von Ulrich Schödlbauer

Meinungsführerschaft

Begriffe der Kultur sind am Erleben geformt. Die lange Dauer ist die Zeitform der unmerklichen Prozesse, die sich an signifikanten Lebenspunkten als 'Stich' oder 'Schock' bemerkbar machen. Die Empfindung des Alten, das einen - entgegen dem, was das 'Bewusstsein' sagt - nie verlassen hat, findet darin ebenso Platz wie die Unwiderrufbarkeit des Neuen: So bin ich und so bin ich geworden. Entsprechend lautet die Formel für Kultur: So sind wir und so sind wir geworden. An diesem 'Wir' entzündet sich der Streit - wer sind wir und wer sind die anderen? Das sieht jeder anders. Kultur ist ein Pluriversum. Gruppen oder Cliquen, die einen langen Weg zusammen gegangen sind, bevorzugen daher die Formeln Wir haben das gemacht oder, noch giftiger: Das haben wir gelernt. Kultur ist aber keine Gemeinschaft von Lernern. Sie ist nicht beherrschbar. Daher treten Generationen ab, nicht Lernstände. Der Versuch, durch Rekrutierung Willfähriger 'Meinungsführerschaft' über den eigenen Abgang hinaus zu sichern, ist Barbarei. Dabei ist er immer noch redlicher als das zynisch-kopflose Unterfangen, durch Komplettübergabe einer Sache, die niemandem gehört, an die Haifischwelt die eigenen Pensionen zu sichern.

Integration vs. Identität

Wer Kultur plant, begegnet ihr funktional. Er will Einfluss auf die Wir-Linie nehmen, die heikle Grenze zwischen denen, die 'dabei' sind und denen, die ausgeschlossen bleiben oder werden sollen. Daher verläuft sich jede Kulturpolitik in den Paradoxien der Integration durch Ausschluss, des fortgesetzten Ausschlusses durch Integration. Die kulturellen 'Parteien' stellen sich auf jeder Stufe des Prozesses wieder her - was nicht verwundert, da sie nie aufgehört haben zu existieren. Sie existieren aber im Anderen, der sie als 'Subjekte' (oder, im feindseligen Fall, als 'Objekte') der eigenen Kultur konzipiert. Nach dem Motto ›Geteiltes Leid ist doppeltes Leid‹ verdoppelt sich das Leiden am anderen ebenso wie der Wert, den man teilt: Abneigungen in einer Kultur halten länger, sind giftiger und für jedermannn gefährlicher als Abneigungen zwischen Kulturen. Wer integrieren will, schärft an. Es geht der Kultur wie der Nation, sie mag als Hintergrund genossen - oder 'verhandelt' - werden, im anderen Fall gehört sie unter die Menschheitsgeißeln wie Krieg, Pestilenz und Tod.

Leitkultur

'Leitkultur' mag von 'Leiten' kommen, auch vom 'letzten Geleit' - der Gedanke der 'Anleitung' ist darin nicht notwendig enthalten. Genau das ist aber Kultur - Anleitung zum 'richtigen' Leben, durch Sitte, Herkommen, Symbole und, nicht zuletzt, 'offene Diskussion', deren Offenheit überhaupt erst den Kulturrelativismus und das unlösbare Problem der Kultur erzeugt, das da heißt: so viele unterschiedliche und einander widersprechende Anleitungen, die, miteinander in Austausch gebracht, sich fast unwillkürlich gegeneinander kehren und als Anleitungen zum Unglücklichsein enden - wo bleibt da die Kultur? Die eigene Sprache lehren heißt, sie sprechen lehren, nicht mehr und nicht weniger - schon das Zuhören ist nicht erzwingbar. Die Figur dessen, der in Zeiten des Umbruchs, der Krise, der offenen Feindschaft die alten Fahnen herausholt, sie eingehend betrachtet, hier und da das brüchig gewordene Gewebe prüft und sie mit einem Seufzer der Resignation und der Erleichterung wieder in die Truhe zurücklegt, verdient Achtung, jedenfalls mehr als die des Renegaten oder eines Don Quijote, der, sie schwenkend, das Gemetzel sucht. Was ein Spanier des siebzehnten Jahrhunderts auf so glänzende Weise wusste, sollte Europäern zu Beginn des einundzwanzigsten nicht ganz unzugänglich sein. Diese Bewusstseinsgrenze verläuft gewiss nicht im Atlantik. Sie verläuft in jedem, der an 'Kultur' partizipiert, es kommt aber darauf an, sie zu überqueren.

