Expertenkulturen

An dieser Stelle muß ich nun, wie mir scheint, doch noch einmal einen Schritt zurück gehen, um nicht selber mißverstanden zu werden. »Traditionsbegriffe«, sagte ich, sind selber Teil des zu erforschenden Objektbereichs. Ihre Plastizität, von der ich sprach, hat, wie ich vermute, auch etwas mit dem Widerstand zu tun, den sie einer monothetischen Terminologisierung entgegenbringen. Sie sind traditionsgesättigt und verweisen, ähnlich wie Embleme, auf vieldeutige Text- und Bildzusammenhänge. Wer Formen des Erinnerns, das Leben als theatralisches Rollenspiel oder den Ritualismus des Alltags untersucht, hängt demnach, nimmt man den Begriff der Tradition beim Wort, weiter am Faden des Herkommens und könnte sich als Statthalter jenes kulturellen Gedächtnisses brüsten, das nur den exklusiven Kanon der sog. Großen Tradition anerkennt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die forschungspolitischen Neuorientierungen konterkarieren, wenn ich sie recht verstehe, genau diese Haltung. Und sie tun es – wohlgemerkt – ohne die Traditionsbegriffe fallen zu lassen. Aber sie wiederholen die in diesen wie in eine Kapsel eingeschlossene alte Begriffssemantik nicht in der zwanghaften Weise des Traditionalisten, sie suchen vielmehr die alte Semantik kritisch zu rekonstruieren. »Die Rede von der Theatralisierung unserer heutigen Lebenswelt«, heißt es in dem oben zitierten Schwerpunktprogramm, »zielt [im Unterschied zum barocken Weltmodell des theatrum mundi] auf Prozesse der Inszenierung von Wirklichkeit durch einzelne und gesellschaftliche Gruppen, vor allem auf Prozesse ihrer Selbstinszenierung. Als Teil der Inszenierung gilt dabei nur, was in/mit ihr zur Erscheinung gebracht und von anderen wahrgenommen wird, sowie das Ensemble von Techniken und Praktiken, das eingesetzt wurde, um es zur Erscheinung zu bringen. Damit wird nicht nur die barocke Unterscheidung zwischen Sein und Schein hinfällig, vielmehr wird auch die für unsere [gegenwärtige] Kultur so typische und traditionell als gültig anerkannte Entgegensetzung der positiv besetzten Begriffe Wahrheit, Wirklichkeit, Authentizität mit den negativ besetzten Schein, Simulation, Simulakrum funktionslos.«

Dieses Beispiel einer kritischen Reformulierung ist nicht nur wegen der Einführung so beredter Oppositionspaare wie Schein vs. Sein, positiv vs. negativ, gegenwärtige vs. vergangene Kultur interessant. Es stellt auch mit dem Hinweis auf die dem Scheinbild, dem Simulakrum, geltende mediale Theatralisierung all jene Ideen von Wahrhaftigkeit und Treue in Frage, die im Gedächtnisdiskurs der Tradition eine so große Rolle gespielt haben. Es geht mir an dieser Stelle aber nicht um die Diskussion einer These, sondern, wie schon gesagt, um das Strategische in der Konzeptualisierung des intendierten Perspektivenwechsels. Kurz, die Strategie entspricht einer polarisierenden Distanznahme vom Vergangenen und einer gleichzeitigen semantischen Umbesetzung der traditionellen Schlüsselbegriffe. Nebenbei: Für meinen Geschmack verfallen die Argumente in den Gründungstexten der Neuorientierungen manchmal allzusehr einer prätentiösen Modernitätsrhetorik. Auffallend ist zum Beispiel die häufige Wiederholung der historiographischen Bewegungsmetaphorik von »Kontinuität und Bruch«, die nur noch von der des Oppositionspaares »Moderne vs. Tradition« überboten wird. Ich will mit diesem Einwand die Bedeutung der Gründungstexte der Sonderforschungsbereiche nicht übertreiben und unterschätze auch nicht die taktische Funktion solcher Prospekte. Doch steckt in den zitierten Formulierungen (andere Beispiele ließen sich anschließen) eine – wie ich schon sagte – »forschungspolitische« Symptomatik, die durchaus das Nachdenken über langfristige Entwicklung der Kultur- und Geisteswissenschaften herausfordert.

