von Boyko Vassilev
Ende der Geschichte. So formulierte Francis Fukuyama die Idee, dass nach 1989 die liberale Demokratie keine Alternative hat. Sprechen wir doch über ein anderes Ende: Ende des Lebens. Dеnn der Westen soll keine andere Angst haben, als den Tod selbst.
von Lutz Götze
Brasilien bietet im März 2015 ein Bild des Zerfalls, das in vollkommenen Widerspruch zur strahlenden Sonne über den Traumstränden in und um Rio de Janeiro steht: Die Wirtschaft stagniert, der Real – Brasiliens Währung- befindet sich im freien Fall gegenüber dem Dollar, die Kreditwürdigkeit des Landes nähert sich in rasendem Tempo dem Ramschniveau, immer mehr Menschen können die steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr bezahlen und verschulden sich, Gewalt und Raubüberfälle auf den Straßen ebenso wie die dramatische Umweltverschmutzung wachsen weiter an und, als vielleicht größtes der Übel, hat die Korruption im Lande gigantische Ausmaße angenommen: Der Fall des staatlichen Energiekonzerns Petrobras ist lediglich die Spitze des Eisbergs.
Fast schon ein Nebenkriegsschauplatz angesichts dieser Entwicklungen ist die Tatsache, dass sich staatliche Schulen und Universitäten in einem beklagenswert schlechten Zustand befinden, weil, wie es das Regierungsprogramm noch unter Altpräsident Lula da Silva vorsah, auf Masse statt auf Qualität gesetzt wird. Dazu werden Zahlen und Statistiken der Examensnoten und Absolventenquoten geschönt. Wer es sich leisten kann, schickt deshalb seine Kinder auf außerordentlich teure Privatschulen – darunter die Deutsche Schule zu Füßen der Christus-Figur - oder gleich in die Vereinigten Staaten oder nach Europa.
Die Medien werden vom Fernsehkonzern Globo beherrscht und liefern rund um die Uhr Seichtes in Telenovelas, Talk-Shows oder Werbung. Schauspieler, die bei Globo unter Vertrag stehen, müssen eine Erklärung unterzeichnen, die sie verpflichtet, sich jeglicher kritischen politischen Äußerung zu enthalten. Wer sich dem nicht beugt, wird gekündigt und findet keine Arbeit, denn Globo ist konkurrenzlos.
Das Land, an Fläche so groß wie Europa und von der Natur verschwenderisch ausgestattet –üppige Vegetation, Wasser, Energieressourcen, Bodenschätze und kostbare Steine – erlebt derzeit einen schier unaufhaltsamen Niedergang und gleicht darin den anderen BRICS- Staaten: Russland, Indien, China und Südafrika. Einstmals angetreten, zur sogenannten Ersten Welt – den kapitalistischen Großmächten – ökonomisch aufzuschließen und diese das Fürchten zu lehren, brechen ihre Wachstumszahlen ein und werden die sozialen und ökologischen Probleme deutlich. Die Ursachen sind hinlänglich bekannt: Korruption und Vetternwirtschaft allenthalben, gigantische Umweltzerstörungen, Aufrüstung von Armee und Polizei, Preisdumping im Export und Währungsverfall, gewaltige Verteuerung des täglichen Lebens-zumal im Immobilien-und Mietbereich, geringe Zukunftschancen der Jugend,die zu wachsender Kriminalität führen, Ausschaltung von Regierungsgegnern, eine dramatisch wachsende Zensur der Medien und Steigerung nationalistischer Tendenzen.
In Brasilien haben ehemalige Hoffnungsträger wie der ehemalige Gewerkschafter und Präsident Lula ihre Amtszeit vor allem genutzt, um sich schamlos zu bereichern. Heute gehört er zu den Reichsten des Landes.
