von Helmut Roewer

Zeitungsverbot und Haftbefehl gegen den berühmten Schriftsteller Gustav Freytag und dessen Flucht aus Preußen nebst einigen Bemerkungen über das unkonventionelle Handeln der preußischen Kein-Krieg-mit-Russland-Fraktion

In nostalgischer Verklärung wird von den letzten überlebenden Konservativen die Rechtsstaatlichkeit Preußens hoch gelobt. Doch die Preußen konnten auch anders. Oder besser: einzelne von ihnen, wenn sie an der Macht waren.

Eine solche Geschichte wird im Folgenden erzählt. Sie handelt von einem bekannten Publizisten, Theaterautor und Romancier, Gustav Freytag (1816-1895), und dem preußischen Innenminister Ferdinand Otto von Westphalen (1799-1876). Der preußische Minister war zweierlei: Er war, was in seiner Gegenwart keiner auszusprechen wagte, der Schwager von Karl Marx, und er war ein Intimfeind des Schriftstellers Freytag. Warum das so war? Der angehende Literatenstar tat etwas, was der herrschenden Kaste ein Dorn im Auge sein musste. Er gab 1853/54 eine Art Pressedienst mit einem winzig kleinem Verteiler unter dem Titel Autographierte Correspondenz heraus, in welchem er Unerfreuliches aus dem Innern der Macht zum besten gab.

Es versteht sich, dass die Obrigkeit dieses Tun mit Argusaugen betrachtete und darauf sann, dem für sie unerfreulichen Tun ein Ende zu bereiten. Der passende Augenblick schien gekommen, als in Freytags Blättchen No. 18 ein Artikel mit einem haarsträubenden Inhalt erschien. Der anonyme Autor behauptete nämlich, dass jemand die Aufmarschpläne des preußischen Heeres gegen Russland nach Sankt Petersburg verraten habe.

Ich will jetzt nicht ein Fass aufmachen und den militärpolitischen Hintergrund dieser Affäre erzählen (es handelte sich um den Krimkrieg). Vielmehr genügt der Hinweis, dass es in Preußens Herrschaftsschicht stets eine starke Fraktion gab, die nachdrücklich keinen Krieg mit Russland wollte und sich deswegen stark machte, durch geeignete Mittel Preußen aus den blutigen europäisch-russischen Händeln herauszuhalten. Der Verrat des Aufmarschplans erschien den Verrätern ein solches geeignetes Mittel zu sein. Vermutlich lagen sie mit dieser Einschätzung richtig, denn gegen jemanden einen Krieg zu beginnen, der die eigenen Absichten genau kennt, ist keine sinnvolle Option.

Bei diesem Vorlauf war es nicht abwegig, dass die Strafverfolgungsbehörde einschritt. Aufmarschunterlagen für einen möglichen Kriegsfall zu verraten, war Landesverrat. Da gab es wenig zu deuteln. So setzte denn die Polizei bei der Stelle an, wo die Dinge ans Tageslicht gekommen waren. Das war die Freytagsche Correspondenz, sie wurde verboten und die Exemplare, so sie denn am Erscheinungsort Leipzig greifbar waren, eingezogen. Doch Freytag selbst vorzuladen, um darüber Auskunft zu erlangen, wer der Schreiber des anonym erschienenen Artikels sei, wollte nicht gelingen. Er hatte sich ins Ausland abgesetzt. Das war in seinem Falle das Großherzogtum Sachen-Coburg-Gotha. Dort stellte man sich gegen das alsbald eintreffende Rechtshilfeersuchen taub.

Was nun folgte, war eine jahrelange Groteske, bei der schließlich Freytag seine preußische Staatsangehörigkeit verlor, indem er eine andere annahm. Es war die des Kleinstaats Sachsen-Coburg-Gotha, wo er sich, inzwischen durch den sagenhaften Verkauf seiner Bücher reich geworden und mit dem Großherzog Ernst II. auf freundschaftlichem Fuß lebend, niederließ. Er wurde als großherzogliche Vorlesekraft (Lector) ein dortiger Staatsbeamter (Hofrath), wenn auch nur pro forma, und damit Sachsen-Coburg-Gothaischer Staatsangehöriger.

