von Iris Berndt
Eine Reise in das heutige Kaliningrad
Der 300. Geburtstag Immanuel Kants ist Anlass, die Bedeutung des Philosophen für selbstverständlich scheinende Gewissheiten unseres Denkens, unserer wissenschaftlichen Methodik und unseren Begriff von menschlicher Freiheit intensiver als sonst zu reflektieren. Auch der Kategorische Imperativ Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde wird in Erinnerung gerufen. Der Volksmund hat diesen Anspruch in dem Sprichwort vereinfacht: Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Andern zu!
Eine Reise 2024 nach Königsberg in Ostpreußen, seit 1945 infolge deutscher Kriegsschuld russisch und 1946 in Kaliningrad umbenannt, ist eine Reise zu Kant und zum Kategorischen Imperativ.
Aus Königsberg stammte Käthe Kollwitz (1867-1945), deren Großvater Julius Rupp (1809-1884) den Kategorischen Imperativ als evangelischer Pfarrer in der theologischen Praxis anwenden wollte. Mit dem Ergebnis, dass er 1848 aus der Evangelischen Kirche ausgeschlossen wurde . Er gründete daraufhin die Königsberger Freikirchliche Gemeinde, übrigens die in Deutschland bedeutendste. Auch Carl Schmidt (1825-1898), der Vater von Käthe Kollwitz, sie selbst und ihr Ehemann Karl Kollwitz (1863-1940), waren Mitglieder dieser Gemeinschaft, die urchristliche Züge hatte. Im heutigen Kaliningrad, gleich neben dem Dom, befindet sich ein Denkmal für Julius Rupp, bei welchem Besucher stehenbleiben. Eingraviert ist in einen unbehauenen Granit der Satz: »Wer nach der Wahrheit, die er bekennt, nicht lebt, ist der größte Feind der Wahrheit selbst.« Der Stein befindet sich hier seit 1909 aus Anlass des 100. Geburtstages des Geistlichen, dessen Porträtrelief auf ihm der plastische Erstling von Käthe Kollwitz war. Auf einer Extra-Tafel daneben ist dieser Satz seit einigen Jahrzehnten auch in russischer Sprache zu lesen.
Von diesem Gedenkstein geht der Blick hinauf zum Dom, dem bedeutendsten Bauwerk im heutigen Kaliningrad. Die ihn einst umgebende städtische Bebauung ist, wie die historische Altstadt mit dem Schloss, im August 1944 dem Feuerbrand der britischen Bomber zum Opfer gefallen, der Dom brannte aus. Kants Ehrenmal an der Nordostecke überstand wundersamerweise diesen Feuersturm – ebenso wie übrigens an der Südostecke der Gedenkstein für Julius Rupp. Die Kneiphofinsel im Zentrum der Altstadt wurde eine Parkanlage, die jetzt im Jubiläumsfrühling in saftigem Grün steht. Der Dom ist von 1992 bis 1998 rekonstruiert worden. In seinem breiten Westwerk fand das Kant-Museum seinen Platz, das ebenso wie die Kirchensanierung mit reger deutscher Anteilnahme schrittweise wuchs. Aus der anfänglichen Sammlung von Erinnerungsstücken ist im Laufe der Zeit ein modernes Museum geworden.
Unter den Sehenswürdigkeiten zum Kant-Jubiläum in Kaliningrad ist der Dom ein zentraler Ort. Das Kant-Museum wurde am Vorabend des 300. Geburtstags mit einer Dauerausstellung neu eröffnet. Durch eine steile, enge Treppe, die an die Mühen kantischer Arbeit gemahnt, geht es wie früher in die sich über vier Etagen erstreckenden Museumsräume, deren Aufteilung in wesentlichen Zügen beibehalten wurde: Es gibt das große Stadtmodell im Eingangsraum, den Nachbau der Wallrodtschen Bibliothek, das Dommodell und den großen Tisch mit den Stühlen im Raum der Freunde und Schüler Kants, das bekannte Historiengemälde dieser Freundesrunde dahinter.
Gegenüber der früheren Ausstellung gibt es wesentliche Neuerungen. Die Texte sind nur in russischer Sprache, einige Medienangebote auch englisch. Es ist jedoch geplant, auch ein deutschsprachiges Museumsangebot zu entwickeln, wie auf Nachfrage zu erfahren war. Neu ist auch der Anteil umfassender audiovisueller Medien in der Ausstellung. Neu ist die moderne Gestaltung und Lichtregie, eine ordnende Hand ging durch die Vielfalt der früher dargebotenen und immer etwas verwirrenden und teilweise auch etwas unordentlichen Darbietung. Sachlichkeit ist das Prinzip, auch der Texte. Thema sind die Stadt Königsberg als Hauptstadt Ostpreußens und die Geschichte des Domes und seines Wiederaufbaus, vor allem aber Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehrtätigkeit an der Universität, seine philosophischen Gedanken, seine Schüler und Freunde sind dargestellt. Es waren diese Schüler und Freunde, die Kants Ruhm in die Welt trugen und die ersten Kant-Erinnerungsstücke sammelten, die Kantiana.