Die aufstrebenden BRICS- Staaten, ehemals ein Modell für die Zukunft des Erdballs, erweisen sich heute als dessen Sargnagel. Prognosen selbsternannter Wirtschaftsexperten haben sich als Luftschlösser erwiesen, Ansätze demokratischer Entwicklungen sind zunichte gemacht und haben einer Diktatur das Feld geräumt. Die Menschen, selbst an Rios Traumstränden Copacabana, Ipanema und Leblon, haben resigniert und reagieren apathisch, wenn sie auf ihre Zukunft angesprochen werden. Weite Teile der Jugend sind arbeitslos, andere flüchten in Tanzorgien und Drogen. Erschreckend ist die große Zahl dicker Menschen: Folge der falschen Ernährung und mangelnder Bewegung. Das Fach Sport ist in den meisten Schulen des Landes abgeschafft. Begründung: langweilig, nicht›cool‹.
Doch am 15. März, Sonntagmittag, zeigen Rios Bewohner, wie überall im Lande, Flagge: Zehntausende demonstrieren auf der Avenida Atlantica gegen Korruption, Inflation, Unfähigkeit, Durchstechereien und für ein demokratisches Brasilien: Lota (Kampf), Fora Dilma (Weg mit Dilma!), Nao a corrupcao (Nein zur Korruption!) oder einfach nur drastisch Saco cheio (Schnauze voll!) steht auf den Transparenten. Friedlich und, trotz allem, voller Lebenslust ziehen landesweit über eine Million Menschen in den Landesfarben grün und gelb über die Straßen. Sie wollen einen Regimewechsel, und zwar sofort. Wenige in der Menge verlangen einen Putsch des Militärs; sie werden an den Rand gedrängt. Der Protest ist friedlich, begleitet von Samba-und Bossanovaklängen. Schließlich sind wir in Brasilien!
Ob es nützt? Die Regierung sitzt fest im Sattel, die mächtige Gewerkschaft PUT stützt sie , Millionen Brasilianer werden finanziell gefördert und leben daher deutlich besser als früher: eine anfangs sinnvolle Sozialpolitik zeigt Früchte, hat jedoch inzwischen zu Verzerrungen der Art geführt, dass häufig die Sozialhilfe höher ist als der Arbeitslohn. Das motiviert nicht zur Arbeitsplatzsuche. Obendrein ist die Opposition zerstritten. Die stärkste Partei darunter, die PSDB, will kein Amtsenthebungsverfahren Dilma Rousseffs, die anderen Parteien schon. Es wird, so vermuten Skeptiker, alles beim alten bleiben. Die Regierung schlägt einen „ Dialog aller Kräfte“ vor und setzt auf Zeitgewinn. So geschah es vor einem Jahr, nach den gewaltsamen Protesten gegen die erhebliche Verteuerung der öffentlichen Verkehrsmittel, doch nichts änderte sich. Warum sollte es 2015 anders sein? Die Staatschefin beschwört am Abend in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehansprache Brasiliens einstige Größe, die nur wiedererlangt werden könne, wenn jetzt alle Bürgerinnen und Bürger zusammenstünden. Mehr fällt ihr zu katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Lage des Landes nicht ein.
Bereits am Tag danach, am 16. März, herrscht wieder Ruhe im Land. Rio de Janeiro kehrt zur Normalität zurück: Favelas oben an den Hängen, darunter die Viertel der Reichen, ganz unten die
Der Flug nach Fortaleza dauert drei Stunden. Die Hauptstadt des Bundesstaates Ceara platzt aus allen Nähten: Lula da Silva hat während seiner Amtszeit dem Nordosten, seiner Heimat, erhebliche Mittel zukommen lassen; vieles davon landete freilich in seinen eigenen Taschen. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Einwohnerzahl nahezu verdoppelt und beträgt, offiziellen Angaben zufolge, derzeit 2.5 Millionen. Hochhäuserfluchten bestimmen das Stadtzentrum; aus früherer Zeit ist, bis auf das Theatro José de Alencar und wenige Privathäuser, nichts übrig geblieben. Der Fortschritt à la Brazil mit schicken Boutiquen und Restaurants marschiert unaufhaltsam. Seine Schattenseiten freilich sind, zwei Kilometer entfernt, mit Händen zu greifen: Favelas, Unweltverschmutzung, gigantische Müllhalden, bröckelnde Häuserfassaden und Löcher in Straßen und Gehsteigen.
