von Immo Sennewald
Wer die Gesellschaft umwälzen will, muss die Axt an die Wurzeln legen, er muss radikal sein. Revolutionäre waren nicht erst seit Marx, Engels und dem »Manifest der Kommunistischen Partei« darüber einig, dass theoretische, später praktische Kontroversen mit den für elend und veränderungsbedürftig befundenen Verhältnissen grundstürzend sein müssen – ohne Rücksicht auf die eigene Herkunft. Radikal.
Für alle, die sich weder mit Latein noch mit Kaderwelsch auskennen: Radix bedeutet die Wurzel. Falls Sie sich fragen, was »Kaderwelsch« ist – hier hilft ein Blick ins Spätwerk von Bertolt Brecht. Zeit seines Lebens hatte er sich mit kapitalistischen Ausbeutern angelegt, er ernährte sich trotzdem nicht vegetarisch, rauchte Zigarren, fuhr sehr gern Auto, hatte zahlreiche Affären mit Frauen, deren poetische Inspiration er ebenso vereinnahmte wie ganze Texte der Geliebten. Für »MeToo« wäre er gewesen, was einem hungrigen Alligator eine nackte Badende ist.
von Ulrich Schödlbauer
In Wien wurde ein Brunnen aufgestellt, der die Gemüter erhitzt. Wann hat das letzte Mal ein Kunstwerk (oder dergleichen) Gemüter erhitzt? Nun ja, die Wokeness hat sich ihre Opfer gesucht und ist weiter auf der Pirsch. Antisemitismus auf der Documenta ist immer für Schlagzeilen gut, vor allem, wenn eine Ministerin mit im Spiel ist. Doch da geht es um Gesinnung und nicht um Kunstkritik. Der Brunnen aber … es ist nicht gerade der Brunnen des Lebens, um den es dabei geht, gefeiert wird nur das groß geschriebene Wir, besagter Brunnen hat das älteste Wort der Kunstkritik auf sich gezogen: Er ist hässlich, daran kann nun einmal kein Zweifel bestehen, ganz nebenher auch plump und einfallslos, falls das letzte Charakteristikum nicht als besonders pikanter Einfall durchgehen soll. Es ist richtig, wenn gesagt wird, jedes zweijährige Kind könne es besser. Denn offensichtlich fehlt es dem Objekt an dem, was noch die krakeligste Kinderzeichnung auszeichnet: an Grazie.
von Ulrich Schödlbauer
Absaufen, Freunde, der nasse Tod … das ist nichts für Gesellschaften. Oder doch? Eine abgesoffene Gesellschaft, wie sähe sie aus? Einsames Wrack, am Meeresgrund vor sich hinrostend, von Fischen durchschwärmt, algenüberzogen, vom lautlosen Fraß der Mikroorganismen einmal abgesehen…: Wo sind die Bewohner? Wohin das lärmende Volk? Frage die Planken, frage die Rettungsboote, frage die Retter, die Hinter- und Überbliebenen! Sie alle wissen es nicht. Von sich wissen sie zu berichten, allenfalls vom Nächsten, der sich als Fernster entpuppte. Rette sich, wer kann! Die einen können, die anderen nicht. Das bleibt übrig, wenn Gesellschaft zugrunde geht. Nicht viel, wenn man mich fragt. Was zwingt den Wasserscheuen, Tauchzeug anzulegen und unter Wasser auf Erkundung zu gehen? Das Gewissen? Welches Gewissen? Das Gewissen der Welt? Wurde sie schuldig? Die Welt hat kein Gewissen. Das, nur das, hat sie mit ihren Lenkern gemein.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G