von Werner Stanglmaier

Vor kurzem wurde ich gefragt, ob ich einige Eindrücke von der ›Front‹ (meine Arbeit in einem Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Berlin) formulieren könnte.

Ja, gern.

Zuletzt habe ich in der Sendung Menschen bei Maischberger den Satz gehört:
›Die Flüchtlinge haben alles hinter sich gelassen.‹
Was ist: Alles?
Die Zukunft, die ich mir aufzubauen versuchte?
Die Familie, die Freunde, der /die Geliebte?
Die Werte, nach denen ich immer gelebt habe? Die Regeln meiner Religion, die ich immer eingehalten habe?
Das Schöne, auf das ich mich freute?
Der nächste Feiertag?
Alles, was das Leben lebenswert machte?

Krieg, eine kollabierende Gesellschaft.
Allein sein, allein sein – fern von den Menschen, die ich kenne, die nicht mit mir flüchten können.

Fassbomben, Unterricht nur, wenn es einen Tag Entwarnung gab, ermordete Freunde, von Bomben getötete Familienmitglieder, zerstörte Städte. Und der Ring um Aleppo wurde immer enger.

Was wäre mit mir gewesen, wenn ich gezwungen gewesen wäre, alles hinter mir zu lassen.
Erste Frage, erstes Gefühl bei unserer Arbeit:
Was sind das für Menschen, die ›alles‹ hinter sich lassen müssen? Was wäre aus mir geworden, in einer solchen Situation?
Alles. Alles?
Wie kommen sie an?

Nun gut, also einige Eindrücke von der Front- keine Kampfberichterstattung, mehr ein Bericht von der Arbeitsfront, von der Konfrontation mit den eigenen Lebenseinstellungen, von der Kampffront mit der Bürokratie, von der Auseinandersetzung mit dem Fremden, von der Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Integration‹.

Worum geht es?

Ende August fragte mich eine alte Freundin, ob ich nicht Lust hätte, mich in dem um die Ecke gelegenen Erstaufnahmelager zu engagieren. Natürlich hatte ich Lust, ich wunderte mich nur, dass ich von dem ›Lager‹ (die Geflüchteten nennen es ›Heim‹) noch nichts gehört hatte. Das ist jetzt fast drei Monate her.

Über kleine Umwege fanden sich mehrere ehemals oder immer noch engagierte Freunde, eine ganze Reihe von Azubis (zukünftige – fast nur weibliche – Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte). Kontakte zu zehn bis dreizehn Flüchtlingen waren schnell hergestellt, fast alle kommen aus Afghanistan. Einige von Ihnen sind bereits zuvor von dort in den Iran geflüchtet und wurden dort ausgebildet.
Ihr Alter: zwischen 18 und 25 Jahren, bis auf eine Frau nur Männer.
Ihre Berufe: Vom Schäfer bis zum Produktionsleiter einer Fabrik aus Masar i Sharif.
Ausbildung: Keine! Mehrere Analphabeten. Einige sprechen mehr oder weniger gut englisch. Zwei von ihnen sind verheiratet, haben je ein Kind. Frauen und Kinder tauchten in den vergangenen 3 Monaten aber nie bei unseren Treffen auf.

Einzelne waren vier bis fünf Monate unterwegs, andere nur drei bis vier Wochen. Manche sind traumatisiert und heute regelmäßig zu Gast in einer psychiatrischen Tagesklinik, andere – auch die Analphabeten – sprechen schon ein wenig deutsch, und wiederum andere, obwohl hoch qualifiziert, sprechen kein Wort deutsch. Jeder trägt sein Päckchen mit sich herum, und spricht nicht darüber (außer in intimen Privatgesprächen).

Was wir vorfanden?

Nun, für mich persönlich nichts Ungewöhnliches, geradezu ideal gemäß dem alten Sponti-Spruch: High sein, frei sein, ein wenig Chaos muss dabei sein. Eine Aufgabe!
Das Chaos: Innerhalb von drei Tagen mussten Ende August die Unterkünfte im ehemaligen Rathaus für fünfhundert Menschen als Erstaufnahmelager ausgerüstet werden – was dem Arbeitersamariterbund (ASB) und einer Vielzahl an freiwilligen Helfern auch notdürftig gelang.
Verwaltung / Büroausrüstung: Kaum vorhanden.
Verantwortlichkeiten: Anfangs meist informell, selbst die zuständige Senatsstelle konnte keinen Verantwortlichen nennen.
Also Chaos – aber Chaos bietet auch immer Chancen und Möglichkeiten.