Der Schlaf der Unvernunft gebiert gar nichts

Volk ist, wer in der Kultur, Elite, wer mit der Kultur lebt, auch für sie, was fast dasselbe ist oder wäre, wäre der Begriff der Kultur so eindeutig positiv zu verstehen, wie es seine Apostel gern sähen. Es ist daher Schwachsinn, über Elitenbildung zu streiten, oder ein Zeichen von Nachwuchssorgen. Vor allem die literarische Kultur wird, wie bekannt, von schweren Albträumen geschüttelt. Auch sie träumt in Begriffen wie 'Systemführerschaft' - und dahin schafft sie es nicht. Ohnehin ist sie an zuviel Konsortien beteiligt, 'eingebunden', wie die Vokabel lautet, o ja, jede Einbindung wirft etwas ab, aber zusammen reicht es nie. Das liegt daran, dass die Sprache - wie die Kultur - allen gehört. In der Schlussphase einer langen Periode kultureller Dominanz kehren klassische Wahrnehmungsmuster zurück, mitsamt dem zugehörigen Vokabular. Es gehört zum literarischen Speichellecker, dass kein Erfolg ihm so sehr imponiert wie der eigene - schließlich weiß er, wie er zustande kommt. Schwindet der Erfolg, so schwindet die Laune, schwindet die Laune, so schwindet die Lust, es den anderen gleichzutun. So stehen die fettesten Krisen ins Haus, ohne dass einer wüsste, was er falsch gemacht hat. Was kann man tun, außer sich dem Medium 'verpflichtet' zu fühlen, bis in den Tod vermutlich, den man den anderen an den Hals wünscht. Ein Denken mag 'Karriere' machen, ein Einfall sogar – die Einfälle hingegen, mit denen eine Karriere gepflastert ist, kennt man schon und sie werden davon nicht besser. Aus welcher Ferne muss eine Gesellschaft gesteuert sein, die von ihren Schriftstellern nicht nur Karrieren erwartet, sondern erhält.

Die mythische Schar

Man sollte den Begriff 'Kultur' vom Medium der Massen, vulgo Fernsehen, fernhalten und man kann es nicht. Das ist der Begleiter dieser Einrichtung, seit es sie gibt. Man kann es nicht, so wenig man die Zensur aus dem kulturellen Geschehen heraushalten kann. Fernsehen ist Zensur von unten, nicht mehr, nicht weniger. Wer es, wie zur Zeit der Anfänge, für eine vergnügliche Technologie hält, dazu bestimmt, dem Einzelnen Ansichten der Welt ins Haus zu bringen, der leidet weniger an Unkenntnis der Theorien, über die die Branche nur lacht, um sie zu zitieren, als an Wahrnehmungsschwäche. Da man es nicht aus der Kultur heraushalten kann, versucht man - in der Theorie - es zu nützen: Hier ist der Ort, an dem sich studieren lässt, was man die 'Konstruktion' des Wirklichen nennt. Ein seltsames Konstrukt: die Konstruktion der Konstruktion. Jeder Macher fühlt sich dadurch bestätigt: Also gut, wir stellen Wirklichkeit her, aber lässt sie uns denn eine andere Wahl? Natürlich hätte er eine Wahl - er könnte es lassen. Angesichts des Mediums bekommt die Politik große Augen, teils, um gut auszusehen, teils, um zu staunen. Der Entscheider, der die Macht des Mediums 'begriffen' hat, ist bereits Hamlet: angetreten, um den Tod des Vaters (pardon, der Inhalte) zu rächen, gibt er den Clown, jedenfalls bis zum finalen Gemetzel, aus dem er gelegentlich aller Ämter ledig, aber wohlgefällig betrachtet wie ein Neugeborenes, eine Anschlusskarriere startet. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die grotesk feudale Bereicherung, die der These der Konstruktion vehement widersteht. Das Ungeheuer nährt sich von der Angst der Entscheider, seine Ressourcen zu beschneiden. Stattdessen opfern sie Jahrgang für Jahrgang die aufgewecktesten und phantasievollsten Kinder der Gesellschaft, deren Wohl zu mehren sie gewählt wurden. Auf diesem Ritualmord, Kehrseite aller 'Förderung', beruht der massendemokratische Konsens, weltweit.

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