Sein Preußentum war er somit fast quitt, doch nicht die die Kalamität des Haftbefehls gegen ihn, der zunächst nur auf die Erzwingung einer Zeugenaussage gelautet hatte. Es dauerte ein Weilchen, bis es sich nach Berlin herumsprach, dass Freytag eventuell gar kein Preuße mehr sei, aber sicher war man sich nicht, denn ihm fehlte, worauf der Regierungspräsident von Breslau hinwies, der einschlägig für erforderlich gehaltene Auswanderungsschein, den der Inkriminierte bei ihm dreist beantragt habe. Deswegen fragte man beim vorgesetzten Minister nach, mochte der doch sehen, wie man weiterkam. Doch hohen Ortes war man keinesfalls gewillt, von den einmal gefassten Entschlüssen abzuweichen. Ganz im Gegenteil, und so machte man aus dem flüchtigen per Haftbefehl gesuchten Zeugen einen gesuchten Landesverräter und wies den Berliner Polizeipräsidenten an, beim Berliner Stadtgericht nachzuhorchen, ob Anklage und Verurteilung dort zu erwirken seien. Jetzt wurde die Sache für Freytag ernst, auch wenn er selbst von dieser Eskalation nichts ahnte.

Die Justiz ließ sich die Polizeiakten zeigen. Was sie zu dem Fall zu sagen wusste, geht aus einem überaus gewundenen Bericht des Berliner Polizeipräsidenten an seinen Minister hervor: Die Beweislage gegen Freitag sei dürftig bis überhaupt nicht vorhanden. Es fehle sogar das Corpus delicti, also die berühmte No. 18 der Correspondenz. Die sei vermutlich beim Vorgehen gegen die Zeitung bei Durchsetzung von deren Verbot vernichtet worden. Auch sei nach Lektüre der Akten klar, dass es keinerlei Beleg dafür gebe, dass Freytag der zu verfolgende Verräter sei. Unter diesen Voraussetzungen sei die ganze Sache aussichtslos.

Nunmehr wurde der Entlassungsschein aus der Staatsangehörigkeit still auf den Weg gebracht und der geheime Haftbefehl klammheimlich annulliert. Auch Freytag bekam das letztlich mit. Es war für ihn ein langer mühsamer Weg, demütigend zudem.

Um den Fall selbst für den Leser zum Abschluss zu bringen: Den von Freytag in seinem Blättchen geschilderten Landesverrat gab es tatsächlich. Die an der Sache unmittelbar Beteiligten wussten das. Der Verräter war der preußische General á la Suite Prinz Philipp von Croÿ (1801-1871). Gegen ihn – soviel Standeskumpanei war geboten – wurde nichts unternommen. Vermutlich war es dem preußischen König und auch dessen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck ganz recht, einen solchen Grund für Preußens Passivität in Sachen Russland bei der Hand zu haben.

Jedoch: Unter diesem Opportunitäts-Gesichtspunkt fällt erneut ein schwarzer Schatten auf Preußens angebliche Rechtsstaatlichkeit, denn zunächst gegen den nicht zur Kaste zählenden Freytag vorzugehen, um diesen mundtot zu machen, scheute man sich keineswegs. Ebenso wenig scheute man sich, einen Haftbefehl aufrecht zu erhalten, bei dem bekannt war, dass der Verfolgte nicht der Täter sein konnte.

Einige ergänzenden Gedanken: Das Vorgehen gegen Presseleute wegen Landesverrats hat immer wieder Polizei und Justizorgane beschäftigt. Nicht nur in Deutschland. Einer der spektakulärsten Fälle spielte sich rund hundert Jahre später, Anfange der 1960er Jahre ab, nämlich die Spiegel-Affäre. Auch hier ging es um Landesverrat. Der Vorgang war weder für die Obrigkeit ein Ruhmesblatt noch für die Illustrierte. Heute wird dies gerne anders dargestellt. Lassen wir das mal beiseite, denn der rechtspolitische Knalleffekt der Spiegel-Affäre war die anschließende Installierung eines Presse-Zeugnisverweigerungsrechts in der Strafprozessordnung. Manch ein Politiker, der hieran beteiligt war, wird sich hernach an den Kopf gegriffen haben, als er selbst später einmal Opfer dieses Presseprivilegs wurde.

Zu Gustav Freytags Zeiten gab es dieses alles nicht, aber immerhin einige Justiz-Juristen, die sich erst mal die Akten zeigen ließen, um sich nicht zum Erfüllungsgehilfen eines durchgeknallten Ministers machen zu lassen. Heute ist das anders.

©Helmut Roewer, Illustration: Bernd Zeller, Jena, August 2024

[Quellenhinweis: Die Eckdaten des Falles Freytag habe ich aus einem Aufsatz und einem Vortrags-Manuskript des Historikers Dr. Jürgen W. Schmidt mit seiner Zustimmung entnommen. Hierfür danke ich herzlich. Für die von mir vorgetragenen Wertungen trage ich die alleinige Verantwortung.]

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