Freiwillige für den Deutschunterricht waren schnell gefunden, der Unterricht fand auf dem Boden sitzend statt.
Fünfhundert Menschen, meist Männer, einzelne Familien in einem ringförmigen, ehemaligen Verwaltungsgebäude mit großem Innenhof, niemand kannte seine neuen Nachbarn, jeder mit seinem persönlichen Schicksal, mehrere Menschen in einem Zimmer, kaum Privatsphäre, in einer fremden, riesigen Stadt. Kein Geld. Ankommen – ohne Orientierung, ohne Freunde, Misstrauen. ›Auf der Flucht kannst du niemandem trauen. Du musst überleben.‹ Ohne zu wissen, wo du lebst, wie du leben wirst, was morgen auf dich zukommt, ob du bleiben kannst oder nicht.
»Vor der Flucht sind die Erwartungen an die Zukunft nicht konkret. Und sie bleiben auch nach der Flucht variabel. Sowieso wird die Ankunft als Rettung empfunden. Rettung ist ein müdes Wort. Aber alles daran ist besser als das Leben zu Hause mit den Fassbomben in den Straßen.« (Herta Müller, aus der Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln)

Probleme, Fazit / Ergebnis nach drei Monaten:

Unser Motiv in den ersten Tagen: Die Leute müssen raus aus dem Heim, rein ins Leben dieser Stadt Berlin. Traumatisierungen können nicht im engen Zusammenleben mit fünfhundert Menschen mit ähnlichem Schicksal überwunden werden.
Orientierungen jeder Art, Kenntnisse jeder Art – erste Notwendigkeiten.

Soziale Kontakte zuerst mit uns, dann mit anderen, waren das erste Ziel.

Deshalb versuchten wir zuerst, Patenschaften zu organisieren – was gut gelang, aber oftmals vom Leben, von den Hormonen der um die 20-jährigen Männlein und Weiblein, Sympathien etc. überholt wurde. Ursache war nicht zuletzt, dass wir uns nach den wöchentlichen offiziellen Treffen im ›Heim‹ anschließend in meiner Privatwohnung trafen. Beziehungen entwickelten sich – und damit auch Beziehungsprobleme vielfältiger Art.

Denn: Es kamen Menschen aus einem anderen Kulturkreis, mit den Erfahrungen einer meist monatelangen Flucht.

Erfahrungen aller Flüchtlinge weltweit: Du bist rechtlos und unwägbaren Gefahren ausgesetzt.

Diebstahl, körperliche Gewalt, Behördenwillkür, Vergewaltigungen sind nach den Gesprächen im ›Heim‹ auch unseren Schützlingen nicht mehr fremd. Warum wird eigentlich in unseren Medien nicht darüber berichtet?

Falsche Angaben werden von uns als Lügen begriffen, ohne Papiere in Deutschland anzukommen soll auch bei uns ein Ausweisungsgrund werden. Ohne Papiere zu reisen wird aber von vielen Flüchtlingen als überlebensnotwendig begriffen. Und: Papiere von Flüchtlingen aus Syrien haben einen hohen Wert auf dem Markt der Transitländer.

Mir war das nicht fremd. In einem Flüchtlingslager in Malawi mit fünfhundert Männern und hundert Frauen auf dem Weg in die Republik Südafrika erlebte ich niemanden, der seine Papiere nicht weggeworfen hatte. Papiere ermöglichen es den Behörden oftmals, die Menschen wieder in ihr Heimatland zurück zu schicken.

Ähnliche Verhaltensweisen erlebte ich jetzt wieder.
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, Ethnie ist oftmals nicht nur an den vielen Grenzen ein Selektionsgrund.

Gewalt auf der Reise – eine alltägliche Erfahrung von Flüchtlingen, besonders von Frauen.

Frauen aus unserem Erstaufnahmelager berichtete, dass sie von ihren Eltern getrennt wurden um danach einfacher vergewaltigt werden zu können. Nora (Name von der Red. geändert), 18 Jahre, gebildet, aus Aleppo, geschah dies in dramatischer Weise: Das Auto, mit dem sie gemeinsam mit den Eltern die Grenze zwischen Syrien und der Türkei passieren wollte, wurde angegriffen. Ihre Eltern starben. Sie wurde von den Angreifern mehrmals vergewaltigt und dann laufengelassen. Kein Einzelschicksal.

