von Ulrich Schödlbauer
Mediale Massenerregungen, durch immer nachgeschobene Demonstrationsbilder sinnreich stimuliert, gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Insofern läge der Neuheits- oder Informationseffekt der ersten Tage des US-Präsidenten im Amt nahe Null, handelte es sich diesmal nicht um den traditionellen Sitz des Guten in der westlichen Welt, der täglich seine Schockwellen um den Planeten sendet. Die letzte vergleichbare Erregung entzündete sich an Russlands Putin nach dem Abschuss eines Verkehrsflugzeugs über der Ukraine, der bis zur propagandistischen Außerdienststellung den letztlich ungeklärten Untaten der Geschichte zugerechnet werden muss, während die Nachrichtenblätter, wie sie da noch hießen, gleich Bescheid wussten und den Vorfall kräftig orchestrierten.
»Stoppt Putin jetzt!« titelte Der Spiegel damals. Ähnlich klingen die Botschaften heute, nur dass, wie gesagt, die Quelle des Übels – des Bösen, wie sie ungeniert schreiben – diesmal im Weißen Haus sitzt. War es damals inszeniert, so auch heute, jedenfalls gibt es keinen Grund, gerade dieser Annahme allzu kräftig zu misstrauen. Dass der Fürst der Finsternis eines Tages in einer seiner vielen Verkleidungen auch den Thron des Lichts besteigen könne, ist eine Besorgnis, die unter Christenmenschen seit jeher umgeht. Aufrechten Protestanten galt lange Zeit der Papst als der leibhaftige Antichrist, der heutige scheint sich diesen Ruf soeben bei seinen konservativeren Glaubensbrüdern und -schwestern zurückzuerobern. Warum auch nicht? Wer glaubt, religiöse Wahnideen ließen sich auf traditionelle Glaubensgemeinschaften beschränken, der hängt bereits einem Glauben zuviel an – er ist auf dem besten Wege, dem nächsten Wahn eine Gasse zu öffnen.
Zu den elementaren Märchen der nachchristlichen Moderne gehört der Einfall Nietzsches, der alttestamentarische Gott des Judentums sei durch christliche Metaphysik und aufgeklärten Vernunftglauben im Lauf der Geschichte so kraftlos geworden, dass er schließlich nur noch in der Tablettenform von jedem jederzeit einwerfbarer ›Werte‹ kursiere. Derlei Werte, einmal ›europäisch‹, dann wieder ›atlantisch‹ genannt, gelten der heutigen Politikergeneration als unverzichtbares planetarisches Erbe, vergleichbar den architektonischen Quadern von Palmyra und dem leider inzwischen verbauten Dresdner Elbtal, sie garantieren Lebensart, Reichtum und eine bestimmte Sorte gesellschaftsbezogener Hoffnungen, deren Einlösung in einer sich immer weiter hinausschiebenden Zukunft angesiedelt bleibt, während sie hier und heute die Argumentationslücken wohlmeinender Zeitgenossen füllen, die sich dafür von ihren Gegnern als ›Gutmenschen‹ titulieren lassen müssen.
Ein Märchen, ach, denn jeder dieser Werte enthält ein Verbot, etwas großspurig formuliert: ein Tabu, einen durchgestrichenen oder ›gesperrten‹ Gott, der niemals erwähnt werden darf, es sei denn in Verbindung mit jenem Wert. Das Verbot, von Gott anders zu reden als in Begriffen der Vernunft, pflastert die Wege der Aufklärung. Es ist nichts anderes als das Verbot, den ›Ammenmärchen‹ der Christen Glauben zu schenken. Was bleibt da vom Gott der Christen außer der Versicherung, er sei es selbst, nur geläutert und in eine zeitgemäße Fassung gebracht? Wut, könnte man maliziös antworten, die Wut enttäuschter Gläubiger, die sich um ihren Gott gebracht sehen, ohne mit gleicher Münze zurückzahlen zu können, da der Gott der Aufklärer ein Blendwerk darstellt, das den Glaubensverlust überdecken soll und für viele wirklich überdeckt. Das Wüten der Frommen ist ein aufklärerischer Gemeinplatz, der immer dann in Anschlag gebracht wird, wenn ›Werte‹ unters Volk gebracht werden sollen, deren Hauptzweck darin besteht, einen als hinderlich betrachteten Gott beiseitezuschaffen. Warum der Aufwand? Die schlüssigste Erklärung liefert der altmodische Begriff der expropriatio, vulgo ›Ausbeutung‹: Es geht darum, sich die motivierende Kraft des Gottesglaubens anzueignen, um einer sozialen Bewegung, einer neuen Institution, einer als ›historisch‹ empfundenen ›Sache‹ den Sieg zu sichern. An sich ist die naturwissenschaftliche Weltanschauung, wie sie einst Ernst Haeckel entwarf und wie sie heute vorwiegend durch den metaphysizierenden Gebrauch der Vokabel ›Evolution‹ praktiziert wird (»Die Evolution hat...«, »Die Evolution sorgt dafür, dass...«), überflüssig wie ein Kropf. Den realen Wissenschaften fügt sie nichts hinzu, was zu deren gedanklichem Überleben notwendig wäre. Heute wie damals geht es ums soziale: der besiegte, ins Abseits gedrängte Gott muss Ressourcen freigeben, mit deren Hilfe sie in den Köpfen herrscht.
