von Ulrich Schödlbauer

Lieber Herr Oberreiter,

unter den Linien, welche die schöne Leidenschaft in die menschliche Seele zeichnet, besitzt für mich eine seit jeher einen bedingungslos anderen Reiz – die der literarischen Emphase. Die intelligente Emotion, die durch ihr Ausdrucksmittel darauf festgelegt ist, Mimesis und Moral, die Vernunft und den Verrat an ihr zu artikulieren, zu inszenieren, in jenes Tauschverhältnis zu setzen, in dem sich beides aneinander bereichert und steigert, richtet sich von Haus aus weniger an die Intelligenten, die Klugen, die Bescheidwisser, vielmehr an diejenigen, die nicht ganz zu Hause sind ›in der gedeuteten Welt‹, wie das ein Lyriker einmal ausgedrückt hat, sie ist insofern auch, jedenfalls für mich, wesentlich lyrisch, wobei mir bewusst ist, dass ich mit dem Wort ›wesentlich‹ bereits etliche Abwehrreflexe mobilisiere.

 

Warum auch nicht? Ich halte wenig vom Roman, der kaum mehr als eine Perversion zwischen zwei Buchdeckeln darstellt, die durch die Durchschnittsphantasie des Verfassers auf ein erträgliches Maß gebracht wird, ich halte daher auch wenig von dem, was der Markt die literarische Produktion eines Jahres oder Jahrzehnts nennt, wobei es mich nicht sonderlich anficht, dass die Literaturwissenschaften diese Terminologie inzwischen ›eins zu eins‹ übernommen haben. Daher habe ich mit einem gewissen Interesse, auch Erstaunen Ihre Feststellung gelesen, seit Ende der achtziger Jahre gehe der Auslandsgermanistik der motivierende Stoff aus, weil »eine rege literarische Produktion in deutschsprachigen Ländern in den achtziger Jahren einfach abgebrochen ist und seither keinerlei Nachfolgerin gefunden hat, die man ihr etwa als ›ebenbürtig‹ (ich verwende hier absichtlich diese altmodische Vokabel) zur Seite stellen könnte.«*

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bislang eher vereinzelt gebliebene Eindrücke schließen sich an Ihre Feststellung an. Sie geraten durch sie ›in ein eigenes Licht‹, das vielleicht keiner Erleuchtung entstammt, aber Sachverhalte beschreibbar macht, für die im allgemeinen nur ein schmales Repertoire an Benennungen bleibt. Geläufig ist die Form der Klage über die zurückgegangene literarische Lesefähigkeit des potentiellen Publikums in dem von Ihnen genannten Zeitraum – Ihre studentische Klientel unterscheidet sich da, wie Sie auch andeuten, nicht grundsätzlich von der hiesigen, wenn man die sicher signifikanten Probleme des Fremdspracherwerbs einmal beiseite lässt. Lesefähigkeit, Lesebereitschaft, Lesewillen – das sind so Wörter, mit denen man gern die Bereitschaft des Publikums umreißt, sich ›literarisch zu bilden‹, gleichzeitig aber auch die signifikante Verteilung von Leistungen und Fehlleistungen, mit denen Deutschlehrer und Literaturprofessoren bei ihren Studenten zu rechnen haben. Dass hier etwas ›zurückgegangen‹ ist, lässt sich am ehesten durch die Verkaufszahlen der Verlage belegen, die allerdings gleichzeitig die unsichersten Indikatoren darstellen, denn sollte es so sein, wie Sie andeuten, sollte also das, was die Verlage gegenwärtig verkaufen oder nicht verkaufen, mit dem, was sie vor zwanzig Jahren im Angebot hatten, nur mehr in einem ganz äußerlichen Sinn zu tun haben, und dies im Hinblick auf das, was nach Maßstäben der Qualität und der Geltung ›literarisch‹ genannt zu werden verdient, dann wären die Zahlen in der Tat ziemlich gleichgültig, die von den Verlagen auf den Tisch gelegt werden.

