von Ulrich Schödlbauer

satura tota nostra est

Der Philosoph Hegel, dem Goethe einen galligen Humor nachsagte, soll einmal sehr gelacht haben. Das war, als ein durchreisender Zirkus ein schwarzes Krokodil in der Manege auftreten ließ. Allerdings verharrte es während der Vorstellung bewegungslos am Fleck und ließ, was immer der Dompteur mit ihm anstellte, sich nicht zum kleinsten Kunststückchen bewegen. Hegels Gelächter war Tagesgespräch in Berlin und die Gazetten berichteten ausführlich darüber. Besonders die Vossische Zeitung gab sich besorgt: Wenn Hegel lacht, muss die Weltgeschichte neu geschrieben werden.

Das sollte sich als stark übertrieben erweisen. Aber einen wahren Kern enthielt die kühne Behauptung doch. Hegel, bereits als preußischer Staatsphilosoph verschrien, widmete dem schwarzen Krokodil eine Reihe privater Notizen. Hätte Ludwig Fischer sie nicht zusammen mit anderen Opuscula an höchst verborgener Stelle ediert, erführe die Nachwelt von ihnen nichts. Das schwarze Krokodil, lesen wir da, unbeweglich bis zum Exzess. Bloß ein bisschen Geifer, sonst nichts. So leben! Und weiter: Angekündigt als schwarzes Krokodil, dünkte es dem Betrachtenden eher grünfarben, jedenfalls in Grünliche schillernd. Ein paar Absätze später findet sich die Bemerkung: Ich hätte nicht gedacht, ein Amphibium einmal so trutzig vorzufinden, noch dazu in der Gesellschaft von Clownen, Kamelen und Berliner Laffen. Dann, in verändertem Ton: S[schwarzes] K[rokodil]: Geschmeidig im flüssigen, kl[lotzig] i. trocknen Element. Auf d. Trocknen kann D[ialektik] nicht gedeihen. Wo sonst? Im Weltmeer! Geist d. wahre Leviathan.

Zweifellos wusste Hegel, was er da schrieb. Ein Gläschen Wein hilft bei d. Verflüssigung d. Gedanken. Ganz besonders hatte es ihm der Panzer angetan. Er schrieb: Echsenpanzer. Stumpfglänzend. Spuren metallischer Einlagerung (wahrscheinlich). [Anmerkung: Hegel kannte also das Wort ›wahrscheinlich‹ und unterließ es im gegebenen Fall, das Metallische dialektisch zu generieren.] Was hier als Panzer auftritt, heißt beim entwickelten Menschen Wissenschaft. D. Krokodil ist d höchstentwickelte Tier. D. physische Mensch musste den Panzer ablegen, um als wissenschaftliches Tier zu reüssieren.

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Als der Philosoph seine Bemerkungen zu Papier brachte, schwamm das schwarze Krokodil vermutlich bereits in der Havel. In der Nacht nach dem Auftritt (und seinem Eintritt in die philosophische Literatur) hatte es sich dem Zirkus entzogen und war unentdeckt in die nebenan fließende Spree entglitten.

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Einmal auf der richtigen Fährte, findet man das schwarze Krokodil überall. Nicht nur bei Hegel und seinen Nachfolgern in Geist und Gehaltsklasse, sondern auch bei seinen Antipoden, unter denen zweifellos Friedrich Nietzsche und Sir Karl Popper die Ehrenplätze gebühren. Dass Politik im Wissenschaftspanzer auftreten muss, will sie die Menschheit überzeugen, diese Überzeugung ist eingetragen ins Lastenheft aller Gegenwart, die jetzt und künftig als Gegenwart will angesehen werden. Allerdings begehen Politiker, haben sie den Panzer erst einmal übergestreift, den Fehler, sich allzu sehr zu bewegen. Daran erkennt sie die Menge und einer findet sich immer, der ruft: »Haltet den Dieb!«

