
von Lutz Götze
Mythen im klassischen Sinne sind Göttergeschichten: erzählt in grauer Vorzeit und weitergegeben von Generation zu Generation. Irgendwann wurden sie aufgeschrieben; zumeist verändert gegenüber dem Ursprung. Nachfolgende Erzähler deuteten sie auf ihre je eigene Weise: So haben sich Mythen über Jahrhunderte hinweg bewahrt und geändert: Ödipus, Prometheus und gerade der Medea-Mythos erfuhren gewaltige Umdeutungen, wenn wir beispielhaft etwa die Medea-Lesart des Euripides mit jener Christa Wolfs vergleichen.
von Daniel Bensaïd*
Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort? O, trefflicher Minierer!
William Shakespeare: Hamlet
Unser alter Freund ist kurzsichtig. Er ist auch hämophil. Doppelt geschwächt und doppelt zerbrechlich. Und doch setzt er frohen Mutes, geduldig und hartnäckig, von Tunnel zu Stollen, seinen Weg bis zum nächsten Ausbruch fort.
Das 19. Jahrhundert erlebte Geschichte als einen Pfeil, der in Richtung Fortschritt zeigte. Das Schicksal der Antike sowie die göttliche Vorsehung verloren an Bedeutung angesichts der nüchternen Aktivität einer modernen menschlichen Art, die die Bedingungen ihrer eigenen unwahrscheinlichen Existenz produzierte und reproduzierte.
von Ulrich Schödlbauer
19.
Auch unsere Moderne wird, wie jede andere, vergessen. ›Unsere Moderne‹? Was soll das sein? Das müssten wir wissen, wir wissen es aber nicht und werden es niemals wissen. Nur wer eine Moderne projektiert, weiß Bescheid, denn er will etwas durchsetzen. Deshalb ist jede Moderne ein ›unvollendetes Projekt‹, solange noch eine Hand sich regt und ein Gehirn sich dafür ›einsetzt‹. Dieser Einsatz für eine bessere Welt, die heute die ökologische heißt und morgen anders, für eine andere Ordnung der Dinge und Menschen, setzt voraus, dass einer sich selbst als in einer anderen – spirituellen oder historischen – Ordnung stehend begreift. Das gilt als ›selbstverständlich‹, aber was heißt das? Die Hoffnung auf Erneuerung kann sich mit allem Erdenklichen verbinden, sie bleibt immer das Tierchen, das trabt. Diese seltsame Allianz aus jungen Leuten, die ihr Lebensrecht reklamieren, und unfrohen Konvertiten, die sich als Träger der frohen Botschaft ihr Quentchen öffentlicher Befriedigung holen, wenn sie nicht nur ihren Etat aufstocken möchten, beide auf der ewigen Suche nach einem Volk, das gegen die Verhältnisse aufbegehrt, nach der Mehrheit ›links von‹, trägt ihre Welt mit sich herum, lebenslang, lebenslänglich. Bei den Erfolgreichen verbindet sie sich mit dem, was sie anfassen, macht gleichsam selbst Karriere und verwandelt sich in ein Plakat, das die verteilte Wirklichkeit verdeckt und ersetzt, bei den Erfolglosen wird sie zum Vorbehalt, zur bitteren Losung, zum Ressentiment und zum Erinnerungsposten. Wer nicht vorankommt, darf es sich merken, man merkt es ihm an und man lässt es ihn merken. Man hält sich auch an ihm schadlos; so endet ein reiches Gelehrtenleben unter höhnischem Erbarmen und doppelzüngigem Lob. Ein recht humanes Schicksal, verglichen mit den Erschießungspeletons und Ausrottungsfeldzügen, mit denen sich seine Vorläufer ins Buch der Geschichte einschreiben durften und denen sie selbst zum Opfer fielen. Die Unerträglichkeit des Humanen muss tief empfunden werden, um sie durch die Unerträglichkeiten der Humanisierung ersetzen zu wollen. Angesichts solcher Prägungen ist Ratlosigkeit ein hohes Gut, das man nicht leicht verschleudern sollte. Erklärungen finden sich immer, sie sind billig und Wasser auf die Mühlen der Erklärten. ›Der Mensch‹ ist kein unvollendetes Projekt, sondern eine traurige Figur, die gern lacht.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2023 Monika Estermann: Lascaux