von Ulrich Schödlbauer
Kennen Sie Borges? Natürlich, werden Sie sagen, hätte ich sonst Gesinnungen? Gestatten Sie, dass ich lächle, doch nicht allzu sehr, denn wir wollen keine Zeit verlieren. Warten Sie, ich lese Ihnen etwas vor, oder besser: ich erzähle es Ihnen. Es ist die Geschichte vom Feind, den einer nach Jahren der Flucht und des Wartens eigenhändig in sein Haus einlässt: scheinbar gebrechlich, scheinbar hilfsbedürftig, scheinbar am Ende, ein Opfer verlorener Jahre.
»Ich beugte mich über ihn, damit er mich höre.
– Man glaubt, die Jahre vergehen für einen – sagte ich zu ihm –, aber sie vergehen auch für den anderen. Hier begegnen wir uns endlich und das, was vorher geschehen ist, hat keinen Sinn.
Während ich sprach, hatte er seinen Mantel aufgeknöpft. Die rechte Hand steckte in der Rocktasche. Etwas erregte meinen Argwohn und ich ahnte, dass es ein Revolver war.«
Wie bitte, werden Sie sagen, was soll mir diese Geschichte? Was soll überhaupt diese Rede vom Feind? Wir sind hier unter uns, da verbietet sich allein der Gedanke daran. Gehen Sie nach Kunduz, wenn Sie dergleichen erleben wollen. So reden oder denken Sie oder könnten Sie reden oder denken, ich muss dergleichen in Rechnung stellen. Was soll ich da antworten? Sie haben ja recht, Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben. Was den anderen Feind, den aus Kunduz, angeht, so möchte ich nicht mit Ihnen rechten. Vielleicht sind wir ja gerade dabei, uns Feinde in der Zukunft zu schaffen, bloß weil wir zu feige oder zu ratlos oder zu beschränkt sind, um das zu verhindern. Aber davon möchte ich jetzt nicht reden. Reden möchte ich von diesem seltsam erschöpften, soeben angekommenen Feind eines anonymen Erzählers aus einem Leben, das lange zurückliegt, aber zweifellos eine Spur hinterlassen hat – von ihm möchte ich reden.
»Da sagte er mit fester Stimme: – Um Ihr Haus zu betreten, habe ich mich des Erbarmens bedient. Jetzt sind Sie mir ausgeliefert und ich bin nicht barmherzig.«
Das ist zweifelsohne ein statement.
»Ich suchte nach Worten. Ich bin kein starker Mann, und nur Wörter konnten mich retten. Ich fand diese:
– Es ist wahr, dass ich vor Zeiten ein Kind misshandelt habe, aber Sie sind nicht mehr jenes Kind und ich bin nicht mehr jener Tor. Überdies ist Rache nicht weniger eitel und lächerlich als Vergebung.
– Eben weil ich nicht mehr jenes Kind bin – erwiderte er – muss ich Sie töten. Es handelt sich nicht um Rache, sondern um einen Akt der Gerechtigkeit. Ihre Beweisgründe, Borges, sind bloße Schachzüge Ihres Schreckens, damit ich Sie nicht töte. Sie können nichts mehr machen.«
Also doch, werden Sie sagen. Feind hin, Feind her, das Töten ist vielleicht eine bloße Metapher, wichtig ist der Gedanke der Gerechtigkeit, hier wird er ausgesprochen, der Täter wurde vom Opfer eingeholt, das Recht ist auf Seiten des Verfolgers, der ein verlorenes Leben einklagt. Was mich wundert, ist, dass der Name Borges jetzt auftaucht, das hätte ich nicht erwartet. Also auch er...? Nun, so kann man sich in den Menschen täuschen. Aber sagen Sie, da Sie mehr zu wissen scheinen, wie geht die Geschichte aus?
Wäre ich Anwalt, so würde ich sagen, das müssen die Gerichte entscheiden. Aber hören Sie:
»– Ich kann etwas machen – entgegnete ich.
– Was? fragte er.
– Erwachen.
Und das tat ich.«
Jorge Luis Borges, Episode vom Feind, in: Gesammelte Werke. Gedichte 1969-1976, München 1980, S. 149f.