat der geistigen Arbeiter« feinsinnigen Lyrikern, wie sie sich darin überbieten, die blutige Diktatur zu fordern, da solche Forderungen Mode sind. Dieser ständige Perspektiv- und Szenenwechsel entspricht dem von Döblin geprägten »Kinostil«, und so entsteht, wie Schoeller zu Recht erklärt, ein »Historienbild von unvergleichlicher Dramatik« (Schoeller 2011: 724).
Und doch – bei aller Multiperspektivität, einen Feind sieht Döblin: Ebert und die SPD. Hier wird die Wurzel des Übels, das Verhängnis der Revolution gesehen, und so wird keine Figur dieser Erzählung mit einer Lächerlichkeit ausgestattet, die es mit jener Eberts, der als seine eigene Karikatur auftritt, aufnehmen könnte. Ihm werden die Geburtsfehler der Republik angelastet und somit auch die Schuld an ihrem Ende. Eine solche Sicht muss man nicht originell oder gar differenziert finden. Sie war aber sicherlich im Kreise der linken – und keineswegs nur marxistischen – Emigranten, mit denen Döblin verkehrte, communis opinio. An dieser Einschätzung des ersten Reichspräsidenten hat Döblin zeitlebens festgehalten; auf ihr beharrte er noch in den 1950er Jahren in seinen Briefen an Theodor Heuss (Döblin 170: 400), und gemeinsam mit Arthur Rosenberg, dessen Geschichte der Deutschen Republik er gelesen hatte, verachtete er auch zu Zeiten der Niederschrift von November 1918 jenen »Popanz der ›Ruhe und Ordnung‹«, dem Ebert und Konsorten die Möglichkeit einer wirklichen sittlichen Neubestimmung, eines gesellschaftlichen Experiments abseits der ausgetretenen parlamentarischen Wege mutwillig geopfert hätten (Rosenberg 1961: 75).
Friedrich Ebert, der in der Erzählung tatsächlich als die Hassfigur fungiert, tritt zunächst im Gespräch zweier Offiziere einer elsässischen Garnison auf, eines Majors, der die jungen aktivistischen Offiziere verkörpert, und eines Generals, der für die ältere, konservative, verstockte Offizierskaste steht. Die beiden diskutieren den von Ebert gezeichneten Aufruf an das Heimatheer vom 10. November 1918, in dem es heißt: »Die neue Regierung hat die Führung der Geschäfte übernommen, um das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren und seine berechtigten Forderungen auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn alle Behörden in Stadt und Land ihre hilfreiche Hand leihen. […] Ich weiß, dass es vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu arbeiten, die das Reich zu leiten übernommen haben, aber ich appelliere an Ihre Liebe zu unserem Volke. Ein Versagen der Organisation in dieser schweren Stunde würde Deutschland der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern.« (zit. n. Ebert 1926: 93 f.) Wie reagieren also die beiden Offiziere, die ja auch Adressaten dieses Aufrufes sind? Die Haltung des Generals ist klar: Mit diesen Leuten sei kein Staat zu machen und eine Zusammenarbeit mit den »Roten« ganz und gar ausgeschlossen. Der Major, der beim Vorlesen von Heiterkeitsattacken überwältigt wird, jedoch ist schlauer (oder kälter): »Sagen Sie das nicht, Herr General. Die hilfreiche Hand werden wir reichen, der neuen Regierung. Sollen aber ihre kleine Patsche so bald nicht wieder aus unserer Hand herausbekommen.« (Döblin, Bd. 1, 1978: 73)
Da ist er also bereits, der »Pakt« Eberts mit den Offizieren. Im weiteren Verlauf der Erzählung nimmt dieser Pakt, dieses Sich-gegenseitig-austricksten-Wollen und auf Auf-die-richtige-Gelegenheit-dazu-Warten, in den Telephongesprächen zwischen Kassel und Berlin, zwischen Groener und Ebert plastische Form an. Für den Major jedenfalls ist die Regierung Ebert nicht mehr als ein etwas peinliches Intermezzo, dem man bald ein Ende bereiten werde, und Ebert selbst, über den er sich vor Lachen ausschüttet, ist ihm schlicht »ein ungeheurer Esel […] ein Esel von solchem Format, dass man es sich schon schwer vorstellen kann. Dem ist pflaumenweich zumute, Herr General. Das ist ein ganz gewöhnlicher Hammel. Dem wäre es zehnmal lieber, er hätte die ganze Regiererei schon hinter sich.« (Döblin, Bd. 1, 1978: 76) Diesen Major treffen wir später in den rechtsradikalen Verschwörerzirkeln in Döberitz und Berlin wieder. Hier werfen Kapp-Putsch und Fememorde ihre Schatten voraus.
