von Boris Blaha
Lebenserfahren nennt man jemanden, der viel herumgekommen ist, viel erlebt hat, zahlreiche unterschiedliche Länder, Menschen, Sitten und Gewohnheiten kennengelernt, ja sie buchstäblich erfahren hat. Dagegen wird man Menschen, die nie aus ihrem kleinen Dorf herausgekommen sind und solchen, die das geistige Milieu ihres Konfirmationsstuhlkreises ihr Lebtag nicht verlassen haben, einen eher beschränkten Horizont attestieren. Erfahren kann nur werden, wer sich Gefahren aussetzen kann, wobei hier als Gefahr nicht nur eine existenzielle Lebensgefahr gemeint ist, sondern jegliche Konstellation, in der man nicht sicher vorhersehen kann, was sich als Nächstes ereignen wird. Für dieses Fehlen von Gewissheit gibt es im Deutschen den schönen Begriff ›unheimlich‹. Unheimlich kann schon der dichte Wald sein, in dem das flaue Gefühl der Orientierungslosigkeit auftaucht, was in aller Regel das berüchtigte ›Pfeifen im Walde‹ hervorruft. Wer noch genügend Fantasie hat, mag sich vorstellen, wie es wohl gewesen sein muss, als sich Gefährten auf unsicheren Schiffen das erste Mal aufs offene Meer hinauswagten und außer Wasser rings herum nichts anderes mehr zu sehen war. Im Unterschied zu heute galt früheren Zeiten die Fähigkeit, ungewisse, gar gefährliche Begegnungen, zumal mit Fremdem, in friedliche und angstreduzierte Bahnen zu lenken, ungleich mehr.
von Wolfgang Schütze
Die Auseinandersetzungen um die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) als Thüringer Ministerpräsident letztlich dank eines Taschenspielertricks der AfD haben nicht nur in der Politik, sondern auch in Medien zu einem Überbietungswettbewerb geführt. Mit wenigen Ausnahmen wie der Neuen Zürcher Zeitung galt: Je weiter Publikationen von Thüringen entfernt waren, umso schriller, hysterischer die Reaktionen. Von Tabu- und Kulturbruch, gar Zivilisationsbruch war die Rede. Manche sahen sogar schon die Machtübernahme durch ›Faschisten‹ im Thüringer Wald unmittelbar bevorstehen. Es schien, als wollte niemand der letzte sein in der Brandmarkung der Thüringer Verhältnisse.
In das Bashing Thüringens und Thüringer Akteure reihte sich bemerkenswerterweise auch die Thüringer Allgemeine ein, eine in Erfurt herausgegebene Regionalzeitung. Ob aus freien Stücken oder einem medialem Zentralismus folgend – analog der Einmischungs- und Durchgriffsversuche von Parteizentralen – steht dahin. Bis vor wenigen Jahren war es bei den Thüringer Zeitungen der Funke Mediengruppe (ehemals WAZ-Gruppe) Usus, dass mindestens die Kommentare zu Land und Leuten selbst geschrieben wurden.
von Lutz Götze
Die Welt von heute scheint immer mehr Zeitgenossen unüberschaubar. Von Nachrichten und Informationen überflutet, ziehen sie sich zurück, resignieren oder reagieren panisch: Globalisierung der Handelsströme, weltweiter Klimawandel, Migration rund um den Erdball – dies alles auf einmal stürzt auf den Menschen ein und überfordert viele; häusliche Sorgen um Kinder, Krankheiten, etwaige Trennungen und Geld kommen hinzu. Psychologische Beratungsdienste, Seelsorger und Mediatoren haben alle Hände voll zu tun.
Da hilft es auch nichts, wenn Statistiker feststellen, die Deutschen lebten in einer der wenigen Demokratien, in denen es üblich ist, Konflikte im Gespräch zu lösen, solidarisch zu handeln, Kompromisse zu schließen und Toleranz gegenüber Mitmenschen zu üben: die Grundpfeiler jedes demokratischen Gemeinwesens. Dabei stimmt es: Mehr als neunzig Prozent aller Staaten dieser Erde sind autoritär oder diktatorisch verfasst, weniger als zehn Prozent dürfen sich (noch) Demokratien nennen, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Es müsste also hierzulande alles weit besser gelingen im Zusammenleben der Menschen als anderswo.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G