Die Rolle Kants für die Astronomie wird ebenso gewürdigt wie etwa für die litauische Sprache. Ein halber Raum widmet sich den vier russischen Jahren Ostpreußens 1758-1762, als Kant russischer Untertan war und sich an die russische Zarin Elisabeth II. auch um die freigewordene Stelle für Logik und Metaphysik an der Universität gewandt hatte – die aber ein anderer erhielt. Die russischen Offiziere besuchten Kants Vorlesungen, denn selbstverständlich sprachen sie auch deutsch, ebenso wie die aus Petersburg kommenden Gouverneure des Gebietes. Das Weltläufige dieser Themen lässt als roten Faden das in einem Raum überschriebene Ein Genie des Ortes – ein Genie für die Welt erkennen. Man liest gern die kurzweilige Darbietung in knappen Texten, auch mit geringen Russisch-Kenntnissen. Sie sind mit kleinen Illustrationen aufgeheitert: Sei es das Bild von dem Zeitungsjungen, der am 13. Februar die Nachricht von Kants Tod durch die Stadt trägt. Oder der sich durch die ganze Stadt ziehende Leichenzug am 28. Februar 1804, weil wegen Frost das Grab erst Wochen später ausgehoben werden konnte. Es sei anerkennend hervorgehoben, dass es sich auch für einen deutschen Besucher anfühlt, als habe der Kategorische Imperativ die Zügel geführt. Dass dies keine Kleinigkeit ist, versteht sich.
Gegenüber der Kneiphof-Insel, am anderen Ufer des Pregel, hat sich das Gebäude der Königsberger Börse erhalten, ein großer Bau in Neo-Renaissanceformen, das den Krieg erstaunlich gut überstanden hat, so dass es sogar mehrfach als Filmkulisse diente, beispielsweise in Ein Menschenschicksal (1956),. Hier befindet sich seit einigen Jahren das Kunstmuseum der Stadt.
Neben Ausstellungen zu ostpreußischer Kunst, zu E. T. A. Hoffmann und Präsentationen gegenwärtiger und sowjetischer Kunst enthält es in diesem Jubiläumsjahr noch bis 15. September 2024 eine Kabinettausstellung für nur ein einziges Gemälde: Ein zu Lebzeiten entstandenes Porträt von Immanuel Kant, das wahrzunehmen lohnt, denn es war seit 1945 verschollen und wird hier erstmalig im Original der Öffentlichkeit präsentiert.
Wie Dr. Galina Sabolotskaja, Direktorin des Kunstmuseums, berichtet, hatte sie jahrelang in Museen nach Kantiana recherchiert, aber erst durch Zufall vor sechs Jahren einen Hinweis von einer Studienkollegin bekommen: Ob das Porträt eines Unbekannten in der Staatlichen Kunstgalerie Perm/Ural nicht das gesuchte Bild sein könnte? Dank historischer Fotografien aus der Zeit vor 1945, des frühen Aufsatzes von Karl Heinz Clasen aus dem Jahr 1924 über Kant-Bildnisse, und vor allem durch die umfassenden auch online verfügbaren Nachforschungen über den Verbleib historischer Kant-Bildnisse, angefertigt von Dr. Steve Naragon von der Manchester University, gelang die eindeutige Identifikation.
Der Königsberger Maler Johann Gottlieb Becker (1720-1783) schuf dieses Gemälde wohl 1768. Es zeigt Immanuel Kant im Brustbild in Dreiviertelansicht, in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch mit unleserlicher Schrift. 44 Jahre war Immanuel Kant damals und noch nicht so bekannt; seine Hauptwerke sind Alterswerke. Da Kant kein Freund von Selbstdarstellung war und wie Zeitgenossen berichten, an den Wänden seiner Wohnung nur ein Barometer und das Porträt Rosseaus hing, stellt sich die Frage, ob Kant das Porträt in Auftrag gab. Tatsache ist, dass es sich bei seinem Tode in seinem Hause befand und mit dem Wohnhaus Kants in der Königsberger Prinzessinstraße an einen gewissen Meyer ging, von dessen Witwe ein Königsberger Bibliothekar es 1850 für 8 Thaler kaufte.