Der Leser folgt dem Gang der revolutionären Ereignisse: Der 6. Dezember 1918, der Tag, an dem sechzehn Anhänger des demonstrierenden »Roten Soldatenbundes« von Garde füsilieren der Stadtkommandantur niedergeschossen werden, wird als Vorbote des kommenden Blutbades präsentiert; am 9. Dezember lauscht der Leser den Verhandlungen des Rätekongresses im »Zirkus Busch«, und am 10. Dezember begrüßt ein dicklicher, Zylinder schwenkender Ebert die in Berlin einziehenden, »im Felde unbesiegten« Fronttruppen. Hierbei liefert Döblin eine interessante Charakteristik des Frontkämpfertypus: »Sie waren vom Krieg gezeichnet, ihre Körper ausgemergelt, ihre Gesichter verbissen. Nach Materialschlachten, Waffenstillstand, Rückzug und Revolte war man unversehens entlassener Soldat: keiner hatte einem was zu sagen, es hatte einem auch keiner was zu bieten […]. Es standen schon Tausende auf dem Trottoir herum, als man einzog. Jetzt stellte man sich zu ihnen und gehörte zu dem Schlamm, der die Straßen bedeckte. Aber Tausende [sic!] waren jung in den Krieg gezogen und dachten nicht daran, Frieden zu machen, und schon gar nicht diesen Frieden. Man hatte getötet und war zufällig leben geblieben. Die Bürger konnten einen nicht brauchen, die Bürger hatten selbst nichts zu fressen, und in den bürgerlichen Muff wollte man nicht hinein. Dazu war man nicht die Jahre im Feld gewesen, um denen wieder ihren Karren zu ziehen. Da hingen Aufrufe zum Eintritt in Freikorps, in Döberitz und Zossen stellte man Regimenter für das Baltikum und gegen die Polen zusammen, und dann gab es auch Revolution – alles besser als der Friede, und wenn es Raub und Mord und Totschlag sein soll.« (Döblin, Bd. 3, 1978: 409 f.) Das ist der Typus, der Revolution und Konterrevolution macht, vom Krieg abgehärtet und verroht, und die Probe auf's Exempel folgt am 23./24. Dezember bei den Weihnachtskämpfen um das Berliner Schloss.
Die Entwicklungen, die zu diesem show down geführt haben, schildert Döblin teilweise im Stil eines dadaistisch-futuristischen Narrenstücks. Auf der Seite der Volksmarinedivision, der einstigen »Avantgarde der Revolution«, sehen wir nichts als den Drang nach Löhnung und den Wunsch, in reguläre, wohlbesoldete Verbände eingegliedert zu werden; dafür – und nur dafür – nimmt sie auch den Stadtkommandanten Otto Wels, dem die Toten des 6. Dezember angelastet werden, als Geisel; auf Seiten der USPD, mit deren Vertreter, dem preußischen Finanzminister Hugo Simon Döblin gut bekannt gewesen ist, sehen wir nichts als Feigheit vor den Ministerialen und Geheimräten, die die Revolution hintertreiben; über die USPD heißt es, dass sie »in ihrer Unschuld Kinder beschämen konnte« (Döblin, Bd. 4, 1978: 632); auf der Seite der Militärs sehen wir schließlich den Wunsch, dem revolutionären Spuk ein Ende zu bereiten, und auf Seiten der Ebert-Sozialisten sehen wir zwar denselben Wunsch, aber ebenso auch die Furcht, dieser Säuberung gleich mit erliegen zu können. Gleichwohl ist es Ebert, der – so Döblin – auf den Knopf drückt, tabula rasa machen will und den Militärs grünes Licht für die Säuberung Berlins gibt.
