Bucha b. Jena (quartus-Verlag), Bd. 1 (1945-1949), 2014, 216 S.; Bd. 2 (1950-1953), 2016, 256 S.; Bd. 3 (1954-1957), 2017, 276 S.; Bd. 4 (1958-1961), 2019, 264 S.; Bd. 5 (1962-1967) 2023, 484 S.
von Steffen Dietzsch
Diese neue Chronik ist nicht nur eine archivalisch-empirisch aufwendige, sondern gerade auch hinsichtlich ihrer Textsorte eine philosophisch singuläre Leistung. Sie behandelt Ereignisse, Daten und Personen anders als in einschlägigen Stadt-Chroniken, wo sie als abgeschlossene, fixe, öffentliche Sachverhalte entlang der Zeitlinie präsentiert werden. Lehrke dagegen wählt und sortiert seine zeitgeschichtlichen Partikel gerade nicht historistisch, sondern synkritisch aus. Er orientiert sich mit einem geradezu stereoskopischen Blick (Ernst Jünger) in der Mannigfaltigkeit der urbanen historischen Artefakte. Das ermöglicht ihm eine außerordentliche Tiefenwahrnehmung und eine Empfindung für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Damit ist diese Chronik mehr als eine res gestae Vimariensis. Sie rekonstruiert nicht – protokollmäßig – eine vergangene herrschaftliche oder geistige Agenda, sondern ein Kunstgriff dieser Chronik ist es, das ›Dazwischen‹ der zusammen erfassten Elemente sichtbar zu machen. Das bedeutet aber, dass Lehrke in seiner bearbeiteten Zeitreihe (1945-1967) vieles als vom Geist seiner Epoche Geprägtes identifizieren kann. Er kann dann – und das ist ein methodischer Mehrwert seiner Chronik – jene (einzelnen) Erscheinungen als (allgemeine) Erfahrung ausbuchstabieren. Dabei kommt aber keine eindimensionale, finale historiographische Tendenz zum Ausdruck, etwa als ›Tragödie der Kultur‹ oder als ein ›Fortschreiten zum Besseren‹. Vielmehr erkennt man im Blick auf diese zwanzig Weimarer Nachkriegsjahre ein im Goetheschen Sinn natürliches Leben, nämlich »die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausathmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.« (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Aph. 739; WA II,1,296)
Geschichte zwischen Fakten, ›Schwarzen Legenden‹ und Mythen – Teil I
von Johannes R. Kandel
In Gesprächen über Religion und Gewalt im Christentum dauert es nicht lange und es wird mit erhobenem Zeigefinger auf die ›Kreuzzüge‹ hingewiesen. Sie sollen als starkes Argument dienen, die Religion und insbesondere das monotheistische Christentum zu verurteilen. Hier zeige sich doch der wahre Charakter dieser Gewaltreligion: religiöse Hysterie, Machtstreben, Geldgier, Landhunger, Verrat, Eroberungen, brutale Gewalt gegen die Unterworfenen, Massaker, Zwangsbekehrungen, Ausbeutung und Sklaverei. Häufig wird, ausgehend von den Kreuzzügen, die ›blutige Spur des Christentums‹ bis in die Gegenwart gezogen. Anklagend wird darauf verwiesen, dass die Kreuzzüge noch bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert positiv beurteilt wurden. Im ›Zeitalter imperialer französischer Orientpolitik, nationalstaatlicher Stauferverklärung und preußisch-deutschen ›Platz an der Sonne‹- Ehrgeizes‹ (Schmugge, Deus lo vult?, 2008, S. 93) seien sie überwiegend als Ausdruck des Kampfes für hohe, ›heilige‹ Ideale, fromme Leidenschaft und ritterliche Tapferkeit interpretiert worden, gleichwohl seien sie letztlich nur – von sehr weltlichen Motiven getrieben – eine »Lizenz zum Töten«, ein »Töten im Auftrag der Kirche« gewesen (Wippermann. Kreuzzüge im Mittelalter und der Moderne, 1997). Das sollte nicht nur für die Kreuzzüge in den Nahen Osten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert gelten, sondern auch für die mit päpstlichen Aufrufen und begleitendem Segen gegen die Muslime in Spanien (Reconquista), die ›Ketzer‹ (Albigenser in Südfrankreich) und Heiden in Osteuropa (Slawen, Wenden) gerichteten bewaffneten Unternehmungen.
von Herbert Ammon
Geschichtspolitik im Zeichen des Krieges
I
Wir – die Bundesrepublik Deutschland in und mit der Nato – befinden uns zwar noch nicht im Krieg, wie unsere Außenministerin Baerbock in einem ihrer faux-pas meinte. Nichtsdestoweniger findet hierzulande – nicht erst seit Beginn von Putins ›militärischer Spezialoperation‹, sondern seit dem Kiewer Maidan 2013/14 und der darauffolgenden Annexion der Krim – ein Meinungskrieg statt. Parteinahme ist geboten. Es gilt, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, was im Falle des auch ob seiner KGB-Praxis notorischen Putin einfach scheint. In einem solchen Krieg eine um Analyse und mögliche Konfliktlösung bemühte Position einzunehmen, bedeutete moralische Feigheit, schlimmer noch: es handelte sich um Putinismus, um Verständnis für das Böse. Ist die Sache derart geklärt, setzt die Suche nach den Wegbereitern und Parteigängern des historisch Bösen ein.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G