von Helmut Roewer
Nebst einigen schnoddrigen Bemerkungen über Kinder-Autobiographien und deren Leser
Das Auffinden des sogleich besprochenen Buches ist einem Zufall geschuldet. Ich wartete vor meiner Haustür auf die Anlieferung des neuen Kochherdes und entdeckte im Kellerfester des gegenüberliegenden Wohnhauses einen kleinen Stapel Bücher. Natürlich konnte ich mich nicht bremsen und sah die herrenlos Gewordenen durch. Es waren zwei, die ich unbesehen an mich brachte: ein Roman von Jakob Wassermann (Das Gänsemännchen) und die Memoiren von Otto Flake (Es wird Abend).
Ich nahm beide Bücher auf die anstehende Flugreise mit. Beide waren enttäuschend, denn bei Wassermann, dessen große Zeit bei mir Jahrzehnte zurücklag, störte ich mich alsbald an den Romanfiguren, die alle auf verquere Weise in einer über Hunderte von Seiten wild mäandernden Handlung miteinander zu tun hatten. Das war nicht mehr mein Ding.
Und das Flake-Buch, es wäre um ein Haar im Urlaubsquartier in einem dort vorgefundenen Bücherspind zurückgeblieben, denn nach rund 100 Seiten war ich es satt, Kinder- und Schülergeschichten zu lesen. Eine sonst nicht zu meinen Gepflogenheiten gehörende Handlung rettete mich vor einer Fehlentscheidung – und damit auch Flake. Ich las nämlich gewohnheitswidrig und auch eher aus Langeweile die letzten Seiten dieses 600-Seiten-Buches. Die Selbstbeschreibung des Autors endet am 22. Oktober 1963. Eine vier Zeilen umfassende Nachschrift vermeldet: † 10. November 1963, abends ½ 11 Uhr. Der Mann beendete seine Memoiren demnach im Angesicht seines täglich erwarteten Todes. Jetzt war mein Interesse geweckt. Ich blätterte noch mal von vorn beginnend vorwärts und setzte mit der Lektüre dort wieder an, wo die Schulzeit vorbei war und damit gerechnet werden konnte, dass jetzt das Leben begann.
Exkurs: Ich räume ein, dass der Verdruss über Kinder- und Schulgeschichten mein höchstpersönlicher Standpunkt ist, von dem ich annehme, dass ungezählte andere Leser ihn nicht teilen. Ich habe einen doppelten Grund für diesen Verdacht: a) Da sind die bei manchen Leuten so beliebten Klassentreffen und b) die ausdrücklichen Kindheits-Autobiographien mit riesigen Auflagen.
Ich hoffe, diese Einwendung ist nicht zu abwegig, aber ich habe festgestellt, dass die von meiner ehemaligen Schulklasse veranstalteten Klassentreffen, sich bei der Hälfte der Mitschüler großer Beliebtheit erfreuen, während mir und auch anderen die Teilnahme an genau zweien solcher Treffen voll und ganz genügt hat, die aus Anlass des 25jährigen und des 50jährigen Abiturs. Das erste diente der Befriedigung der Neugierde: Was machen die anderen denn so, das zweite hingegen war ein Abgesang, der sich auf Weißt-du-noch-Geschichtchen konzentrierte. Wie gesagt, nicht wenige finden in solchem Erinnern ihr Pläsier und treffen sich nun Jahr für Jahr, wobei die Totenliste länger wird. Dieselbe Motivlage vermute ich bei Kindheits-Autobiographien. Schlimmes Beispiel: Max Fürst: Gefillte Fisch. Eine Kindheit in Ostpreußen.
Der Autor Fürst wurde 1905 in Königsberg geboren, er starb 1978 in Stuttgart, die Autobiographie erschien 1973 bei Hanser, die Taschenbuchausgabe 1976, sie erreichte 1979 das 32. Tausend. Es muss also jemand das Buch gekauft und vermutlich auch gelesen haben, obwohl es ungewöhnlich schlecht geschrieben ist. Vielleicht ist es auch lediglich ein Verschenk-Buch gewesen. Ich selbst bekam es kurz vor Weihnachten 1983 von meinem Referat im Bundesinnenministerium geschenkt. Ich las hinein und legte es beiseite. Ganz gelesen habe ich es nie. Ich wüsste nicht warum. Ob und welche Fische der Autor mochte, hat mich nicht interessiert. Den eigentlich interessanten Teil seiner Biographie, seine Vertreibung als deutscher Jude und seine Wiederkehr nach Deutschland kenne ich lediglich vom Klappentext. Auch, dass er im Nachkriegs-Deutschland an der Odenwaldschule tätig war, damit konnte man in den 1970er Jahren in Westdeutschland noch protzen, später nicht mehr.
Doch zurück zur Autobiographie von Flake. Der Mann war ein bekannter und streckenweise sehr erfolgreicher Schriftsteller von Essays und Romanen. Sein während des Ersten Weltkriegs verfasstes und publiziertes Logbuch erzielte 26 Auflagen. Er schrieb dort Dinge, die man in Deutschland unter der Herrschaft der Kriegszensur sonst nicht zu lesen kriegte. Ich komme sogleich auf die Gründe zurück.
Vorab sei festgestellt, dass mir Flake nur dem Namen nach als Schriftsteller vage bekannt war. Von ihm hatte ich vor seiner Autobiographie nicht ein einziges Buch gelesen, auch keinen seiner zahlreichen Aufsätze. Ich schreibe hier also als echter Laie, Gegenstand meiner Schilderung ist allein die Autobiographie, und die hat mich, wie gleich zu zeigen sein wird, schwer beeindruckt.