Das Kommando des Generals Lequis nimmt sodann das Schloss unter Beschuss; Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit den Matrosen; es kommt zu einem Patt und zu Verhandlungen; Lequis zieht seine Truppen ab; die Regierung ist düpiert – und gespalten. Die USPD, die vor Eberts Entschluss nicht konsultiert worden ist, tritt am 29. Dezember aus der Regierung aus: »Sie konnte nicht viel, aber austreten konnte sie«, kommentiert der Erzähler (Döblin, Bd. 4, 1978: 190). Ebert ist zwar froh, die ungeliebten Unabhängigen los zu sein; dennoch stachelt ihn die ihm zugefügte Blamage an, nun zu finalen Mittel zu greifen: »Der Name Noske stellte sich ein. Ich«, lässt Döblin Ebert sagen, »brauche einen Bluthund.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 283) Gustav Noske, seit Ende Dezember Volksbeauftragter für das Heer und die Marine, tritt also genau als das auf, als was er heute noch gerne assoziiert wird, eben als: »der Bluthund« (Gietinger 2009). Die Weigerung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD), es den unabhängigen Volksbeauftragten gleichzutun und seinen Posten zu räumen, gibt Ebert und Noske den erhofften Vorwand und die Handhabe durchzugreifen: »Sie hatten beide einen Gedanken: Endlich.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 317) Wir nähern uns also den Januarkämpfen von 1919, und erst im vierten Band kommen die beiden Zentralgestalten dieser Entwicklung zu ihrem Recht: Liebknecht und Luxemburg, Karl und Rosa.
Rosa Luxemburg, die in den ersten drei Bänden nur einmal kurz Erwähnung fand, tritt mit Beginn des vierten Bandes als zentrale Protagonistin auf. Auf dem Gründungskongress der KPD am 1. Januar 1919 plädiert sie zusammen mit Leo Jogiches für die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung, erteilt, wie Döblin schreibt, jeglichem Abenteurertum eine Absage, weiß allerdings, dass sie tauben Ohren predigt. Auf ihre Rede folgt der Redebeitrag Karl Radeks, des bolschewistischen Emissärs, der im zweiten und dritten Band bereits als Einflüsterer des allzu zögerlich-zaudernden Liebknecht in Erscheinung getreten ist: »Ihn grauste: Das ist der deutsche Michel in Lebensgröße. Ich kaufe dem Mann nachher eine Zipfelmütze. Heiliger Strohsack, hier ist alles verloren.« (Döblin, Bd. 3, 1978: 414) Neben Lenin und Trotzki, so will es scheinen, konnte der nervöse Berliner Rechtsanwalt nicht recht bestehen.
Nun aber, auf dem Gründungskongress der KPD, folgt Liebknecht Karl Radeks Appell, die Sache nach russischem Muster und ohne kleinliche Bedenken durchzuziehen. Radek, schreibt Döblin, wurde »der Mann des Augenblicks. Er entfesselte Beifallsstürme, als er, ohne Rosa und die anderen von der Führung zu nennen, von der Diktatur des Proletariats sprach. Nur die Errichtung der proletarischen Revolution könne Deutschland vor seinen äußeren Feinden retten. Nur die Ausbreitung der Weltrevolution. Das russische Proletariat wartete nur darauf, gemeinsam mit den deutschen Genossen den angelsächsischen und französischen Kapitalismus am Rhein zu bekämpfen. Das erfüllte alle Herzen mit Freude. Zusammengesunken hinten an der Wand hörte ihn Rosa. Dieser Mann war mit allen Wassern gewaschen, und er sprach für seine Bolschewiken. Sie dachte an ihre Freunde drüben, die man erschoss. Grauen. Dann kam auch Karl. Radeks Fanfaren hatten ihn auf den Plan gerufen. Er ließ sich wie immer fortreißen. Das Ziel des internationalen Kommunismus könne nur sein: Zerstörung des Ententekapitalismus.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 302 f.)