Sie wären es auch im Hinblick auf die durch praktisch keine Statistiken zu untermauernden Erfahrungen der Pädagogen und Literaturwissenschaftler, die eher in den Bereich der ›gefühlten Verarmung‹ des Bildungshorizonts der nachwachsenden Generationen gehören und zwangsläufig mit Erfahrungen des eigenen Älterwerdens und des Verdämmerns der Horizonte, in denen man selbst seine Prägungen empfing, interferieren. Zweifellos hat sich seit Ende der achtziger Jahre in der Welt nicht nur ein Wahrnehmungs- und Lektürewandel vollzogen, sondern ein Wechsel der politischen und kulturellen Leitvorstellungen: Was zu Zeiten der Systemkonkurrenz auf beiden Seiten des Zauns als Emblem des Ringens um den richtigen Menschheitsweg triumphal oder erbittert hochgehalten wurde, fiel binnen kurzem unter die Rubrik ›alter Plunder‹ und wurde entsorgt – soll heißen, ihm wurde buchstäblich die tägliche Zuwendung und Sorge entzogen, unter der es lange Zeit wachsen und gedeihen konnte. Die ›strukturelle Barbarei‹ der Konsumgesellschaft, ihre notorische Bildungsfeindschaft bekam ihre Stunde, darüber bestehen kaum Differenzen. Dass diese Stunde anhält, ist bereits wieder eine andere Angelegenheit und hat vielleicht weniger mit '89 zu tun als das vielzitierte Ende der Intellektuellen, die zwar die literarische Produktion der siebziger und achtziger Jahre dominiert – und infiltriert – hatten, aber keineswegs für die Literatur in toto verantwortlich zeichnen, auch wenn eine gewisse Intellektualität Schreibenden wie Lesern nur gut tut.

Daran jedenfalls scheint es, wenn ich Sie richtig verstanden habe, der Produktion der letzten zwanzig Jahre zu fehlen. Zu fehlen scheint ihr vor allem jene spezifisch literarische Intelligenz, die aus dem Lesen kommt und das lange Gedächtnis des geschriebenen Wortes zur Grundlage hat. Das mag verwundern, wenn man daran denkt, dass mit dem Durchschnittsalter der Bevölkerung auch das der prominenten Autoren kontinuierlich gestiegen ist. Die alten Hasen des Betriebs schlagen ihre Haken wie eh und je, seit einigen Jahren muss sich das Publikum mit so unerfreulichen Fragen befassen, ob nicht die alten Kämpen selbst mit dem Odium fataler Lebensläufe und barbarischer Reflexe behaftet sind. Das Publikum ist lustlos involviert, was man ihm gut nachsehen kann. Besser sind die Bücher der Greisenschriftsteller, die im Leben alles abgeräumt haben, jedenfalls nicht, nur die Propagandamaschinen sind besser auf sie eingestimmt. Wenn es also einen kollektiven kulturellen Ausstieg aus dem Wort geben sollte, so wäre er nicht den nachwachsenden Autoren und ihrem spezifischen Publikum anzulasten, sondern der gesamten Produktion. Soziologen kann das nicht überraschen, sie glauben zu wissen, dass die gesellschaftlichen Parameter stärker zu Buche schlagen als individuelle Dispositionen und ›gewachsene‹ Identitäten. Wer immer diese Vertreter einer ferngerückten Zeit heute sein mögen, sie sind nicht die, als die sie einmal ihre Karrieren begannen und von den Medien emporgetragen wurden. Ihre von der Verlagswerbung und ihren Handlangern in den Feuilletons dekretierte Sprachmacht ist kindisch geworden, aber kaum jemand ist so tollkühn, es auszusprechen. Kindisch geworden ist auch ein Großteil ihrer Gedanken, die einem denkenden Menschen nichts mitteilen, was er nicht bereits im voraus als abgetan und abgestanden empfindet.

