von Immo Sennewald
Wer die Gesellschaft umwälzen will, muss die Axt an die Wurzeln legen, er muss radikal sein. Revolutionäre waren nicht erst seit Marx, Engels und dem »Manifest der Kommunistischen Partei« darüber einig, dass theoretische, später praktische Kontroversen mit den für elend und veränderungsbedürftig befundenen Verhältnissen grundstürzend sein müssen – ohne Rücksicht auf die eigene Herkunft. Radikal.
Für alle, die sich weder mit Latein noch mit Kaderwelsch auskennen: Radix bedeutet die Wurzel. Falls Sie sich fragen, was »Kaderwelsch« ist – hier hilft ein Blick ins Spätwerk von Bertolt Brecht. Zeit seines Lebens hatte er sich mit kapitalistischen Ausbeutern angelegt, er ernährte sich trotzdem nicht vegetarisch, rauchte Zigarren, fuhr sehr gern Auto, hatte zahlreiche Affären mit Frauen, deren poetische Inspiration er ebenso vereinnahmte wie ganze Texte der Geliebten. Für »MeToo« wäre er gewesen, was einem hungrigen Alligator eine nackte Badende ist.
Seine Frau Helene Weigel ärgerte sich häufig heftig – nicht nur darüber –, hatte aber als Prinzipalin und rechte Hand des Dramatikers in Brechts »Berliner Ensemble« eine privilegierte Stellung. Sie war, was man heute eine »Powerfrau« nennen würde, nach Brechts Tod 1956 wurde sie Intendantin und blieb es trotz aller internen Konkurrenzkämpfe zwischen Regisseuren.
Brecht war in Walter Ulbrichts Sozialismus gelegentlich angeeckt, doch immer Kommunist geblieben, sein eigenes Theater erntete auch im Westen Ruhm und blieb ihm bis zum Schluss erhalten. Am 17. Juni 1953 schrieb er einen Brief an Ulbricht (zititert aus Brecht, Briefe 3, S. 178):
Werter Genosse Ulbricht,
die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der sozialistischen Einheitspartei ihren Respekt zollen.
Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.
Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.
Ihr
Bertolt Brecht
Die starke Resonanz des Aufstands in der Bevölkerung – namentlich unter den Arbeitern, laut SED-Doktrin der »führenden Klasse« – machte ihm zu schaffen, vielleicht bedauerte er auch die Opfer des sowjetischen Militäreinsatzes. In den »Buckower Elegien« hat er seine Zweifel lyrisch verarbeitet, berühmt wurde sein – staatsfeindlicher Untertöne verdächtiges – Gedicht »Die Lösung«. Er schlug darin der Regierung vor, sie möge, wenn ihr das Volk nicht mehr als vertrauenswürdig gelte, dieses einfach auflösen und sich ein neues Volk wählen.
In den Buckower Elegien hat Brecht auch »Die neue Mundart« erfunden. Sie beweist seine poetische Meisterschaft, denn in ein paar Zeilen zeichnet er die Karriere sozialistischer »Kader« – also Aufsteiger in die Politbürokratie. Dabei sind Herkunft und Bildungsweg unwichtig, entscheidend ist nur der Einfluss des »Dazugehörens« auf den Sprachgebrauch. Schon dass Kaderwelsch nach Kauderwelsch klingt, ist eine freche Attacke auf Apparatschiks, mehr noch dessen Wirkung:
Dem, der Kaderwelsch hört
Vergeht das Essen.
Dem, der es spricht
Vergeht das Hören.
Dass den Politbürokraten an der Macht Hören und Sehen vergeht, ist ein Phänomen mit Ewigkeitswert; man nennt es auch »Realitätsverlust«. Dabei wird es Routine, unerwünschte Informationen mit Worthülsen abzuwehren, ohne zuzuhören. Bei einigermaßen klar Denkenden kann das Übelkeit hervorrufen oder Gelächter. Man kann damit »Bullshit-Bingo« spielen. Aber das Kaderwelsch verhunzt und verarmt Sprache nicht nur, es hat auch eine soziale Funktion: Es separiert. Es ist Erkennungssignal fürs Dazugehören, für Teilhabe an informeller Macht.