Das alte Europa, als durchgestrichener Glaubensartikel in den Köpfen verankert, befeuert den Glauben als die europäischen Werte, die sich die liebenswürdige Stadt Brüssel zum Regierungssitz erkoren haben. Ist Alteuropa ein Gott? Eine Göttin? Mitnichten – es ist ein durch die Geste des Schlussstrichs erzeugter Dämon, hinter dem der Gott des Christentums hervorblinzelt, der seit dem römischen Kaiser Konstantin alle Wege des Kontinents bis ins Höllenfeuer der Vernichtungsapparate hinein mitgegangen ist – ein wahrer Christos, halb Gott, halb Mensch, nein, ganz Gott, ganz Mensch, ganz Unmensch, falls die Zeugnisse in diesem Punkt stimmen. Kein Wunder also, dass ein vom theologischen Ballast befreites Christentum die europäischen Werte feiert und als unverzichtbar deklariert, kein Wunder auch, dass dieses Mysterium der Auferstehung aus Ruinen seinen Tabernakel nicht in Brüssel, sondern in Berlin stehen hat, kein Wunder schließlich, dass nicht wenige Europäer dem Sommermärchen misstrauen, vor allem solche, die schon länger ökonomisch frösteln oder unter dem Kompetenzsog der europäischen Beschlüsse den deutschen Durchsetzungswillen zu spüren vermeinen.
Hört man den Deutschen zu, so versteht man: Sie sind Kinder, denen der ›böse‹ Trump das Spielzeug wegzunehmen droht. Sie sagen es selbst: Europa muss jetzt erwachsen werden und daran ist Trump schuld. Die bitterböse Anklage wäre geeignet, Heiterkeit hervorzurufen, liefen nicht noch weitere als Kinder verkleidete Europäer herum, bei denen die Scheu vor dem Zahlzwang, den das Erwachsensein mit sich bringt, die Stimmung kippen lässt. Lieber konstatiert man in Europas Scheinhauptstädten Unsicherheit, wo man doch Selbstbestimmung fordern und fördern müsste. Die europäischen Werte sind in Gefahr – warum? Weil sie ›in Wahrheit‹ atlantische sind? Was, wenn es denn wahr wäre, wäre daran so bedrohlich? Oder weil sie den Europäern nichts bedeuten außerhalb der amerikanischen Vorherrschaft, dem Stabilitätsversprechen, das Sicherheit vor dem deutschen Dämon bieten soll? Ist Europas Dämon so deutsch? Wie deutsch ist dieses Europa? Wie sehr ist dieses Europa auf der Flucht vor Deutschland, allen voran, wie stets, dieses Deutschland mit der steten Drohung in der Hinterhand, es könne auch anders?
Heine hat es auf seine Art gesagt: die Wut ist ein Meister aus Deutschland. Einmal mehr sieht man deutsche Schreiberlingsgemüter durchs Stadion der Gesinnungen rasen und die sofortige Entfernung des ›Potentaten‹, des ›Verrückten‹, des ›Trottels‹ von den Hebeln der Weltmacht verlangen. Im Berliner Tagesspiegel verstieg sich einer der ihren dazu, ihn als ›Alien‹ und als ›Zombie‹ zu apostrophieren. Da ist sie wieder, Heines Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, man muss nicht lange fragen, in welchem Lande sich dergleichen als Qualitätsjournalismus drapiert. Fragt man, welchem Gott hier gehuldigt wird, dann gerät man ins Grübeln. Die garantierte, sprich: göttliche Weltordnung kommt ohne irdischen Statthalter nicht aus. Dass die amerikanische Verfassung dergleichen nicht vorsieht, hält einen deutschen Außenminister nicht davon ab, in der Library of Congress eine Messe zu zelebrieren, zu Füßen der allmächtigen Werte, die wohlgefällig und wohl ein wenig gierig die Weihrauchschwaden einsaugen, die ihnen da entgegenwallen. Deutschland sucht den Gesalbten des Herrn, man darf auch sagen, es sucht den Herrn und trägt ihm die Peitsche nach. Welt steh still! möchte man ausrufen, aber das wäre des Guten zuviel und, wer weiß, am Ende öffneten sich die Schleusen des Himmels und regneten Ablass.