Ausgeraubt zu werden – ein alltägliches Schicksal auf der Flucht durch Irak, Syrien, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien…

Viele Flüchtlinge besaßen bei ihrer Ankunft nur noch die Kleider, die sie am Leib trugen. Geld, Papiere, gute Schuhe, Smartphone blieben in den Transitländern.

Erfahrungen von alltäglicher Gewalt, Orientierungslosigkeit, Ungewissheiten aller Art, ein ungewisses Schicksal in einem neuen Leben in Deutschland – sofern man es erreicht.

Erste Erfahrungen mit fremder Kultur

Eine Betreuerin schlug ›unseren‹ Jungs vor: ›Na, dann lass uns doch mal im nahe gelegenen Park picknicken!‹ Sie zögerten: Mit jungen, gut aussehenden Frauen sich in der Öffentlichkeit, im Park zeigen? Noch dazu mit einer Dolmetscherin, die eine emanzipierte und kluge Frau aus Persien ist?

›Wo kommst Du her? Warum bist du aus Deiner Heimat abgehauen?! Wie ist es dir auf der Flucht so ergegangen?‹ Solche Fragen erzeugten oft Zögern – begründet mit sprachlichen Schwierigkeiten, trotz Dolmetscherin.

Heute, nach drei Monaten Zusammenarbeit, werden diese Fragen beantwortet – ob Wahrheit oder Phantasie ausgedrückt wird, interessiert uns nicht mehr, denn wir verlangten sehr viel: Vertrauen. Woher sollten sie es nehmen, nach einer Zeit, in der Vertrauen böse enden kann?

Speziell bei allein reisenden Männern: Schwierigkeit Frauen gegenüber Schwächen zuzugeben, besonders dann, wenn man sie attraktiv findet. Gefühle von Schwäche, Verzweiflung gegenüber Frauen zeigen – welcher deutsche Mann kann das schon?

Unsere Lösung: gemeinsam feiern, die ›Jungs‹ Musik machen lassen, die letzten Hits aus Syrien auf Youtube anschauen. Und tanzen. Manchmal ein Bier. Begeisterung, wenn ein alter Bock wie ich sich im HipHop versucht.

Schwerpunkt nach den ersten Wochen: Entwicklung individueller Perspektiven als Voraussetzung für Integration

Integration ist nur möglich, wenn wir selbstbewusst unsere Werte vertreten. Dies bedeutet nicht, andere Werte nicht zu respektieren.

Ein Beispiel: Während eines unserer Treffen wurde über religiöse Toleranz diskutiert, der Koran lag auf dem Tisch – daneben eine Flasche Wein. Unsere geflüchteten Freunde reagierten unübersehbar düpiert. Aber sie verlangten nicht, dass der Koran entfernt werden sollte, sie wollten den Wein ja trinken und über den Koran diskutieren. Eine Freundin bezeichnete unser Verhalten jedoch als respektlos und entfernte den Koran, woraufhin sich eine wirklich interessante Diskussion mit allen Anwesenden ergab.

Individuelle Perspektiven zu entwickeln erfordert zunächst Kenntnisse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Zufluchtsorts. Erst danach kommt die Frage, welche Möglichkeiten der schulischen oder betrieblichen Ausbildung es für Flüchtlinge mit unsicherem Aufenthaltsstatus gibt.

Unsere Erfahrung: Viele Flüchtlinge besitzen eine überraschend gute Ausbildung; überraschendes starkes Engagement von deutschen Schulbehörden, Universitäten und Betrieben.

Trotz vieler Mängel hat sich bereits Einiges verändert:

  • Sprachkurse zu finden, ist heute eigentlich kein Problem mehr. Aber fast alle kostenlosen Sprachkurse sind nur für Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea vorgesehen. Afghanistan gilt als ›sicheres Herkunftsland‹ und daher gibt es auch keine kostenlosen Sprachkurse für Afghanen. Dennoch existieren auch für diese Flüchtlinge legale Möglichkeiten, deutsch zu lernen. Nur: Wer bezahlt das?
  • Das ›Heim‹ hat jetzt eine unter den gegebenen Bedingungen gut funktionierende Struktur – würde aber ohne ehrenamtliche Helfer immer noch nicht funktionieren.
  • Von dem Dutzend Flüchtlingen aus unserer Gruppe wurden drei in Institutionen (Willkommensklassen an Oberstufenzentren, Integrationskurs an der VHS und ab Januar: Vorbereitungskurs für Berlin-Kolleg) untergebracht, die ihnen den Einstieg in eine schulische Ausbildung zum Abitur ermöglicht.
  • Mehrere Analphabeten lernen jetzt Lesen und Schreiben.
  • Traumatisierungen werden durch Psychologen professionell behandelt.
  • Die Flüchtlinge haben bereits gut funktionierende Strukturen in ihrem tagtäglichen Leben aufgebaut.
  • Es gibt kaum Flüchtlinge, die nicht möglichst schnell ihre berufliche Ausbildung (wieder) aufnehmen wollen.

Weiterhin existierende Probleme:

  • Das individuelle Schicksal der Flüchtlinge bleibt weiterhin ungewiss, da sie nach drei Monaten aus den Erstaufnahmelagern in andere Unterkünfte geschickt werden.
  • Die Situation im Lager verschlechtert sind: Statt fünfhundert Menschen leben im Januar eintausendzweihundert Flüchtlinge eng zusammen.
  • Trotz aller Hilfe: Keiner kennt seine Zukunft – sie bleibt vage und macht Angst.
  • Und um es nicht zu verschweigen: die Perspektive ›soziale Hängematte‹.
  • Es kommen Menschen zu uns – unterschiedliche Menschen. Manche spekulieren auf die soziale Hängematte, manche können und wollen sich nicht an Regeln (z.B. im Erstaufnahmelager) halten, manchen erscheinen die deutschen Frauen als ... (beliebig und nicht falsch zu ergänzen). Und manche Helfer gehen aus falsch verstandener Toleranz nicht offensiv mit diesen Problemen um.
  • Und: Auch wir bräuchten eigentlich eine Supervision.

Unsere Arbeit als Unterstützer ist zu sehr von individueller Hilfe geprägt – was psychisch und zeitlich sehr aufwändig ist. Aber: Unsere Unterstützergruppe muss vergrößert werden – und dabei gibt es Schwierigkeiten, denn Skepsis macht sich nach der ersten Euphorie breit, ablehnende Haltungen werden neuerdings formuliert.
Ein Beispiel für diese Haltung: Ein geschätzter Bekannter lehnte die Bitte, eine Patenschaft für Flüchtlinge zu übernehmen, mit den Worten ab: ›...Ich wäre befangen mit Leuten zu arbeiten, deren sozial-kulturell-religiösen Hintergrund ich nicht kenne. Allein ein Mann, der ohne Emanzipation sozialisiert wurde, würde mich als Vater zweier Töchter hindern, Hilfen anzubieten, die später für den Rückschritt unserer Gesellschaft dienen könnten.‹

Sollen wir also Integration generell ablehnen?

Hierzu einige Thesen:

Unsere Gesellschaft hat keine andere Wahl, als die in den nächsten Jahren eintreffenden Menschen zu integrieren. Diese Völkerwanderung kann nicht verhindert werden – gesteuert kann und muss sie werden.

Aber stimmt meine Meinung auch?

Die grundlegende Ursache für die neue Völkerwanderung ist demografischer Natur. Die Gesellschaften der Herkunftsländer unserer Flüchtlinge hatten bis vor 20 Jahren eine Fertilitätsrate von meist über sechs bis acht Kindern pro Frau. Das sind die Menschen, die heute bei uns ankommen. Aber wie sieht die weitere Entwicklung aus, was kommt auf uns zu?

      Anzahl der Kinder pro Frau 2015:

 

    • Syrien – 2,9
    • Iran – 1,9
    • Ägypten – 2,7
    • Irak – 2,9
    • Tunesien – 1,8
    • Afghanistan – 4,3

(Quelle: UN World Population Prospect, 2015 October)

Grund: Alphabetisierung und Bildung der Frauen in diesen Ländern (Courbage, Youssef; Todd, Emmanuel; Heinemann, Enrico (Übers.): Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern, München 2008)
Die vor zwanzig Jahren geborenen, heute alphabetisierten und gebildeten Kinder, jedes mit dem smartphone in der Tasche, sind die Flüchtlinge von heute. Und wir werden damit noch dreißig bis vierzig Jahre zu tun haben. Erst ab dann macht sich die dramatisch gesunkene Geburtenrate in den uns umgebenden Ländern bemerkbar.

