von Ulrich Siebgeber
Die Gefahr
Nach dem ersten Attentat besteht die Aufgabe darin, keine voreiligen Schlüsse
zu ziehen.
Nach dem zweiten Attentat geht es darum, die voreiligen Schlüsse
zu revidieren.
Nach dem zehnten Attentat geht es darum, die Zahl der möglichen Täter
einzuschränken.
Nach dem hundertsten Attentat geht es darum, keine weiteren Attentate
zu dulden.
Nach dem hundertersten Attentat geht es darum, keine voreiligen Schlüsse
zu ziehen.
Woher kamen die Täter?
Wer hat sie hergebracht?
Vor wem sind sie weggerannt?
Wer hat sie losgeschickt?
Wer bezahlt ihre Waffen?
Wer gibt ihnen Anweisungen?
Wer betreut die Hinterbliebenen?
Wer ist dieser Niemand und
wo schlägt sein Herz?
Für wen arbeitet sein Verstand?
Vor dem ersten Attentat bestand die Aufgabe darin, Kämpfer auszubilden.
Vor dem zweiten Attentat bestand die Aufgabe darin, Länder zu erobern.
Vor dem zehnten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Kampf auszuweiten.
Vor dem hundertsten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Bevölkerungen
die Flucht zu ermöglichen.
Vor dem hundertersten Attentat bestand die Aufgabe darin, die Geflohenen
in ihre zerbombten Länder zurückzuschicken.
Vor dem hundertzehnten Attentat erweist sich die Gefahr, die Aufgabe
zu verfehlen, als groß.
Das Mandat
Die Abgeordnete findet kein Wort für die Schlachtopfer.
Die Abgeordnete will keine Schlüsse ziehen.
Die Abgeordnete findet Schlüsse gefährlich.
Die Abgeordnete findet, die Tätergruppe sei in Gefahr.
Die Abgeordnete ist für das Leben zuständig, nicht für den Tod.
Die Abgeordnete ist grün, weil sie will, dass das Meer blau ist.
Das Meer färbt sich rot.
Hommage an mein Idol Siegfried Kracauer mit geschlechtsbedingter Widerrede
Er ist einer meiner Liebsten, ich habe ihn oft verschenkt und noch öfter zitiert. Heute nehme ich ihn wieder zur Hand: den Aufsatz über Freundschaft von Siegfried Kracauer, mein Vorbild für eine Annäherung an amorphe, sich ständig verändernde Begriffe. Seine Methode hilft mir beim Ein- und Umkreisen von Themen, die mir wichtig sind – wie zum Beispiel Freundschaft – im Allgemeinen und für mich im Besonderen.
Die Parole: ›Phantasie an die Macht‹ ist nach einem dialektischen Purzelbaum wieder da! Nur ein Artikel muss ausgetauscht werden: Heute ist die ›Phantasie an der Macht‹. Sie blüht und gedeiht, ob auf Kongressen, in politischen Reden oder den sogenannt ›sozialen‹ Netzwerken. Mit dem Spruch ›Phantasie an die Macht‹ wollten junge Leute vor einem halben Jahrhundert aus der Enge der Nachkriegszeit, aus postfaschistischen oder noch wilhelminischen Regeln ausbrechen.
GLOBKULT Magazin
herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER
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