So also wurden die Weichen gestellt: Rosa Luxemburg ist überstimmt, die KPD macht Harakiri und mobilisiert planlos ihre Anhänger und Sympathisanten. Bereits am 5. Januar bevölkern »Massen« bewaffneter Proletarier die Straßen Berlins und drängen zur Tat gegen die Regierung Ebert-Scheidemann; Polizeipräsidium und Zeitungsviertel sind besetzt. Noske, der »Bluthund«, der die Verantwortung nicht scheut und die Gelegenheit zum Gegenschlag nicht tatenlos verstreichen lassen will, zieht seine Truppen zusammen. Der KPD-Zentrale ist schnell klar, »dass die Dinge eine Entwicklung genommen hatten, die weit über das hinausging, was man [...] auch nur geahnt hatte. (Und während man dachte und diskutierte, fühlte man: Man war schon nicht mehr Herr der Dinge.)« (Döblin, Bd. 4, 1978: 327) Rosa Luxemburgs Kassandrarufe haben sich bestätigt, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Der Leser ist bei den Kämpfen um das Polizeipräsidium und um das Zeitungsviertel, das die Noske-Truppen unter dem Vorwand der Pressefreiheit stürmen, mit dabei. Die Erschießung der spartakistischen Parlamentäre durch die Regierungstruppen am 11. Januar wird geschildert. Auf Seiten der Aufständischen, die sich solcher Gräuel zu erwehren haben, sieht der Erzähler »fanatische Männer und Frauen, junge und alte, alle von dem großen Weckruf der Revolution berührt, freudig gewillt, für die Sache der Menschheit zu kämpfen und sich zu opfern. Merkwürdig erregte und gespannte Figuren unter ihnen, Gläubige, Diesseitige, Utopisten, die von einem ewigen Frieden träumten. Wiewohl sie schwach und nur wenige waren, standen sie meilenhoch über den traurigen Figuren des kleinen Spießers Ebert und des hölzernen Noske mit seinen Landsknechten, die bald ihre Kolben erheben und auf sie einschlagen werden.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 545) Döblins Schwester Meta verlor bei den Kämpfen um Lichtenberg, nebenbei erwähnt, durch eine verirrte Kugel ihr Leben. Schoeller erklärt Döblins lebenslangen Hass auf Ebert und Noske auch aus dieser biographischen Erfahrung heraus (Schoeller 2011: 195).
Döblins November 1918, zumindest die realgeschichtliche Erzählung, endet mit der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar 1919. Döblin hat sich – anders ließe sich die Berücksichtigung auch kleinster Details und Ereignisse gar nicht erklären – penibel mit der Literatur zur Novemberrevolution, so sie in den französischen und amerikanischen Bibliotheken zugänglich war, auseinandergesetzt, und der Ablauf dieser Mordtat ist tatsächlich ebenso bedrückend wie dicht geschildert. Vor der Verhaftung, noch in ihrem gemeinsamen Versteck – vor dem Verrat durch einen Genossen –, bittet Döblins Rosa Karl Liebknecht um Verzeihung: »Ich habe Dir oft zugesetzt. Wir hätten mit dir gehen sollen. Wir hatten kein Vertrauen. Es fehlte uns etwas. Wir rechneten zu viel.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 670) Hatte es bislang den Anschein, als sympathisiere der Erzähler mit Luxemburgs eher auf den Gang der Entwicklung vertrauenden Haltung und halte Liebknechts ungestüme Emphase für überstürzt, so wird dieser Eindruck hiermit relativiert und zurückgenommen. Diesem Muster folgt die Erzählung über weite Strecken. Auf eine Festlegung folgt deren Rücknahme, Aussage wird gegen Aussage gestellt, eine Szene relativiert die nächste, und der Leser muss sich selbst zurechtfinden, sich selbst zu einem eigenen Urteil vorarbeiten. Das Buch ist also, um Ulrich Kittstein zu zitieren, eine »Herausforderung für jeden Leser« (Kittstein 2009: 308), und ein griffiges, plausibles Fazit zu ziehen, ist nicht leicht.