Die Brüche in der Kontinuität und die Ablösung der Tradition durch die Moderne (so lauten die Formeln) bleiben nicht auf die Merkmalszuschreibungen zu den von den Wissenschaften in den Blick genommenen Objektbereiche beschränkt. Sie gelten vielmehr auch für die Wissenschaften selbst; ihre Einbettung in die soziokulturelle Welt verlangt diese Schlußfolgerung. Und vergegenwärtigt man sich noch einmal die Forderungen, an denen sich die wissenschaftlichen Expertenkulturen heutzutage messen lassen müssen, nämlich an einer Mischung aus Universalismus und Skeptizismus, die jeden normativen Traditionalismus ausschließt, so wird noch einmal deutlich, in welchem Umfang die wissenschaftlichen Versuche der Neuorientierung als Antworten auf eine von traditionsgestützten Wertobligationen sich abkoppelnde Erfahrungswelt zu verstehen sind. Es geht – wie ich hinzufügen muß – nicht um die Behauptung, Traditionen überhaupt seien völlig überflüssig geworden. Natürlich halten wir an vielem fest und nennen es »Tradition«. Aber es ist die Auflösung ihrer normativen Verbindlichkeit für bestimmte Situationen der Lebensführung, die es nahelegt, auch den Begriff der Tradition kritisch in Distanz zu bringen. Ich erspare den Lesern hier einen Überblick über solche Revisionsversuche, wie sie in vielen akademischen Disziplinen – in der Theologie, der Geschichtswissenschaft, der Philosophie und der Kulturanthropologie – vorgelegt worden sind.

Nur eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen, etwas, das ganz unmittelbar den Funktionswandel der Gedächtnis- und Ritualdiskurse sowohl in den Wissenschaften als auch im Alltag der Gegenwart betrifft. Ich spiele an auf die vieldiskutierte These von der »Erfindung« bzw. der »Invention« von Traditionen, eine These, hinter der Einsicht in die Selektivität und Unzuverlässigkeit des Erinnerns steht. Der Begriff der »Invention« ist hier dem der »Erfindung« vorzuziehen, da die Semantik von inventio zwischen Findung und Erfindung changiert und uns auf die Notwendigkeit hinweist, zwischen Gedächtnisgebrauch und Gedächtnismißbrauch zu unterscheiden. Die kritische Überprüfung dieser Differenz ist vor allem dort äußerst dringend, wo das Gedenken bestimmter Ereignisse im Dienst von Erinnerungspolitiken steht und als öffentliches Ritual inszeniert wird. Wenn heute Traditionen über Ritualisierungen, versteht sich unter Beteiligung der Medienindustrie, im öffentlichen Raum sichtbar gemacht werden, so folgt die entsprechende Invention in der Regel dem Gesetz der Vertauschung, dem Gesetz der Permutation. Das selektiv und fragmentarisch überlieferte Vergangene wird, da es unter der Einwirkung gewaltsamer Veränderungen (Aufstände, Kriege, Naturkatastrophen etc.) zerbrochen ist, entweder dem Vergessen überantwortet oder neu zusammengesetzt und häufig zum austauschbaren Element im Kontext von Restauration und gelegentlicher, meist mit wiederkehrenden Jubiläumsdaten zusammenfallender Ritualisierung. Was dann zu sehen ist, gleicht sehr oft einem Trugbild, einem Simulakrum. Die geschichtswissenschaftlichen Handwerker, die Denkmalschützer und Restauratoren, haben in solchen Fällen den status corruptionis weggewischt und eine geschönte Teilreplika erfunden, in der das Gedächtnis der Zerstörung keinen Platz hat – gibt es eine passendere Allegorie für den Abgrund zwischen Gedächtnis und historischer Rekonstruktion?

Wie wir sagen können, daß Traditionen er-funden und Geschichte gemacht wird, so können wir auch davon reden, daß die Erinnerungen etwas auf Kosten des vergessenen Anderen ins Bewußtsein heben. Auch hier ist eine konstruierende Invention am Werk, und das gilt in besonderem Maß für das organisierte Gedenken im öffentlichen Raum. Mit dem Gedenken eines datierbaren Ereignisses am bestimmten Ort wird die Zeitlichkeit des Vergangenen objektiv versinnlicht und es entsteht, was die Geschichtsschreibung als »lieu de mémoire« (Pierre Nora) oder Mnemotop bezeichnet. Das erinnert nicht zufällig an die locus-imago-Methode der klassischen Mnemotechnik, nach der in abgezirkelten Räumen bildhafte, möglichst komplexe Figuren als Stellvertreter für Begriffe oder Lehrsätze verteilt wurden. Dieses Prinzip ist auch dort noch lebendig, wo eine Gemeinde, eine Stadt, ein Staat den öffentlichen Raum mit Denk- und Mahnmälern möbliert, die historische Gründungsdaten – Siege oder Niederlagen, Triumph oder Schuld – symbolisieren. Die Regel ist, daß solchen Mnemotopen die Spur der Gewalt eingeschrieben ist, daß ihre sinnliche Symbolik aber die damit verbundenen Verletzungen und offenen Wunden überdeckt. Erinnerung und Gedächtnis werden durch die Präsenz räumlich verorteter, die sinnliche Wahrnehmung fokussierender Bilder und Monumente daran gehindert, den versinnbildlichten historischen Prozeß narrativ zu entfalten, ihn auf diese Weise zu verzeitlichen und ins historische Gedächtnis aufzuheben.