von Ulrich Schödlbauer
Lieber Herr Oberreiter,
unter den Linien, welche die schöne Leidenschaft in die menschliche Seele zeichnet, besitzt für mich eine seit jeher einen bedingungslos anderen Reiz – die der literarischen Emphase. Die intelligente Emotion, die durch ihr Ausdrucksmittel darauf festgelegt ist, Mimesis und Moral, die Vernunft und den Verrat an ihr zu artikulieren, zu inszenieren, in jenes Tauschverhältnis zu setzen, in dem sich beides aneinander bereichert und steigert, richtet sich von Haus aus weniger an die Intelligenten, die Klugen, die Bescheidwisser, vielmehr an diejenigen, die nicht ganz zu Hause sind ›in der gedeuteten Welt‹, wie das ein Lyriker einmal ausgedrückt hat, sie ist insofern auch, jedenfalls für mich, wesentlich lyrisch, wobei mir bewusst ist, dass ich mit dem Wort ›wesentlich‹ bereits etliche Abwehrreflexe mobilisiere.
Notizen anlässlich einer Tagung in der Münchner Siemens-Stiftung im November 2007
von Dietrich Harth
Eine alte Mär erzählt, die Vorfahren der mittelamerikanischen Völker aus vorkolonialer Zeit – Olmeken, Maya, Azteken, Mixteken – stammten aus China. Auch wenn es dafür keinerlei Beweise gibt, Narren lassen sich immer finden, die solche gegen gutes Geld aus dem Nichts hervorzaubern. In einem mit Kuriositäten gespickten schelmischen Vortrag ging Gordon Whittaker von der Universität Göttingen diesen angeblich wissenschaftlich seriösen Beweisgängen nach – und kam doch nur zur Erkenntnis, dass Winde und Wellen zwar den altchinesischen Seefahrern hätten nützen können, dass aber außer der einen oder andern Ähnlichkeit im Allgemeinmenschlichen von Evidenzen für die Stichhaltigkeit der alten Mär nicht die Rede sein kann.
von Ralf Willms
Silke Scheuermanns Gedichte in Über Nacht ist es Winter sind zusammenhängend (und zugleich unzusammenhängend) genug, dass sie sich wie ein Text lesen lassen: begünstigt vom Verzicht auf Interpunktion, wenngleich jedes Gedicht übertitelt ist. Die Texte sind gezielt heterogen angelegt und, so mein Eindruck, weisen immer wieder Elemente auf, die ihnen (und dem Leser) wenig Gutes tun. Gedichte und generell gute Kunst, das ist bekannt, beinhalten immer auch einen gewissen Unschärfegrad; die Grenzen etwa zu einer schlechten Positionierung eines ›Gegenstands‹ sind – bei genauerer Betrachtung – nicht unbedingt fließend, sondern können deutlich, sichtbar werden.
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