von Boyko Vassilev

Ende der Geschichte. So formulierte Francis Fukuyama die Idee, dass nach 1989 die liberale Demokratie keine Alternative hat. Sprechen wir doch über ein anderes Ende: Ende des Lebens. Dеnn der Westen soll keine andere Angst haben, als den Tod selbst.

Eigentlich löst der Tod, wie kein anderer, ohnehin alle Probleme. Das ist kein Scherz; etwas Tieferes wird hier befragt. Wie man mit dem Tod umgeht, ist wichtig – und auch nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es ist eine entscheidende Frage der Kultur; die Alternative, die Fukuyama vermisste.

Der Islamische Staat (IS) bietet den Tod direkt an. Durch öffentliche Enthauptung und organisierte Kamikaze-Aktionen scheuen sich seine Anhänger nicht davor, anderen Leben zu nehmen, und haben keine Angst, das eigene zu geben. Tod fließt aus allen Quellen, wie ein schwarzer Karneval des Schocks und Schreckens. Was ist das? Man sagt, Propaganda und Missbrauch des Mediendschungels – und mit Recht. Die Vielfalt der Bilder bietet dem medialen Mord immer eine Chance zur Veröffentlichung. Wenn Tod in den Medien angeboten wird, wird er auch gekauft. Aber, ist das die einzige Erklärung? Sind die Jihadis nur erfolgreiche PR-Experten der dunklen Kunst? Nein. Der IS hat etwas aufgespürt, das zum Herzen der westlichen Gesellschaft gehört.

Der Westen (die etablierten liberalen Demokratien) hat mit dem Tod ein Problem. Der Zweite Weltkrieg ist für die Facebook Crowd so weit in der Geschichte entfernt wie Julius Caesar. Weg sind auch die Barrikaden und die großen Mythen der zwei entgegengesetzten politischen Lager: die Mehrheit glaubt weder an den Klassenkampf der Linken, noch an das himmlische Jerusalem der Bürgerlichen. Sogar der Papst spricht gegen die Ideologien. Man kann nicht heldenhaft für eine Idee sterben. Das ist nicht möglich – und wenn machbar, nicht politisch korrekt. Märtyrer zu sein spielt in der heutigen Politik keine Rolle. In unserem täglichen Leben kommt es selten vor und deshalb macht man daraus Kino-Action oder Mediensensation.

Stattdessen leben wir in der Zeit der Maximierung des Vergnügens, des ewigen Heute und des blitzschnellen Konsums. Die Zeit wird durch das immer neuere Smartphone gemessen, wobei die Industrie der künstlichen Verlängerung der Jugend gigantische Profite schafft. Dazu zählen nicht nur Haarverpflanzung, Silikon und Botox. Ich habe mit Pulitzer-Preis Gewinner Jonathan Weiner gesprochen; in seinem Buch Long for this World behauptet er, dass wir mehr als 500 Jahre leben können: das sei ein realistisches Ziel.

Tod ist bei uns im ständigen Rückzug. Die Beseitigung der Todesstrafe zählt zum Stolz des gegenwärtigen Westens; mit dem Aufmarsch des westlichen Werte (Vermögen und Demokratie) wird der gesetzlich verordnete Tod seltener und weniger akzeptabel – zuerst in Westeuropa, dann in Osteuropa, jetzt sogar in den USA. Das gilt auch für Selbstmord. Depressionen zu heilen ist auch eine Industrie geworden, die Millionen einnimmt. Zur Armee zu gehen wird immer unpopulärer. Im Westen ist sie freiwillig und bezahlt: aber es gibt nicht viele Jugendliche, die sich als Soldaten bewerben. Die EU gibt weniger für das Militär aus; man findet kaum Kandidaten für den heroischen Tod und konzentriert sich auf smarte Ausrüstung, Drohnen und Allianzen.

Der Tod wird immer mehr nach hinten gerückt, als ob er überhaupt nicht existiere. Wie Voldemort in Harry Potter, man darf ihn sogar nicht benennen. In unserer Welt erscheint der Tod als Überraschung, Zwischenfall, Tragödie.

Vor 100 Jahren war dies noch anders, als es noch keine Massenurbanisierung gab. Damals hatte die übliche Bauernfamilie 10-15 Kinder – und häufig starb die Hälfte. (Meine Urgroßmutter gebar 14 Kinder, 7 blieben am Leben). Man kannte den Tod von Kindheit an und konnte leichter mit ihm umgehen. Das ist in anderen Teilen der Welt auch heute weiterhin der Fall. Im postindustrialisierten Westen dagegen hat man nicht viele Verwandte; einen zu verlieren ist schon eine Katastrophe.

Hier liegt der schwache Punkt. Die Feinde des Westens wissen das und sehen darin ihre Chance. »Wir sind stärker als ihr«, sagt der IS, »weil wir bereit sind, zu töten und zu sterben«. Historisch gesehen sind die Islamisten damit nicht die einzigen. Che Guevara und die Rote Armee Fraktion konnten der Wohlstandsgesellschaft dieselbe Herausforderung ins Gesicht werfen, ebenso wie japanische Kamikaze-Piloten und der SS Todeskult im zweiten Weltkrieg. Viva la Muerte, waren die Worte der spanischen Faschisten, die den Philosophen Unamuno so geärgert haben. Töten und sich opfern: Liberale Demokratie braucht das nicht. Aber es gibt immer genug sinnsuchende, verzweifelte, radikale, schwache, idealistische, gläubige junge Leute, die irgendeiner Flagge in irgendeine Schlacht folgen wollen.