Unter den Wahnideen, die Deutschland von Zeit zu Zeit heimsuchen, war die Wilhelminische scheinbar die harmloseste: Deutschland solle endlich den Platz unter den europäischen Nationen einnehmen, der ihm auf Grund seiner Größe, seines Herkommens, seiner wirtschaftlichen und militärischen Kraft zustehe – als sei die Geschichte oder das ›Konzert der Mächte‹ ein Theater, in dem stets ein Platz freigehalten werde, den man ›einnehmen‹ könne. Gerade dieser Wahn des Recht- und Billigseins stürzte Europa in den Abgrund, weil keiner da war, der Platz zu machen gedachte. Man mag das ›übersteigerten Nationalismus‹ nennen und sich mit dieser Schulbuch-Diagnose beruhigt zu Bett legen. Ist die unschuldige Idee, EU-Europa könne und müsse Weltmacht werden, weil es nur auf diese Weise seinen angestammten Platz im Kräftespiel der Großen einzunehmen imstande sei, so sehr davon unterschieden? Lauert hier nicht der Dämon? Im Verein mit den USA die eine Weltordnung garantieren, das heißt den anderen Ländern vorschreiben und den unbotmäßigen einschreiben, falls nötig mit ein wenig Geld- und Waffeneinsatz außerhalb des Geltungsbereichs unseres Grundgesetzes, das war und ist die deutsche Agenda der Merkel-Jahre, der nach und nach die Verbündeten von der Stange gehen, weil … nun, weil die Folgen sichtbar wurden. Das weiß, wer es wissen will, bloß in Berlin sieht und hört man nichts davon, es sei denn, es ist, wie im Falle Ungarns, für den einen oder anderen Bannfluch gut.
Zu den Folgen wird man auch die Selbstüberforderung Amerikas zählen müssen. Der neue Präsident tritt als Sanierer an und vorsorglich übt sich, wer dort bisher über seine Verhältnisse gelebt hat oder wer als Im- oder Exporteur davon profitiert, in Wolfsgeheul. Auf diese Weise wird der Schuldenberg nicht kleiner, das Haushaltsdefizit nicht geringer, die Infrastruktur nicht besser, das staatliche Bildungssystem nicht effizienter und die Arbeitslosigkeit, statistisch gut getarnt, nicht bedeutungsloser. Die andere Überforderung, die der Köpfe, darunter nicht die schlechtesten, tritt in einem bis vor kurzem unvorstellbaren Ausmaß ans Licht. Nicht der Neue ist außer Rand und Band – dazu fehlten ihm bisher Zeit und Gelegenheit –, sondern die selbstgefällige und überhebliche Elite eines Landes, das allzulange gewohnt war, die Verhältnisse auf dem Planeten zu dominieren, oft genug nach dem Motto »Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.« In Ländern, die gerade die Zinsen der one world policy in Form anhaltender, weil nachhaltig internationalisierter Bürgerkriege entrichten, denkt man verständlicherweise anders darüber als in Ländern, die sich Sorgen um ihre überbordende Exportbilanz machen. Seltsamerweise scheint bei letzteren die Sorge vor den Sanierungsfolgen die Sorge vor dem Kollaps des gierig weiterraffenden Systems weitgehend zu verdrängen – jedenfalls bei Leuten, die annehmen, in Amerika würden Milliarden mit Wutausbrüchen und Grimassenschneiden gemacht.
Vieles wäre über jene Elite zu berichten, das Ineinander von Sein und Schein, von Intellekt und Großmannssucht, verbunden mit einer verblasenen Ideenwirtschaft, die den Gesetzen des Marktes folgt und bei ihrer Schnäppchenjagd auf die Produkte einer käuflichen Wissenschaft setzt, über die schier unauflösliche Symbiose von Geld und Werten – diesseits des Atlantik, im Land der Abhängigen schrumpft das Thema schnell auf die üblichen Erscheinungsformen eines hochnäsigen Moralisierens von Leuten ein, die nicht genau wissen, wie lange sie ihr Gehalt noch ausgezahlt bekommen und ob ihre Altersvorsorge stimmt. Sie haben Angst und greifen hektisch nach jedem Strohhalm, der ihnen signalisiert: Wir kommen wieder. Wer da wiederkommen soll und warum, erschließt sich dem Zeitgenossen nicht ganz, schließlich äußert sich hier die Stimme des Fortschritts, eines rückwärts orchestrierten Fortschritts, dessen Vertretern auf immer die Stimme Honeckers im Ohr gellen sollte: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer.« Der einst mit verschobener Glaubensinbrunst geglaubte Fortschritt ist über Nacht selbst zum verborgenen Gott geworden, dessen Wiederkunft im Geschrei erwartet und herbeizitiert wird. Vielleicht lässt sich der Neue drüben ja noch erweichen und gibt den Weltmeister aller Klassen: dann endlich wäre Amerika göttlich und Deutschland, wie vorgesehen, Europa, die Geliebte auf dem Stier, der sie vor seinen rachsüchtigen Gläubigern quer durch die Milchstraße trägt.