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Es ist falsch, beim Anblick einer Politik, die sich im Panzer der Wissenschaft zeigt, um Gefolgschaft ohne Widerworte zu erzwingen, des Kaisers neue Kleider zu bemühen. Diese famosen Kleidungsstücke existierten bekanntlich nur in der Einbildung. Die Wissenschaft hingegen, weit entfernt von aller Einbildung, hat sich nach und nach sämtlicher Gehirninhalte des Menschen bemächtigt und hantiert damit nach Belieben. Als Objekt der Wissenschaft ist die Politik, was das Publikum für Hegels schwarzes Krokodil war: ein gaffender, sensationsgieriger, zynischer und gemütsloser Haufe, der sich für das Schicksal der Welt hält, aber zu kaum mehr taugt als dazu, die Wirtschaft des Landes abzuschöpfen und im gleichen Zug zu ruinieren. Wäre Wissenschaft, dem Beispiel des schwarzen Krokodils folgend, bereit und willens, sich angesichts der Zumutungen seitens der Politik steif zu stellen, dann bestünde auch für sie die reelle Chance, sich nächtens mit den Wassern der Spree zu vereinigen und dem Weltmeer zuzustreben, in dem der Menschengeist frei hat, sofern er nicht in die Netze der Heringsfischer gerät. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall. Klappert die Politik, plappert die Wissenschaft. Man kann nicht immer sagen, sie plappere analog, wohl aber lässt sich behaupten, sie sei pünktlich zur Stelle, um geschmeidig ins Feigenblatt-Kostüm zu schlüpfen.

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Politik und Wissenschaft, sub specie des Verhältnisses von Clown und Krokodil betrachtet, wobei die jeweils andere Seite die Stelle des Clowns einnimmt: ein Gespann mit Vergangenheit. Zugegeben, den Spaßmacher erwähnt Hegel bloß kurz, obwohl über das Verhältnis der beiden so vieles zu sagen wäre. Was nicht verwunderlich ist, da seine Anwesenheit sich von selbst versteht. Sein buntes Kostüm bildet den nötigen Kontrast zum schwarzschillernden Krokodilspanzer, ohne darüber hinwegzutäuschen, dass es hier um ein dialektisches Verhältnis zu tun ist. Indem die Regsamkeit aus der Reglosigkeit hervorgeht, ist dafür Sorge getragen, dass sie die Reglosigkeit, die immer fortbesteht, auf eine neue Stufe emporhebt. So oder so ähnlich steht es bei Hotho, der sich, wie mancher andere, gegen Ende seiner Herausgebertätigkeit nicht mehr sicher war, ob die Worte, die er niederschrieb, aus dem Munde des Meisters oder aus seinem eigenen Bauch hervorgingen. »Ist das wichtig?« notierte Adorno zu dieser Grundfrage und recht hatte er – das Gedächtnis ist nichts für pingelige Leute. Dass die Farbe Schwarz sich allgemein in Reglosigkeit, Buntheit hingegen in Regsamkeit und allgemein in Beweglichkeit übersetzt, gehört seit der Französischen Revolution zum politischen Einmaleins, das der Öffentlichkeit, unter tätiger Beihilfe der Spin-Doktoren, leider immer mehr abhanden kommt. Heute gilt Schwarz als Menschenfresserfarbe und nur die allgemeine Tierliebe, die das Wort ›Bestie‹ fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, verhindert schlimmere Übergriffe.

