von Felicitas Söhner
Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein individuelles Prisma erfahrbar macht. Hier erzählt einer, der nicht nur Zuschauer war, sondern Akteur – zwischen Polen und Deutschland, zwischen Literatur und Politik, zwischen kulturellem Engagement und persönlichen Verlusten.
Czejarek, geboren 1939, wächst in einer Zeit der Umbrüche auf. Die Kindheit im Schatten des Krieges, die prägenden Jahre zwischen Entbehrung und Bildungshunger – früh wird ihm klar, dass Geschichte nicht abstrakt ist, sondern sich im eigenen Leben materialisiert. Die Erinnerungen an seinen Vater, einen Gelehrten, der den Krieg überlebte, aber 1953 früh verstarb, durchziehen das Buch wie eine leise Grundmelodie. Doch Nostalgie ist Czejareks Sache nicht. Er erzählt mit einer Klarheit, die selten sentimental wird – auch wenn Momente wie die Schilderung gemeinsamer Opernbesuche oder der Weihnachtsrituale der Familie tief berühren.
Besonders spannend wird die Autobiografie dort, wo sie sich von der persönlichen Perspektive löst und zur Chronik eines kulturellen Wandels wird. In Stettin, einer Stadt, die nach 1945 ihre Identität neu finden muss, baut Czejarek ein Netzwerk von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern auf. In der legendären Buchhandlung ›Klubowa‹ trifft sich die literarische Szene Polens – darunter Leszek Kołakowski und Marek Hłasko. Es sind Jahre, in denen Buchhandlungen mehr als Verkaufsorte sind: Sie sind intellektuelle Salons, Keimzellen eines neuen Kulturverständnisses. Czejareks Schilderungen dieser Zeit sind ebenso kenntnisreich wie lebendig und lassen erahnen, wie hart errungene Freiräume immer wieder durch die politische Realität bedroht werden.
Die Karriere als Kulturfunktionär verläuft selten geradlinig. Als Leiter der Buchabteilung beim Ministerium für Kultur erlebt Czejarek die Verlagslandschaft der Volksrepublik Polen zwischen staatlicher Kontrolle und echtem literarischem Aufbruch. Seine Reflexionen über das Verhältnis von Kultur und Politik, über die Herausforderungen einer nationalen Identität im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft, gehören zu den klügsten Passagen des Buches. Zugleich bleibt er nah an der eigenen Biografie: etwa, wenn er vom Militärdienst erzählt, der seine Ambitionen im Radsport beendete, oder von seiner engen Freundschaft zu Janusz Hałdys, die über Jahrzehnte hinweg Bestand hatte. Dabei hebt er die Bedeutung seines Trainers Zbigniew Borowski hervor, der ihm während seiner Jugend half, seine sportlichen Fähigkeiten zu entwickeln.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist Czejareks Auseinandersetzung mit der polnisch-deutschen Kulturbeziehung. Besonders die Literatur steht dabei im Fokus. In einem eindrucksvollen Kapitel schildert er ein Treffen im Literaturhaus in Warschau, bei dem er über deutsche Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann sprach und dabei die Wichtigkeit betonte, das gegenseitige Verständnis zwischen Polen und Deutschland zu fördern. Zudem reflektiert er über die deutsche Exilliteratur nach der Bücherverbrennung, geprägt von Autoren wie Bertolt Brecht, Klaus Mann und Anna Seghers. Auch die Nachkriegsliteratur, insbesondere die Werke von Günter Grass, findet Erwähnung.
Czejarek setzt sich zudem für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland im Bildungs- und Kulturbereich ein. Er spricht sich für eine stärkere Förderung des Deutschunterrichts in Polen sowie des Polnischunterrichts in Deutschland aus. Besonders interessant ist sein Vorschlag, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu entwickeln, um eine objektive Darstellung der polnisch-deutschen Geschichte zu gewährleisten. Zudem schlägt er vor, eine Sammlung von 100 literarischen Werken zusammenzustellen, die die Kultur beider Länder einander näherbringen soll.
Besonders bemerkenswert ist Czejareks Reflexion über die polnisch-deutschen Beziehungen. Er betont, dass es nicht darum gehe, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen, sondern vielmehr darum, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in einer Partnerschaft zu leben, die von Respekt und Zusammenarbeit geprägt sei. Er verweist auf die positiven Entwicklungen der Ostpolitik, besonders die Arbeit von Egon Bahr, der für die polnisch-deutsche Aussöhnung und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als endgültig kämpfte.
Czejarek unterstreicht, dass die heutige Generation von Deutschen nicht für das Unrecht ihrer Vorfahren verantwortlich gemacht werden sollte. Dies sei besonders wichtig im Kontext der europäischen Zusammenarbeit, insbesondere innerhalb der EU, in der Polen und Deutschland gemeinsam für Frieden und Wohlstand arbeiteten. Der Autor plädiert dafür, die Beziehungen zu Deutschland nicht auf Stereotypen und negative Vorurteile, sondern auf Vertrauen und Kooperation zu bauen.
So ist Mein Weg durchs Leben nicht bloß ein Zeitzeugnis, sondern ein tiefgehender Beitrag zur intellektuellen Geschichte Mitteleuropas. Wer sich für die polnisch-deutschen Beziehungen interessiert, für die Dynamiken von Kulturpolitik oder für die Biografie eines Mannes, der die Brüche des 20. Jahrhunderts nicht nur erlebt, sondern aktiv mitgestaltet hat, wird hier fündig. Eine kluge, unaufgeregte, aber umso eindringlichere Autobiografie.