von Ulrich Siebgeber
Wenn, woran die Direktorin des Kölner Stadtarchivs aus gegebenem Anlass erinnerte, jede Epoche unmittelbar zu Gott ist, und wenn daraus folgt – wie die Bemerkung anzudeuten scheint –, dass ihre Dokumente per se als sakrosankt anzusehen sind, dann hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung gerade ein paar heilige Textchen mehr unters Volk gebracht, ohne dass es der hochverehrten Leserschaft sonderlich aufgefallen sein dürfte.
by Henning Eichberg
Contents
From ›people‹ to ›population‹? – the problem
1. Volk as ideological contents
1.1. Agitprop and folk song– Volk as a term of appeal
1.2. Volksfront – ›People‹ as a strategic term of unity
1.3. Against Nazism – Volk as a term of distance
1.4. GDR – an alternative concept of German we-building
1.5. 1953 – Volk as a term of revolt
von Ulrich Schödlbauer
Lieber Herr Oberreiter,
beim Wiederlesen der Schriften Ciorans, nachdenkend über das Wunder, dass es sie gibt, dass es sie in dieser Vollständigkeit gibt, dass sie entstanden sind und man sie gegen ein kleines Entgelt kaufen und lesen kann, stellt sich, unvermutet, diese Empfindung ein: was wäre, wenn dieser Autor heute schriebe, wenn er hierzulande schriebe, von alledem lesbar? Was davon käme jemals an den Tag? (Damit meine ich nicht jene frühe Verstrickung, gegen die, nach Adornos einschlägigem Wort, ein Lebenswerk einsteht.) Schon die lausige Übersetzung weckt Argwohn, doch sie entstammt einer anderen Zeit, einer anderen Gestimmtheit, man sollte sie ruhen lassen. Stattdessen sollte man das literarische Verfahren ins Auge fassen, die Art, wie der Autor sich freistellt, die Art von Thesen, mit denen er sich herumschlägt, überhaupt die Weisen, auf die er sich herumschlägt, das leicht Nachzumachende und das Unnachahmliche daran, die Unart, wörtlich und sogar persönlich zu nehmen, was für die Azubis des akademischen Systems nur kulturelles Gewäsch darstellt: Worte, Worte, nichts als Worte, nicht wahr? Eine kleine Schreib-Enthemmung, nicht wahr, ein Sich-Gehenlassen in Worten, vermutlich der transkulturellen Situation geschuldet, man müsste über Sozialisationen nachdenken, falls man dazu aufgefordert würde, ansonsten... besser schweigen. Einmal nachdenklich geworden, könnte man andere Namen aufführen, ganz andere, ich bleibe bei diesem, in dessen Wohnung ich einmal ein- und ausging, und bin mir ganz sicher, dass ihn diese Mauer aus Schweigen umstünde, aus Verlegenheit, wenn man so will, einer Verlegenheit, die rasch weg will, die bereits auf die Uhr schielt, die ihre Termine hat. Die kanonischen Texte unserer Kultur wären, würden sie heute geschrieben, nicht vorhanden. Die sie zu Gesicht bekämen, würden ungerührt darüber hinwegsehen, und die anderen würden ohnehin nichts mitbekommen. Das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und jeder, den es angeht, ist darüber verständigt.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G