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Schwarz, die Farbe religiöser Weltflucht, steht bekanntlich für die Mitte der Gesellschaft, also denjenigen Teil, der zuletzt in Bewegung gerät, dann aber, sobald es sich einmal so ergeben hat, immer in dieselbe Richtung forttreibt, auch wenn sich die großen Fälle bereits unmissverständlich ankündigen. Viele Pleiten gehen der großen Pleite voraus, so dass sie über all dem Geschehen wie eine Fata Morgana schwebt, furchterregend und friedlich, auf jeden Fall unwirklich, so dass sie mehr für Gesprächs- denn für Handlungsstoff sorgt. Immanuel Kant, der für so manches eine schwer begreifliche Formel fand, hat die große Pleite, den Kollaps der bürgerlichen Gesellschaft, zwar nicht vorhergesagt, aber fühlbar gemacht, so weit das mit Worten möglich ist: So sind z. B. die Eidechse und das Krokodil im Grunde ein und dasselbe Thier. Das Krokodil ist nur eine ungeheuer grosse Eidechse. Aber die Oerter sind verschieden, an denen sich diese und jene auf der Erde aufhalten. Das Krokodil lebt im Nil, die Eidechse auf dem Lande. Soll heißen: Pleite bleibt Pleite, auch wenn die eine klein, die andere ungeheuer groß ist. Sie treffen nur unterschiedliche Leute. Man wird also, so schwer es auch fällt, abwarten müssen, wie sich die Dinge entwickeln.

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Der auf einem Krokodile reitende Geist wäscht am Gestade die Seelen der Toten, heißt es in Gustave Flauberts Versuchung des heiligen Antonius. Eine kryptische Stelle, finden Sie nicht? Und dennoch, welche Übereinstimmung mit Hegels intimstem Gedanken! Allein die Vorstellung der Seelenwaschung lässt an so vieles denken. Die Seelen unserer Toten werden ja nachgerade geschrubbt, damit sie nicht noch im Grab auf dumme Gedanken kommen und die Weisheit derer, die sie durch ihre übergroße Zuwendung hineingeschubst haben, nachträglich in Zweifel ziehen. Als Soldat und brav ins Grab zu gehen hätte auch einem Hegel behagt, hätte die Vorsehung nicht anderes mit ihm beabsichtigt. Heute ist es nicht nötig, Soldat zu werden, um der Segnungen des Massentodes teilhaftig zu werden. Man braucht nur in gewisse Files hineinzublicken, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten, um den Abgrund auszuloten, über den der gesunde Wirklichkeitssinn der Massen hinwegeilt, als brodle drunten die Magmakammer der Campi Flegrei. »Campi was?« wird hier der eine oder die andere fragen, vorausgesetzt, man versteht nicht gleich ›Scampi‹, das spricht sich leichter und rutscht auch sonst leicht über die Zunge. Krokodilreiter gibt es in der Politik viele. Die Krokodile, befangen im Irrglauben, sie hätten sie bereits gefressen, sind die bequemsten Reittiere, die man sich denken kann, vor allem, solange man sie daran hindert, ins vertrautere Element zurückzukehren, denn dort werden sie blitzwach und nichts entgeht ihrem großen Maul, nicht einmal das Nichts auf ihrem Rücken.

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Nach diesen mehr oder minder nutzlosen Exkursionen ist es an der Zeit, zu Hegel, dem echten und wahren, zurückzukehren. Sollte ich meinen ganz persönlichen Lieblingssatz bei Hegel benennen, so wäre es folgender: Indem der freie Geist der wirkliche Geist ist, so sind die Mißverständnisse über denselben so sehr von den ungeheuersten praktischen Folgen, als nichts anderes, wenn die Individuen und Völker den abstrakten Begriff der für sich seienden Freiheit einmal in ihre Vorstellung gefaßt haben, diese unbezwingliche Stärke hat, eben weil sie das eigene Wesen des Geistes, und zwar als seine Wirklichkeit selbst ist. Freiheit ist die Wirklichkeit des Geistes, steht da, und hat jemand das erst einmal begriffen, dann Gute Nacht! Ich weiß, in Zeiten der KI will Geist nicht viel bedeuten, er versteckt sich gern hinter immensen Berechnungen, aber dieses Versteckspiel macht ihn weit unberechenbarer als jene unverstellte ›Vorstellung‹, von der das Zitat (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, §482) redet. Das schwarze Krokodil ist nicht ohne Grund in den Wassern der Spree verschwunden. Fast möchte man anfügen: Es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht irgendwo den Schlaumeiern entweicht, gerade wenn ihre Freude über den Fang am größten ist.

 

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