Passend dazu, gleicht das Verhalten der Autofahrer der Raserei der Formel Eins. Fußgänger sind Freiwild. Leider geschieht das obendrein auf Pisten, die allenfalls Langsamverkehr dulden, um der Vielzahl großer und kleiner Schlaglöcher auszuweichen. Entsprechend hoch ist die Zahl der Verkehrsunfälle, häufig mit tödlichem Ausgang. Die offizielle Bilanz behauptet das Gegenteil, freilich dürfte sie, wie alle Statistiken im Lande, mehr Dichtung als Wahrheit sein.
Die Stadt hat enorme Probleme mit dem organisierten Drogenhandel und gilt als brasilianisches Zentrum der Päderastie. Beidem hat die engagierte Bürgermeisterin den Kampf angesagt. Bisherige Bilanz: geringer Erfolg.
Doch die wirkliche Enttäuschung steht erst noch bevor: Die vielgerühmten und unendlich langen Sandstrände an Brasiliens Atlantikküste – von uns über Jahrzehnte erkundet und bewundert – entpuppen sich als einzige Kloake. Abfall und Dreck des Meeres – Folge gesetzwidrigen Abklappens der Supertanker und Fangschiffe – werden an das Ufer gespült und vermischen sich dort mit dem Zivilisationsmüll: Plastik, Bauschutt, Metallteile, ungereinigte Kanalabsonderungen und manches mehr. Da Einheimische und Besitzer von Privathäusern am Strand nur, im wörtlichen Sinne, vor ihrer eigenen Tür kehren und also den Dreck lediglich einige Meter weiterschieben, bleibt allerorten ein unansehnlicher und, bedingt durch die Hitze, stinkender Müll, der den Marsch zum Bade im Ozean zur Qual werden lässt und obendrein die Gefahr birgt, auf im Sand verborgene Glas-oder Metallsplitter zu treten. Leider geschieht genau dies: Die Folge sind eine Entzündung und Schmerzen im Fuß. Paradiesische Strände? Vergangenheit! Gelegentlich , in Luxusclubs, gibt es sie noch. Ansonsten grassiert der Verfall.
Man könnte natürlich etwas dagegen tun, vor allem durch Umwelterziehung. Doch ein solches allgemeines Unterrichtsfach gibt es in Brasilien nicht. Bescheidene Ansätze sind von fortschrittswütigen Präsidenten wie Collar de Melho verhindert worden; der Umweltaktivist Chico Mendes wurde ermordet. Der Umgang mit dem Computer, mit Laptops und anderen Neuerungen war in den Schulen wichtiger als der Schutz der Natur. Von Bildung ist landauf landab nichts zu spüren: Kenntnisse der Geographie und Geschichte des eigenen oder anderer Länder sind Mangelware, von Literatur oder den Künsten insgesamt schweigt des Sängers Höflichkeit. Damit sinkt auch das Interesse daran. Nur ein Beispiel: An einem Freitag, zu angemessener Stunde am frühen Abend und bei freiem Eintritt, bietet eine brasilianische Musikgruppe Jazz mit Volksliedklängen im Vorhof des Alencar- Thaters. Vor dem Haus tummeln sich Tausende auf einem mäßig interessanten Markt, auf der Rückseite des Theaters gibt es eine Musik-und Schauspielschule für junge angehende Künstler, die freilich stundenlang mit ihren Telefonen hantieren und Computerspiele herunterladen. Das Konzert interessiert sie mitnichten, die Menschen auf der Straßen entscheiden ebenso. So sitzen den fünf engagierten und beeindruckenden Musikern zehn Zuhörer gegenüber, davon sechs Ausländer. Die Organisatorin, von deutscher Abstammung, gesteht ein, sie kämpfe seit Jahren gegen Desinteresse und Lethargie der Bürger an, mit bescheidenem Erfolg. Im Lande des uneingeschränkten Technik-und Erfolgswahns sei eben wenig Platz für die Künste, für Innehalten und Nachdenken noch weniger. Sao Paulo und Rio seien Ausnahmen.