Dieser Teil unserer Literatur ist nicht jung und gedächtnislos, sondern überlebt und gemütskalt, von falschen Sorgen umgetrieben, von einer falschen Sprache getragen, von falschem Beifall mühsam über Wasser gehalten. Was den jüngeren angeht, so muss man die gnadenlosen Selektionsmechanismen bedenken, die diese Auswahl bestimmen, den Pastiche-Charakter einer Literatur insgesamt, die ihre Muster importiert statt generiert und über die internationalen Verflechtungen der Verlage auch gleich vom passenden Personal fertigen, übersetzen und variieren lässt. Dieser Markt existiert nicht erst seit gestern, er ist aber ebenso in den Sog der sogenannten Globalisierung geraten wie andere Märkte und er entbehrt seines Widerlagers, der Intellektuellen, die sichtbar, in aller Öffentlichkeit, Korrekturen am Urteil der Leserin und des Lesers anbringen, dieses herrlichen Pärchens, das man sich gern mit verschränkten Gliedmaßen nebeneinander am Ufer der Isar ruhend oder einen einsamen Forst in fernen Ferienlanden durchschreitend vorstellen möchte. Leider haben diese Intellektuellen, solange es sie gab, das heißt, solange sich die Öffentlichkeit von ihnen etwas sagen ließ, dem Idol der Selbstabschaffung durch Verwirklichung ihrer Ziele geopfert – verständlich daher, dass eine Gesellschaft, die sich am Ziel angekommen glaubte, sich ihrer im Hauruckverfahren entledigte. So viele falsche Prognosen, so viel heuchlerische Attitüde, so viel Loyalität am falschen Ort wollten abgestraft sein – es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Leider ist es mit dem Ideologiefreiheitspostulat der neuen Gesellschaft nicht weit her und das Verlangen, die Welt und nicht bloß den Kontoauszug ausgelegt zu bekommen, regt sich unter der Decke der Anstelligkeit und einer täppischen Skepsis. Solange jede neue Hatz das Vakuum halbwegs füllt, das hier geblieben ist, solange eine Öffentlichkeit in Rührung schwimmt, weil auch die Superreichen etwas für das Weltklima zu tun versprechen, solange bleibt das gebrochene Herz der Moderne dort, wohin es geraten ist: in der Rumpelkammer. Man hat sie als Projekt missverstanden – ein Fehler mit Folgen.

Kritiker sind nicht von Haus aus Intellektuelle, Literaturkritiker schon gar nicht. Intellektuelle sollten Kritiker sein, in der Schale der Literaturkritik, in welcher auch immer. Das öffentliche Wächteramt, das idealiter denen zuwächst, die etwas zu sagen haben, ist nicht so disponibel, wie die Funktionalisten unter ihnen selbstkritisch verfügten. Selbstkritik, die zur Selbstabschaffung tendiert, erweist sich spätestens dann als fatale Tendenz, wenn der Kredit aufgebraucht ist und eine neue Generation sie beim Wort nimmt. Diese Erfahrung macht auch eine Literaturwissenschaft, die sich nach dem Willen der Planer glücklich schätzen darf, die Ausbildung von Sekundärtugenden bei Büroangestellten tatkräftig und zielführend zu unterstützen. Schließlich wird sie zum Säurebad einer Literatur, die leicht aufliegen will und nichts weiter zu sein gedenkt als eine lange Abbitte für Schillers Das Leben ist der Güter höchstes nicht – ein ebenso richtiger wie, richtig verstanden, trivialer Gedanke, ohne den Intellektualität nichts ist. Solange man den Autoren zuflüstern möchte: »So lebt doch!«, solange ist nichts verloren und nichts gewonnen, denn es ist nichts geschehen. Immerhin hätte die Wissenschaft, auch die von der Literatur, die Möglichkeit, der Modenschau wenigstens in Gedanken ihren Platz anzuweisen und, auf der Grundlage reifer Analysen, Urteile zu fällen und Lektüren auszuweisen, die hinterlassungsfähig statt durchsetzungsfähig genannt werden dürften. Ob wir sie im Internet treffen oder auf dem Sofa – wen scherts?

Ihr


*Suitbert Oberreiter: Literatur in unseren Köpfen – oder doch nicht? Vom Einfluss digitaler Medien auf unser Verständnis des Literarischen und wie wir mit solchen Inhalten fernerhin umgehen könnten.

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