Das ist insofern bemerkenswert, als eine beachtliche Zahl kommunistischer – auch der später abgespaltenen sozialdemokratischen – Anführer nicht dem Proletariat entstammte, das aus den Ketten des Kapitalismus befreit werden sollte. Wenn Kaderwelsch gesprochen wird, ist das weniger ein Ausweis von Bildung als einer der Teilhabe an Macht, und zwar sowohl der materiellen als auch der informellen. Soziale Rangordnungen entstehen – und die ihnen entsprechenden Rituale: Wer darf wem was sagen? Wann und in welcher Form?
Es lohnt sich, Brechts Brief an Ulbricht daraufhin genauer anzusehen. Die Anrede mit »Genosse« scheint vertraulich – aber Brecht war kein Parteimitglied. Das Kaderwelsch hätte etwas wie »teurer« oder »hochverehrter« Genosse verlangt, dass er sich mit »lieber Genosse« angebiedert hätte, trauen nicht einmal seine Feinde Brecht zu.
Den blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstand rückt Brecht mit einem Kunstgriff in die historische Distanz. Die Geschichte wird den SED-Chefs und Sowjetführern die brutale Gewalt vom Juni 1953 nicht vorwerfen, sondern »der revolutionären Ungeduld Respekt zollen«. Ein bisschen zu ungeduldig waren die Genossen, aber es geschah für »die gute Sache«. Brecht hatte sie in seinem von Hanns Eisler vertonten »Lob des Kommunismus« als »das Einfache, das schwer zu machen ist« verklärt. Auf ihn läuft die Geschichte hin, »Er ist nicht das Chaos, sondern die Ordnung.« Sie wird respektieren, dass für ihn im Feuereifer massakriert wurde. Zuviel Geduld hätte womöglich mehr geschadet als einige Dutzend Tote.
Das kommt einem sehr vertraut vor, wenn man die aktuelle »revolutionäre Ungeduld« einer »Last Generation« beobachtet. Im Stil von Mao Zedongs »Roten Garden« zerstören Eiferer nicht nur traditionelle Kunstwerke, sie gefährden – geduldet, wenn nicht gar belobigt von bestimmten Politikern nebst medialer Gefolgschaft – Menschenleben. Ihre Sprache ist ritualisiert, erstarrt in Phrasen und Textbausteinen.
Der folgende Satz im »Ulbricht-Brief« hat’s in sich, weil er mitten hinein ins Hier und Heute weist. »Die große Aussprache mit den Massen« – wie hätte man sie sich vorzustellen? Brecht träumte davon, dass es einmal einen Rundfunk mit Rückkanal geben könnte, etwa in der Art heutiger »Social Media«. Wer die Medien in sozialistischen, gar kommunistischen Ländern betrachtet, weiß, was ein Xi Jinping unter der »großen Aussprache mit den Massen« versteht: dass sie jederzeit, überall vom Kaderwelsch erreicht und dirigiert werden. Er ist nicht der einzige, den diese Idee treibt: Die informelle Macht möglichst vollständig zu übernehmen und zu behaupten, ist der Heilige Gral aller Ideologien, politischer Parteien und ihnen dienstbarer Medien, Organisationen, Kartelle...
Brechts wichtigstes Ziel spricht aus dem letzten Satz seines Briefes: Er möchte weiter der SED verbunden bleiben, also dazugehören. Er hofft, seine Kräfte im Dienste der Vernunft einzusetzen. Dazu blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Den Aufstand der Ungarn gegen das Sowjetreich erlebte er schon nicht mehr. Was das Kaderwelsch betrifft, erwies sich der Dichter aber als scharfer Beobachter. Die Politbürokraten jeglicher Couleur überbieten einander im Wettstreit um technokratische Schwurbeleien, Gesinnungskitsch, Geschichtsklitterung, Umdeuten von Begriffen ins Gegenteil – wie in Orwells »Neusprech« prophezeit. Sie machen aus Zweifelnden »Leugner«, aus Querdenkern »Bekloppte«, aus Patienten, die ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit beanspruchen, »Sozialschädlinge«. Das zugehörige Ritual ist nichts anderes als die uralte Feindmarkierung, der Pranger, das Brandmal für Sündenböcke. Das Kaderwelsch rechtfertigt zugleich den Denunzianten.
Brechts Werk gehört inzwischen zum Ackerboden der Kultur wie das aller Dichter vor und nach ihm. Er wird überall in der Welt bewirtschaftet, nicht nur von Linken. Seine Qualität beweist er auch durch jenen Anteil scharf beobachtenden Realismus, wie er sich in den Gedichten »Die Lösung« und »Die neue Mundart« zeigt. Als ich 1981 am Theater Schwedt ein Programm mit diesen Texten inszenierte, strich die Theaterleitung den offen regierungskritischen. Politbürokraten reagieren heute noch mit herabgezogenen Mundwinkeln auf ihn.