Der Norden Brasiliens stellt sich von daher als ein Modell aller BRICS- Staaten dar. Generell betrachtet, ist er ein Modell für die Welt im Ganzen:
- Bildung wird auf kurzfristige Ausbildung und Einfügen in eine maschinendominierte Produktion verkürzt. Solidität und Disziplin als Grundlage von Qualität genießen Seltenheitswert; Oberflächlichkeit und Konzenztrationsverlust als Folge massiven Medienkonsums nehmen stattdessen zu. Wachsende Unhöflichkeit und schlechte Manieren, zumal bei Tisch, sind Folgeerscheinungen der „Selfie-Generation“.
- Wichtiger noch: Gesellschaftliche Grundwerte werden auf ihren technischen und finanziellen Nutzen reduziert, nationale und internationale Konzerne beuten hemmungslos Natur und Umwelt aus. Dabei haben jetzt und in Zukunft in Brasilien Fracking und Ausbau der Atomenergie Vorrang. Hinzukommt, in allen BRICS-Staaten, mit Russland und China als Vorreiter, ein Anstieg nationalistischen Denkens samt immenser Aufrüstung, die Annexionen – Beispiel: Krim – und Kriege: Beispiel: Ukraine – zur Folge haben.
- Eine grassierende Bürokratisierung des öffentlichen Lebens auf der einen Seite sowie die Überwachung und Bespitzelung der Menschen durch den Obrigkeitsstaat – ein Leviathan des 21. Jahrhunderts – bestimmen die Gesellschaft.
- Die Korruption hat in den fünf Ländern – in China und Brasilien möglicherweise am stärksten – alle Sphären des privaten und öffentlichen Lebens erfasst und determiniert sie. Wer sich zur Wehr setzt, wird marginalisiert oder beseitigt.
Warum spielen die fünf Staaten in diesem Prozess eine besondere Rolle? Weil sie nicht mehr dem Kreis der über Jahrhunderte hinweg von fremden Eroberern und eigenen Potentaten hemmungslos ausgebeuteten Ländern angehören, sondern danach streben, binnen kurzem zu den ökonomisch und finanziell führenden westlichen Industriestaaten aufzuschließen. Dazu sind ihnen im Grunde alle Mittel recht, zumal die Zerstörung der Grundlagen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Überlebens. Das Janusköpfige des Fortschrittsgedankens, wie es vor Jahrzehnten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer analysiert haben, wird evident. Vor allem gilt: Die Erkenntnis, dass die Entwicklung neuer Technologien einen gesellschaftlichen Aufklärungs- und Demokratisierungsprozess voraussetzt, der unter Umständen Jahrhunderte benötigt, wird negiert und als westliche Demagogie diskriminiert. Entsprechend sind alle fünf Staaten Zentren gesellschaftlicher Unterdrückung, in denen Kritiker und Intellektuelle verfolgt und ermordet werden. Sand im Getriebe stört bekanntlich die Mächtigen.
Was von den entwickelten Zivilisationsstaaten Europas und Nordamerikas bislang übernommen oder – vor allem im Falle Chinas - plagiiert wurde, waren technische Neuerungen, die auf eine völlig unvorbereitete Gesellschaft trafen, die dadurch häufig in ihren traditionellen Grundlagen erschüttert wurde. Gesellschaftliches Mittelalter und Technologien des 21. Jahrhunderts begegneten einander und entfalteten eine erhebliche Sprengkraft. Die Folgen sind bereits genannt: Spaltung der Gesellschaft, militantes Agieren vermeintlich religiöser Gruppen, Nationalismus, Kriege.
Ein Zurückdrehen dieser Entwicklung scheint unmöglich, es sei denn, es gäbe eine globale Bewegung, die diese ökonomistische Tendenz radikal in Frage stellte: ATTAC und OCCUPY waren hoffnungsvolle Ansätze, doch sie endeten in Resignation oder Gewalt. Anderes ist derzeit nicht zu erkennen.
von Kay Schweigmann-Greve
Arno Klönne war ein kritischer Intellektueller, der aus der Jugendbewegung kam und sich viele Jahrzehnte lang bis zuletzt politisch engagierte. Seine Arbeit als Sozial- und Politikwissenschaftler war nie losgelöst von den je aktuellen gesellschaftlichen Konflikten, ein wesentlicher Teil seiner Arbeit richtete sich gegen die restaurativen Tendenzen der alten Bundesrepublik und aktuell den Rechtsradikalismus.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G