Der im Elsass aufwachsenden Autor war der Sohn eines kleineren, frühzeitig verstorbenen deutschen Beamten. Die Mutter musste nach dem Tod des Vaters für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie nähte und untervermietete einen Teil der städtischen Mietwohnung. Der Sohn entwich der häuslichen Enge durch tagelange Fußmärsche in die Umgebung. Dank einer Begabtenförderung war Flake der Besuch des Gymnasiums und der Universität möglich. Die sich eröffnende Lehrerlaufbahn stieß ihn ab. Er versuchte sich stattdessen journalistisch.
Was nun erfolgt, ist eine Geschichte von Hans im Glück. Das meiste, was er anfasst, das gelingt – irgendwie, auch wenn klar ist, dass er Weib und Kind, die er mittlerweile angeschafft hat, mit den gelegentlich eintrudelnden Salären nicht unterhalten kann. Das ändert sich, denn der Mann wird fleißig, schreibt Regionales und zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen. Dazwischen Phasen des Lebens als Bohème in Berlin, Paris und anderswo, bis ihm der Erste Weltkrieg in die Quere kommt.
Wie er das Soldat-sein an der Front vermeidet, wäre einen eigenen Roman wert, der die Abenteuer des Felix Krull locker in den Schatten stellt. Man muss nur die richtigen Leute kennen. Im Falle von Flake ist das nicht der Musterungsarzt, sondern - man glaubt es kaum – die Militärzensur. Diese wird im besetzten Belgien von einer zivilen Stelle innerhalb der Militärkommandantur in Brüssel ausgeübt, wo einer vorsitzt, der völlig richtig erkannt hat, dass das Geschäft nur von einem ausgeübt werden kann, der das Französische mit all seinen Unter- und Zwischentönen so wie seine Muttersprache beherrscht. Da weiß ein Bekannter, der Flakes Berliner Verleger ist, Rat, und der sagt es weiter. So kam es zur Abordnung des Grenadiers Flake in die belgische Hauptstadt.
Ab sofort wurde nicht auf ihn geschossen. Und das war nicht alles, denn nach dem Prinzip, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, war es Flake möglich, nun selbst unzensiert Texte zu veröffentlichen, die sonst keine Chance gehabt hätten, das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken. So und nicht anders entstand das weiter oben schon erwähnte Logbuch, von dem eine Auflage nach der anderen gedruckt und verkauft wurde.
Zur Jahreswende auf 1918 hätte es Flake um ein Haar doch noch erwischt. Das Reich kratzt seine letzten Männerreserven zusammen. Selbstironisch stellt er fest, dass er bei der Nachmusterung der Einzige war, dem man die mangelhafte Eignung nicht von vornherein ansah. Da rette ihn einer der ehemaligen Brüsseler Vorgesetzten, die sich daran erinnerten, wie schlecht es mit der gegen Frankreich gerichteten Spionage bestellt war. Also machte man aus dem Zweisprachigen einen in der Schweiz unter journalistischem Cover auftretenden Gentleman-Agenten. Für eine Weile fühlt sich der Leser in einen der einschlägigen frühen Hitchcock-Thriller versetzt. Einschließlich der schönen Femme fatale.
Ich suche nach meinen gebunkerten deutschen Geheimdienstakten aus dem Ersten Weltkrieg, um nachzusehen, ob Flake uns einen Bären aufgebunden hat, doch als ich sie gefunden habe, kann ich mich an den Namen der Agentin nicht erinnern. Als ich sie im Buch nachschlagen will, kann ich sie dort partout nicht wiederfinden. Stattdessen lese ich mich erneut in den Jahren ab 1918 fest. Frauen, Frauen, ein paar Männer und Frauen: Der zweite Durchgang bringt neue Erkenntnisse, da der Text so dicht ist, dass ich beim ersten Durchgang vieles verpasst hatte. Die Spanierin war sehr zurückhaltend. Sie ging nur aus sich raus, wenn man sie auf dem Fußboden nahm. Affären, Ehen, Reisen, der Mann muss ein toller Frauentyp gewesen sein: riesig groß, blond und oben drauf ein Westfalenschädel. Wann schrieb der eigentlich seine Erfolgsromane?
Während der Weltwirtschaftskrise ging’s steil bergab mit den Einnahmen und wurde es auch in der NS-Zeit nicht besser. Nach 1945 wäre er fast verhungert. Jetzt kommt für den bis vor kurzem noch Frankophilen der Kampf gegen die brutale französische Besatzungsmacht und deren deutsche Speichellecker. Die verargen ihm, nicht außer Landes geflohen zu sein (Na gut, den Thomas M. konnte er schon vorher nicht leiden). Schließlich die Wende, als die Bertelsmänner sich Mitte der 1950er seiner annehmen. Da kann er nicht schnell genug schreiben, wie sie es verkaufen möchten. Dieser Spätphase des Erfolgs verdanken wir auch diese kolossalen Memoiren. Sie enden – ich sagte es eingangs schon – mit seinem peinlich genau registrierten Tod.
Otto Flake: Es wird Abend. Bericht aus einem langen Leben. Frankfurt/M., Fischer Taschenbuch Verlag, November 1980.
Max Fürst: Gefilte Fisch. eine Jugend in Königsberg. München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Aufl., April 1979, 26. bis 32. Tausend.