Alle Kommunikation, das bedeutet die Informationsflüsse von wahrhaft kosmischen Ausmaßen innerhalb der Menschheit, braucht diesen Boden der Kultur, und zwar nicht nur den verbalen Anteil daran. Der ist sogar im Verhältnis zu den unbewussten, aber das Verhalten steuernden Impulsen, Ritualen, Routinen ziemlich klein – das kann man schon beim Dichter, Physiker und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) nachlesen; auch seine Werke sind dem Anschein nach fast vergessen, aber Wissenschaftler wie der Psychologe Siegfried Frey griffen Wesentliches auf und trieben seine Erkenntnisse weiter. Freys Buch »Die Macht des Bildes« zeigt deutlich: Die Kulturkämpfe des 20. und 21. Jahrhunderts sind allesamt Schlachten um Informationsflüsse durch die Körper und Köpfe der Menschen.
Besonders radikal waren Nationalsozialisten, Stalinisten und Maoisten, wenn sie den Boden der Kultur annektierten, dort vollständige Deutungshoheit, also die totale informelle Macht durchzusetzen begannen. Sie rotteten alles mit der Wurzel aus, was nicht ins Raster passte. Strategie und Taktik variierten durchaus: Allgegenwärtig und dauerpräsent bleckten sie zwar die Zähne, übten (Staats-)Gewalt aus, drohten, schüchterten ein, aber sie separierten auch, indem sie Teilhabe versprachen und gewährten – bevorzugt den Kadern.
Auf Zeiten des »Tauwetters« folgten solche harten Durchgreifens. Mao setzte 1956 sogar eine »Hundert-Blumen-Bewegung« in die Welt, eine Kampagne, die Menschen in Stadt und Land zur offenen Meinungsäußerung über das Leben im Sozialismus ermutigte. Als die Blüte begann und rasch wuchs, pflügte der »Große Vorsitzende« sie im Februar 1957 unter. Die »Anti-Rechts-Kampagne« säuberte Keime jeglichen Widerstands gegen die Alleinherrschaft der Kommunisten weg. Viele – namentlich Intellektuelle – wurden hingerichtet; geschätzt ein bis zwei Millionen »Rechte« darbten und schufteten in Umerziehungslagern. Die Kulturrevolution von 1966 bis zu Maos Tod ebnete den Boden vollends ein – aber nicht wirklich in die Tiefe.
Das zeigten die Reformjahre unter Deng Xiao Ping. Mit dem wachsenden Wohlstand der Marktwirtschaft erholten sich die chinesischen Traditionen ebenso wie westliche Einflüsse sich ausbreiteten, sich teils vermischten, teils konkurrierten. Es gärte und wucherte, Sprache, Musik, Bildende Kunst, Film und Medien feierten stürmische Kreativität – bis zum Blutbad auf dem Tian’An Men. Dann durfte nur noch wachsen, was der korrupten, bürokratischen Linie der KPCh entsprach.
Weshalb ich mich so ausführlich mit chinesischen Verhältnissen befasse? Zum einen, weil mich und meine chinesische Frau sowohl die Geschichte und Kultur des »Reichs der Mitte« aufs Heftigste interessieren und wir bis 2010 dort für Radio und Fernsehen unterwegs waren, zum anderen, weil die Corona-Politik eine beklemmende methodische Annäherung von Politik und Medien zwischen Industriestaaten des Westens und der korrupten Parteienoligarchie der zweitmächtigsten Wirtschaftsnation offenbart hat. Das muss jeden, der Menschenwürde, Freiheit, Gewaltenteilung in demokratisch verfassten Staaten wertschätzt, jeden mit sozialem und ökologischem Verantwortungsbewusstsein alarmieren.
Die hoch technisierten Lager, in denen heute Uiguren »erzogen« werden, sind durchaus strategische Optionen von Globalisten, die sich als Sachwalter der menschlichen Zukunft sehen – spätestens die Corona-Kampagnen beweisen es. Zugleich fehlt es in den Medien nicht an höchst eindrucksvollen Bildern von Menschen, die uniformiert oder kostümiert, im Gleichtakt von Märschen, Hymnen, Sprechchören, Parolen, mit entrückten oder zu Masken erstarrten Gesichtern kollektive Rituale vollziehen. Nicht nur die Tyrannen und Apparatschiks dieser Welt sehen sie mit Behagen. Sich einzustellen auf den Rhythmus eines Kollektivs, sich im Tiefsten als zugehörig zu fühlen, kann beseligen. Militärparaden schüchtern ein, faszinieren zugleich: Gewalt – Macht – Lust.