Ist der Fanatische wirklich stärker als wir – die zivilisierten, toleranten, satten Demokraten? Was könnte eine lebenschätzende Zivilisation unternehmen – und zwar gegen Menschen, die mit ungeheurer Leichtigkeit ihr Leben lassen, ganz zu schweigen vom Leben der anderen? Diese Frage stellen wir uns seit dem 11. September und haben bisher noch keine gute Antwort gefunden.

»Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen?« Der berühmte Zoologe, Humanist und Religionsfeind Richard Dawkins war ganz erstaunt, als ich ihn fragte, ob der Jihadi mit seiner Bereitschaft zum Sterben stärker sei. »Er ist zum Sterben bereit, weil er denkt, er komme ins Paradies. Aber das wird er nicht. Religion kann Leute stärker machen, aber in diesem Falle ist Stärke keine Tugend. Zweifel ist eine Tugend. Durch Suchen, folgt der Zweifel zum tieferen Wissen. Keine Zweifel zu haben, sicher ohne Beweis zu sein – das ist eine schlechte Sünde. Bei den Jihadis findet sie ihre grausamste Form.«

Ein anderer Brite, der Soziologe Michael Featherstone, war von der Frage weniger überrascht. Er gab zu, es gebe auch in der Geschichte Augenblicke, wo Konsum und Lust einen Zivilisationsuntergang bestimmen. Featherstone machte sich lustig über die Industrie der Lebensverlängerung, die er in Kalifornien gesehen hatte: »Sie wollen 500 Jahre leben. Und warum?« Die Idee eines ewigen Lebens in dieser Welt hielt der Soziologe für absolut falsch. Nicht ewig wäre auch die Übermacht des Todes: »Im Vergleich zu dem Jihadi sieht der Westen schwächer aus. Doch gibt es auch Kraft in den Dialogen, in Ideen ohne Grenzen und Druck. Der Religionsimpuls dauert ein Jahrzehnt, vielleicht zwei, drei. In zwei-drei Generationen verliert die Energie am Gewicht.«

Bevor dieser Augenblick kommt, muss der Westen einen Weg finden, den IS zu besiegen. Man versucht es mit Geld, Technologie und Sicherheit, d.h. Intelligenz, Drohnen und Grenzkontrollen. Ist das ausreichend gegen die Ideologie des Todes? Bis jetzt gar nicht. Vielleicht braucht man Ideologie gegen Ideologie, Feuer gegen Feuer.

Ein solches Beispiel habe ich im irakischen Kurdistan gesehen, an der Front zum IS. Die Kurden, die am erfolgreichsten gegen die Jihadis kämpfen, haben auch einen Todesmythos entwickelt. Sie nennen ihre Armee Peshmerga – ›die dem Tod ins Auge Sehenden‹. Gegen die religiöse Idee des IS ziehen die Kurden ihre nationale Idee auf: auch ein Grund zum Sterben. Das ist das Feuer, das anderes Feuer stoppen kann. Tod versus Tod – dann ist der Kampf gleich.

Das kann aber der postmoderne Westen nicht übernehmen. Nation, wie Religion, hat er im 20. Jahrhundert gelassen. Braucht er aber immer Alliierte wie die Kurden für die Kriege der Zukunft? Und was wird geschehen, wenn die todbereiten Extremisten auf europäischem Boden sind, wo keine Mauer steht? Auf den Tod haben wir immer noch keine Antwort. Die Konservativen sagen, man bräuchte die Werte zurück, die Linken, der Lebensstandard solle erhöht werden. Die Liberalen wollen mehr Freiheit, die Nationalpopulisten mehr Mauer.

Ich würde sagen, man kann und soll nicht viel ändern. Die größte Stärke des Westens ist auch seine größte Schwäche. Er hat sich so enorm bemüht, den Tod soweit abzubauen, dass ein Wiederherstellen unmöglich erscheint. Aber Tod ist eine Metapher für den Sinn des Lebens. Und diesen Sinn dürfen wir nicht verlieren.

Ein Beispiel: die Kurzfristigkeit der Politik. Links und Rechts debattieren über Kleinigkeiten – und deshalb werden sie kleiner, langweiliger, elitärer, entfernen sich immer weiter von den Massen und nähern sich dem bürokratischen Quasi-Konsens an; leichte Beute für links- und rechtsradikale Populisten. Man braucht die großen Fragen im Zentrum der Politik: das Überleben, die Natur, die Zukunft, Krieg und Frieden, das Schicksal der Welt.

Wenn die großen Fragen nicht angesprochen werden, bleibt uns nur der Kampf mit dem Reiz des Todes. Ein Kampf, den noch niemand gewonnen hat.

 

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