Um Europa herum gibt es einen Ring von Krisenländern, von Libyen, über Ägypten, Mali, Mauretanien bis hin zum Irak und Iran.

An vielen dieser Konflikte sind die USA und teilweise Europa ursächlich beteiligt, oft die alleinige Ursache wie z.B. im Irak.

Die aktuell beschlossenen Versuche, hierauf Einfluss zu nehmen (wie z.B. die Erhöhung der Entwicklungshilfe für Eritrea und den Sudan), sind aus Panik resultierender Schwachsinn. Europa hat einfach geschlafen, sich in eine imaginäre Vorstellung eingemummelt, dass die Globalisierung des 21. Jahrhunderts nur ein ökonomisches Phänomen sei, dem man aus der sozial abgefederten Hängematte zuschauen könne.

Da weder die demografisch verursachte Völkerwanderung beendet werden kann noch die Konfliktherde in absehbarer Zeit befriedet werden können, müssen wir uns der daraus resultierenden Völkerwanderung stellen. Weder Schengen noch Mauern werden dies verhindern.
Es gibt also keine Alternative zur Integration. Dies ist eine Aufgabe für die Zuwanderer, aber auch für die eigene Bevölkerung. Das 21. Jahrhundert stellt uns vor andere Aufgaben als das 20. Jahrhundert. In einigen Jahrzehnten wird Deutschland nicht mehr das Deutschland der Jahrtausendwende sein. Je eher wir das erkennen, desto erfolgreicher werden wir sein. Da können wir uns auf den Kopf stellen und mit den Füßen Fliegen fangen – es wird nichts helfen.

Was heißt das konkret für unsere Gruppe von Helfern?

Wir mussten unser anfänglich überschwängliches Engagement in ein langfristiges Konzept einbetten. Nachdem in den ersten Monaten einige grundlegende Perspektiven für unsere Flüchtlinge entwickelt und umgesetzt wurden (Deutschkurse verstetigt, Ausbildungsperspektiven vermittelt, soziale Integration in Freundeskreisen begonnen, etc.), werden wir die Schwerpunkte unserer Arbeit auf die folgenden Aspekte legen:

  • Gegenseitiges Kennenlernen und Teilnahme an deutscher Gesellschaft und Kultur.
  • Konkret heißt das: Feiern der Feste des Anderen, Vermittlung von sozialer Umgebung (Sportvereine, andere Menschen aus unserem Bekanntenkreis)
  • Sprachlich und inhaltlich vorbereitete Stadtrundfahrten in Berlin
  • Sprachlich und inhaltlich vorbereitete Ausflüge ins Berliner Umland und darüber hinaus
  • Konfrontative Begleitung unserer Freunde bei Konflikten mit der deutschen Lebensweise, mit der Geschlechterproblematik, mit Resignation, mit der Perspektive ›Hängematte‹ und Hartz IV
  • Vergrößerung der Gruppe der von uns betreuten Flüchtlingen
  • Einbeziehung der ›alten‹ Flüchtlinge in die Betreuung der Ankommenden

Zuletzt:

Keine Dauerbetreuung – Dauerbetreuung will keiner unserer Flüchtlinge – sie wollen etwas tun, sie wollen sich bilden, wollen arbeiten – und erfolgreich sein. Diese Perspektive umzusetzen ist die beste Integration. Deutsch lernt man nicht allein in Kursen. Die besten Lernerfolge werden im Arbeitsleben, in der Ausbildung und in sozialen Beziehungen erzielt.

Zum Schluss noch ein optimistisches Zitat, das mich sehr geprägt hat, wiederum von Herta Müller: Bisher gab es das Heimweh nach Zukunft, doch nach der Ankunft sitzt einem die Zukunft auf der Haut. Zukunft klingt wie Zuflucht, aber das täuscht. Denn Zukunft ist abstrakt und Zuflucht konkret. Zuflucht ist unter den Fußsohlen ein wirklicher Ort. Aber Zukunft eine unwirkliche Zeit, die sich selbst nicht kennt. Die Gegenwart hört ja nie auf, die Vergangenheit schleppt man mit sich. Wer weiß, vielleicht fängt die Zukunft an, wenn die erste Ruhe nach der Flucht eintritt.

Also: Lasst uns die Zukunft unserer Gesellschaft zusammen gestalten, wir werden alle sehr viel davon profitieren!

 

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