Anlass für die Anfertigung eines Kant-Porträts, für das der Gelehrte auch Porträt saß, war wohl der Wunsch des Buchhändlers Johann Jacob Kanter (1738-1786) seine Geschäftsräume, die sich damals im Wohnhaus Immanuel Kants befanden, mit einer Gelehrtengalerie zu schmücken. Dieses Exemplar (»Becker II«) ist dasselbe Bild, das 1980 aus Privatbesitz in das Literaturarchiv Marbach kam.
Eine Inschrifttafel erklärt seinen Zweck, für das ein Pastell mit Quadrierung als Vorzeichnung 1924 noch nachgewiesen werden konnte. Das nun in Kaliningrad ausgestellte Bildnis (»Becker I«) ist dem von demselben Maler für den Buchhändler gemalten auf den ersten Blick gleich, auch die Größe ist fast identisch. Bei genauerem Hinsehen sind Unterschiede zu bemerken: Erstens rahmt den Porträtierten hier kein Oval wie auf dem Marbacher Bild. Vor allem aber wirkt der 44jährige auf ihm etwas jünger. Clasen hatte vermutet, dass dieses Gemälde früher als das Marbacher Gemälde entstanden ist und dem kann gefolgt werden: Während das Porträt für die Galerie des Buchhändlers den Gelehrtentypus hervorkehrt, schmeichelt das Porträt für den Dargestellten diesem. Kant schenkte es seinem Bruder, nach dessen Tod kam es in sein Haus zurück.
Interessant ist die dann folgende wechselvolle Geschichte des wiederaufgetauchten Kant-Porträts: Mit Nachfahren der Familie des Königsberger Bibliothekars gelangte das Gemälde nach Dresden und wurde 1881 untersucht und als Kant-Porträt bestätigt. Der 100. Jahrestag des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft und der allgemein anerkannte Ruf Kants steigerten die Nachfrage. Für die auch in damaliger Zeit sehr hohe Summe von 1800 Thalern sicherte der Königsberger Kaufmann und Mäzen Walter Simon (1857-1920) das Porträt für das Kant-Museum seiner Heimatstadt. Dieses befand sich erst in der Universität, der Albertina, dann im Kneiphöfischen Rathaus. Alle Gegenstände aus dem Museum galten als Kriegsverlust. Aber dieses Gemälde überstand den Zweiten Weltkrieg. Unter den Armeeangehörigen der Sowjetischen Armee, denen die Stadt nach weiteren Kämpfen am 9. April 1945 übergeben wurde, befand sich auch ein junger Philosophie-Student, der um die Bedeutung Immanuel Kants und dessen Porträt in Königsberg wusste. Wo es sich befand, war nicht ganz sicher zu ermitteln. Das Gemälde wurde aus dem Rahmen geschnitten abtransportiert, wie die gegenwärtig restaurierte untere Partie zeigt. 1957 erhielt die Staatliche Kunstgalerie in Perm, ein Ankaufsangebot für dieses Bild, die Nachfahren benötigten Geld. Doch war das Wissen um den Dargestellten verloren gegangen. Wahrscheinlich waren die Verkäufer enttäuscht über die geringe Summe, die sie für das unansehnliche, beschädigte Bild erhielten. Aber dann begannen die Nachforschungen.
Dabei gab und gibt es früher und heute auch Irrwege: Schon die Illustration in der Leipziger Illustrierten Zeitung von 1881 zeigte zunächst ein Phantasie-Porträt. Vor einigen Jahren hatte das Museum des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt (Main) ein Porträt, das eigentlich den seinerzeit einflussreichen, aber weniger bedeutenden Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) zeigt, online als Porträt von Immanuel Kant publiziert, was prompt auf der Wikipedia-Seite landete. Sogar die deutschsprachige Zeitschrift Cicero brachte in der Januar-Ausgabe 2024 zum Auftakt des Kant-Jubiläums dieses falsche Porträt auf ihrer Titelseite. Inzwischen wurde der Wikipedia Eintrag korrigiert und das Marbacher Gemälde ist dort abrufbar. Von der Echtheit des Kant-Porträts in Perm überzeugte sich 2023 der Brite Dr. Steve Naragon aus Manchester/UK, selbst in der dortigen Galerie und bestätigte dies erfreut dem Kaliningrader Kunstmuseum.
Der Beitrag berichtet davon, wie viele Menschen tätig waren, damit Botschaften von und über Immanuel Kant erzählt werden können. Der Kategorische Imperativ auf die Wirklichkeit angewendet hat eine Botschaft für uns: Wir haben noch viel voneinander zu lernen, allein um die Folgen des Zweiten Weltkriegs historisch aufzuarbeiten oder überhaupt zu begreifen.