»Die Revolution starb hin.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 808) Luxemburg und Liebknecht, ihre Führer, sind von Mörderhand gefallen. Der Blick in die Zukunft ist düster: Am 11. August wird von einer mittlerweile zusammengetretenen Nationalversammlung »eine tadellose Verfassung« verabschiedet, »nach den besten westlichen Vorbildern gearbeitet«, die »wie ein Lehrbuch […] den Schülern Ziele und Prinzipien und Anleitungen und Richtlinien“ vorgibt, und Ebert wird zum Präsidenten des nun befriedeten Reiches gewählt. (Döblin, Bd. 3, 1978: 556) Doch das bedeutet gar nichts: Die deutsche Republik, schrieb Döblin während der Arbeit an November 1918 an einen Freund, war »wahrhaftig ein guter und weiter politischer Rahmen […], aber es blieb dabei, und darum blieb es auch nicht dabei« (Döblin 1970: 282). Weimars Anfang wohnte bereits das Ende inne, was in Döblins Erzählung mehrfach aufscheint: »Etwas Dunkles zog in Europa herauf. Drückend wurde die Einsamkeit. Nichts hatte Bestand, nichts wuchs, nichts gedieh. Von Jahr zu Jahr wurde die Existenz unheimlicher. Man erschauerte und hatte Lust, sich zu verstecken.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 716) Und an anderer Stelle: »Friedrich Ebert und sein Gehilfe Noske sollten ihres Sieges nicht froh werden. Die Rache ereilte sie. Die ganze Schwere der Strafe aber fiel (erst später) auf das Volk (und die fremden Völker). […] Das Land, mit dem Gift in den Knochen, das es in der Revolution nicht ausstoßen konnte, erholte sich langsam von dem Krieg, zu einem neuen Krieg.« (Döblin, Bd. 4, 1978: 755 f.)
Hindenburg, Hitler, der neue Krieg – alles das sah Döblin von Kalifornien aus in der Konsequenz jenes »Verrats«, den Ebert und Noske und die SPD an der Revolution geübt hätten. Diese Deutung, von ihm und vielen anderen seiner (Schriftsteller-)Generation geprägt, hat sich – auch durch die Schriften Sebastian Haffners – tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Auch wenn die Zeiten des Ebert-bashing, von Ausnahmen abgesehen, der Vergangenheit angehören, scheint eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit dem ersten Reichspräsidenten – auch von Seiten der SPD – noch immer vorzuherrschen. Demgegenüber vermag Rosa Luxemburg, längst zur Ikone geworden, als Emblem für so ziemlich alles herzuhalten. Alfred Döblins November 1918, in dem Ebert als spießiger Spießgeselle auftritt, Rosa Luxemburg aber »entrückt [wird] zu einer mystischen Ekstatikerin, zu einer Heiligen ohne Gott« (Schoeller 2011: 725), ist als Teil der – oft schablonenhaften – Wirkungsgeschichte der Novemberrevolution zu lesen und zu historisieren.
Literatur:
Alfred Döblin, Briefe, hrsg. von Heinz Graber, Olten/Freiburg 1970.
Alfred Döblin, November 1918, Bd.1-4, München 1978.
Friedrich Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, hrsg. von Friedrich Ebert jun., Bd. 2, Dresden 1926.
Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere, Hamburg 2009.
Ulrich Kittstein, Zwischen Revolution, Gewalt und göttlicher Gnade. Alfred Döblins Romantrilogie November 1918 (1939-50), in: U. Kittstein / R. Zeller (Hg.), »Friede, Freiheit, Brot!« Romane zur Deutschen Novemberrevolution, Amsterdam 2009.
Hans Mayer, Eine deutsche Revolution. Also keine, in: Der Spiegel 33 (1978).
Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1961.
Wilfried F. Schoeller, Alfred Döblin. Eine Biographie, München 2011.
Klaus Schröter, Alfred Döblin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1978.