von Don Albino
Unmaßgebliche Vorbemerkung
Lassen Sie mich so anfangen: Wer den Tanz ums Goldene Kalb als Urbild aller Firmenkultur begreift, für den dürfte Elon Musks Häuptlingstanz… Schon falsch! Haben Sie ihn gesehen? Haben Sie sich umgesehen? Eher nicht? Das habe ich mir gedacht. Das ist das Schöne am heimischen Publikum: die uninformierte Informiertheit. »Lesen Sie ruhig weiter, auch wenn Sie nichts verstehen.« »Was gibt’s?« Es ist gegenwärtig kein Reisewetter, da kann man schon einmal durch die News scrollen. Hat gemacht! Ja was denn? Pardon, das hier sind keine News. Erwarten Sie Reflexion, pure Reflexion.
Was ich sagen will – in der an Achttausendern reichen amerikanischen Weltkultur markiert dieser Auftritt, von dem die Sendeanstalten ihrem Publikum nur einen winzigen Ausschnitt zumuten wollten, einen weiteren Gipfelpunkt. Ab jetzt gilt es, die Stars and Stripes auf den Mars zu pflanzen. So jedenfalls übersetze ich mir die triumphale Geste. Triumph des Willens? Triumph des gut investierten Geldes. »Kinder, der Mann ist inauguriert, jetzt können wir loslegen. Wir feiern einen Wendepunkt in der Geschichte der menschlichen Zivilisationen. Die Menschheit erhält einen neuen Zweig und dieser Zweig spricht die Sprache Amerikas.« – Kein Wunder, dass in Europa, der Mutter aller utopischen Weltentwürfe, die Mundwinkel der Zivilisationsexperten nach unten gehen.
Was an EU-Europas Kultur am ehesten auffällt – und am meisten verwundert –, ist die Inbrunst, mit der sie zurückgewünscht wird. Dauerbeleidigte Ex-Brüsselianer reden von Kultur-Europa – man könnte meinen, es handle sich um ein totes Rennpferd, das zwar alle Siegeshoffnungen unerfüllt ließ, aber für ein Goldenes Zeitalter der schönsten Hoffnungen stand. Damit ist es aus und vorbei. Europas letzter Tango gilt den Kulturetats und jeder Angriff auf sie lässt, zumindest in Dünkel-Deutschland, in einschlägig besorgten Gemütern den Kulturbruch von ’33 aufsteigen. Kultur, ganz recht, folgt dem Geld wie ein treuer Pudel. Aber der treueste Pudel taugt nichts, wenn er dem Geld nicht vorausläuft und künftige Sensationen erschnüffelt. Wer vor erfaselten Hitlergrüßen auf anderen Kontinenten die wirkliche Welt nicht mehr zu sehen imstande ist, der weiß gar nicht, wovon er redet, wenn er ein Wort wie ›Kultur‹ in den Mund nimmt.
Thesen
1. Die Kultur ist ein zu zartes Gewächs, um sie Politikern und Politikastern zu überlassen.
2. Die vernachlässigte Kultur ist die rachsüchtigste Kreatur.
3. Wer Licht in den Dschungel der Kultur zu bringen vermag, gilt als Lichtbringer der Menschheit. Wer das Licht ausschaltet, den fressen die Tiere des Dschungels bei lebendigem Leib.
4. Die Kultur ist das, was bleibt, wenn der Mensch geht. Erlischt die Kultur, erlischt der Mensch. Wer darin einen Widerspruch sieht, der versteht weder Mensch noch Kultur.
5. Kultur ist die menschliche Weise sich zusammenzuschließen.
6. Kultur verlangt Opfer: vom Einzelnen, von der Gemeinschaft.
7. Kultur ist das A und Ω des menschlichen Geistes.
8. Kultur macht das Leben sanft. Dafür fordert sie einen Preis. Die Frage, wer ihn bezahlt, fällt in die Kultur.
9. Die Kultur trägt die Wissenschaft und verschlingt sie.
10. Keine Kultur ist universell. Jede reicht nur so weit, wie die Anfänge strahlen.
11. Die Kultur überstrahlt das Individuum und macht es kenntlich.
12. Alle Kultur ist Weltkultur oder Barbarei.
13. Die Barbarei ist die Kultur, als Fremdkörper betrachtet.
14. Der kultivierte Mensch ist der Mensch in der Glorie. Er mag grausam, er mag gerecht oder ungerecht sein, er mag entsetzlich sein oder ein Liebender, er mag verehrt oder gehasst werden – er bleibt das Bild des Menschen in Ewigkeit.
15. Gäbe es eine Wissenschaft von der Kultur, sie hätte längst das Antlitz der Erde geräumt. Bleibt die Frage, wer von beiden – die Wissenschaft oder die Kultur? Wissenschaft ohne Kultur ist nicht lebensfähig. Kultur ohne Wissenschaft ist nicht überlebensfähig.
16. Gibt es Kulturen dort draußen im All? Wir wissen es nicht. Wir werden es erfahren oder auch nicht. Niemand weiß, ob und wann wir es erfahren werden. Irgendwer wird irgendwann erfahren oder auch nicht, was uns so am Herzen liegt. Wer dieser Irgendwer sein wird und wie er tickt, wissen wir nicht. Es geht uns auch nichts an. Ob aus dem Marsflug ein neuer Zweig der Menschheit hervorgehen wird, steht in den Sternen. Der kultivierte Mensch respektiert das.
17. Das wissende Nichtwissen ist das erste Anzeichen von Kultur, Gelassenheit angesichts des Ungewissen das vornehmste. Gelassenheit ist die Universalsprache der höheren Kultur.
18. Alle Kultur beruht auf Verehrung. Die höchste Kultur beruht auf der Verehrung von Niemand.
19. Niemandsrose im Niemandsland in Niemandes Hand: Höher steigt kein Gedanke, tiefer kann er nicht sinken.
20. Was aber die Kultur sey, das weiß ich nit.
Nachtrag
Ich schrieb diese Thesen zu meinem Ergötzen. Jedem steht es frei, sie abzuändern oder den Faden fortzuspinnen. Wer keinen Faden findet, an den er sich halten könnte, der ist vielleicht ein in sich haltloser Mensch. Aber das wäre nur eine Vermutung. Kultur gebietet, dem anderen nicht zu nahe zu treten. Ja, sie wirkt ein wenig gebieterisch, die Gute. Eine Gesellschaft, in der das Intime öffentlich und das Öffentliche intim ist, mag für viele Vorzüge besitzen, aber für alle bedeutet sie Qual. Das ist nicht paradox, sondern die Realität. Wer ruft: »Retten wir die Kultur!«, der weiß in der Regel nicht, wovon er spricht (und damit meine ich nicht die Kulturgegenstände, die gediegener Bewahrung bedürfen). Alle Kulturschwärmerei bleibt seicht. Kultur besitzt eine äußere und eine innere Dimension. Wer nur die äußere sieht, wird sie nie besitzen, wer nur die innere kennt, läuft Gefahr, sie zu verlieren.