Nur hartgesottenen Individualisten sträubt sich das Haar, und sie fragen sich, was sie mehr beunruhigen sollte: Dass die Roboter dank KI immer menschenähnlicher werden, oder dass umfassend gesammelte Lebensdaten, algorithmisch sortiert, auf erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten hin für einen »social score« bewertet, als unsichtbares, höchst wirksames Korsett menschlicher Roboter funktionieren.
Digitale Medien bieten obendrein die Chance zu sprachlicher Kontrolle: Jenseits des Grundgesetzes und übers Strafrecht hinaus lassen sich Meinungen kontrollieren, zensieren, sanktionieren. Das zielstrebige Bemühen von Politik, Konzernen, Medien in dieser Richtung ist unübersehbar. Wer noch zweifelte, wurde während der Corona-Maßnahmen entweder in die erwünschte Richtung durch »nudging« gesäuselt – zu erleben auch noch im letzten Supermarkt der Nation – oder unsanft mit dem Gesicht in die Suppe gedrückt, wie es das Buch »Möge die ganze Nation mit Fingern auf sie zeigen« dokumentiert.
So weit der Blick aufs Geschehen aus der Distanz. Interessant ist, wie diese Prozesse sich im kulturellen Boden zeigen, etwa in der Sprache jedes Einzelnen. Kann sich das normierende Kaderwelsch durchsetzen gegen tradierte Formen? Und das bedeutet ja keineswegs nur ein weitergehendes Verdrängen von Hochsprache in ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Woran – außer an den von Brecht beschriebenen Symptomen – lässt es sich erkennen?
Das stärkste Indiz ist die unterdrückte oder verstellte Individualität. Formulierungen wie »es wurde beobachtet«, »es wird beantragt«, »es wird nachgewiesen«... etc. verschleiern handelnde Subjekte zugunsten einer scheinbaren Objektivität. Hinzu kommt meist eine bleischwere Syntax mit dominierenden Substantiven (»-ung-Geheuern«), wenigen starken Verben, seltenst mit kurz und klar benannten Subjekten und Vorgängen. In ihm finden sich Spuren sowohl der »Lingua Tertii Imperii« (Viktor Klemperer »Die Sprache des Dritten Reiches«) als auch derjenigen von Politbürokraten des »real existierenden Sozialismus«.
Im zeitgenössischen Deutsch tritt der Gebrauch von Denglisch, Fachchinesisch, verschwurbelten Formulierungen oder Gender-Schwulst hinzu. Diese Praxis will wissenschaftliche Texte einerseits dem Behördendeutsch angleichen, macht sie andererseits schwer fassbar und entzieht sie durch ihren »amtlichen« Auftritt kritischen Nachfragen. Das heißt: Sie entzieht seriöser wissenschaftlicher Arbeit den Boden.
Über die Einstellung von Politbürokraten zum Wahlvolk sagt auch das Infantilisieren einiges: Mit Piks und Doppelwumms, Demokratieabgabe, »einfacher Sprache« und Ähnlichem dirigieren gefügige Medien eine minder gebildete Masse. Sie ist des Kaderwelschs nicht mächtig; ab und zu rutscht einem der Oberkader ein verächtliches »Plebs« heraus.
Das moderne Kaderwelsch duldet weder Zweifel noch Fragen jenseits seiner quasi-religiösen und andauerndes Kopfnicken erheischenden Selbstgewissheit. Deshalb bekämpfen seine Protagonisten Zweifler, Kritiker, selbständig Denkende und Arbeitende – nicht nur Wissenschaftler und Journalisten – so erbittert wie je. Aber wenn sie unterm moralischen Banner des Menschheitswohls in ihrem Eifer Naturgesetze zu bloßen Konstrukten erklären, dann erwachen sie mit der Nase in Dreck und Chaos. Womöglich mitten unterm Plebs.
»Macht nichts«, sagt der Biologe, »wo Dreck ist, ist Leben.« Und der Physiker setzt lächelnd hinzu: «Zu den größten Geheimnissen und Wundern des Universums gehört, wie sich spontan im Chaos Inseln der Ordnung bilden.«