von Justus C. Justus

 

Ich bin Linkshänder. Linkshänder gelten als besonders intelligent. Ich kann das bestätigen.

 

VWL war gestern. Wer künftig mitreden will, studiert VdL, um zu wissen, wie man’s nicht macht.

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Hiermit gebe ich offiziell meinen Umzug in den Yagir bekannt. Ich habe schon einige Jahre dort gelebt, aber es war mir nicht bewusst. Ich habe begriffen.

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»Aber der Yagir ist Fiktion!« Das sagen mir meine engsten Freunde und wischen sich nervös die Stirn, als wollte ich ihnen auskommen. Meine Antwort lautet: »Sicher. Wir alle sind Bürger zweier Welten. Manche wissen es, manche wissen es nicht. Ehrlich gesagt, die meisten, selbst protestantisch Gebildete, haben nicht die geringste Ahnung, in welcher Welt sie sich aufhalten. Unbildung ist das Tor zur Hölle.«

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Man hat mir geraten, nach Ungarn umzuziehen. Ungarn ist zum Dissidenten-Traumland geworden. Ein Jahr am Balaton und die Berichtigung der Begriffe, wie Sprachanalytiker sie immer gefordert haben, ist vollbracht. Warum nicht ich? Der Grund ist verhältnismäßig einfach: Ich will für den Rest meiner Tage die Welt nicht von der anderen Seite anschauen. Ich weiß, im Großen und Ganzen jedenfalls, wie die andere Seite der Welt tickt. Dazu muss ich nicht verreisen (auch wenn ich gern verreise). Schon gar nicht umziehen.

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Wohin sind all die Globkult-Autoren vergangener Jahre gegangen? In den Yagir natürlich. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie dort noch heute. Einer nach dem anderen sind sie gegangen, ich habe die Prozession beobachtet, mir kann man nichts vormachen. Einige schreiben noch, aber selten und eigentlich … eigentlich wider Willen. Sie können nicht anders, so wie ich, von dem ich gesichert weiß, dass er im Gestern lebt, während das Heute auf mich einströmt wie Gas aus einer undichten Verbrennungsanlage, von der man nicht weiß, was hineinkommt und was aus ihr austritt.

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Wer heute schreibt, wird beschimpft. Ich bin immer beschimpft worden, mich interessieren die Reaktionen.

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Die neue Volkskrankheit: Depression. Im Yagir, habe ich mir sagen lassen, beträgt der Anteil der Depressiven an der Gesamtbevölkerung 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent leben munter und in Freuden, denn sie wissen nichts von ihrer Depression. Das ist kein Wunder, vor allem, wenn sie nicht einmal wissen, dass sie im Yagir leben. Wüssten sie es, dann stiege der Anteil der Depressiven explosionsartig an, denn sie wüssten: Wir sind die Mehrheit.

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Yagir, das ist: Verkehrte Welt. So kann man es sehen, so sehen es viele, manche nennen ihn das Lügenuniversum, einige mit dem Zusatz: das einzig wahre.

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Ich schrieb, dass ich immer beschimpft wurde. Ich lese Zustimmung in den Gesichtern, die diesen Satz lesen. Niemanden interessieren die Gründe, die dazu führten. Warum auch? Es sind Gründe, armselige, nichtssagende, nachgeschobene Gründe. Man wollte mich fertigmachen und ich habe mich gewehrt. Das allein zählt. Warum wollte man mich fertigmachen? Heute kann ich es schreiben, denn ich weiß, dass ich im Yagir lebe, also in Sicherheit. Ich habe einmal das Wort ›Volk‹ gebraucht – ich würde es nicht wieder tun, nun, da ich das Volk kennengelernt habe –, ich habe es nicht nur gebraucht, sondern in einem positiven Umfeld verwendet. Es schien mir sinnvoll, dass ein Volk, selbst dieses, in Einheit leben kann. Dafür wurde ich gejagt. Dafür jagt man mich, unter wechselnden Vorwänden, immer noch, auch wenn es die Einheit längst gibt. Diese Menschen sind unerbittlich, sie lassen keinen Feind aus den Fingern. Es handelt sich um ganz bestimmte Leute, das ist wahr, aber irgendwann sind diese bestimmten Leute die bestimmenden geworden, jedenfalls dort, wo man vom Yagir nichts weiß.

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Wer nicht weiß, dass er in einer Fiktion lebt, was weiß der überhaupt? Nicht viel, nahezu nichts, er könnte als Produkt neuerer Schulbildung durchgehen, aber es betrifft auch die Alten.

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Auf einen Hals kann man nicht schreiben.

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Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, eine Geschichte aus dem Yagir, eine der ersten, sie geht mir immer noch nach. Es war einmal – auch im Yagir beginnen die richtigen Märchen mit Es war einmal – ein feuriger Mann, der beschloss, eine feurige Frau zu sein, nicht aus freien Stücken oder weil ihn nach einem Kleiderwechsel gelüstete, sondern weil die Natur es ihm antrug. Die Menschen in seiner Umgebung behandelten den nicht unvertrauten Fall mit der gebotenen Delikatesse, jedenfalls ihr akademischer Teil, auch wenn mancher insgeheim den Kopf schüttelte, nicht aus Abwehr, sondern aus Verwunderung, weil die Verwandlung so gar nichts verwandelte und man in jener längst vergangenen Zeit noch nichts von Diversität wusste. Im heutigen Yagir sind auch diese Dinge geklärt und jedermann weiß, dass Verwunderung leicht den Kopf kosten kann, zumindest den Job.

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Ich stelle fest, dass die Geschichte schon jetzt in ein falsches Fahrwasser geraten ist und überspringe deshalb einige Details. Es ist schwierig, im richtigen Fahrwasser zu bleiben, wenn man weiß, dass der Feind mit allen Wassern gewaschen ist und einen nicht aus den Augen verliert. Die Menschen hecheln einander durch, das ist nichts Besonderes, das ergibt die lehrreichsten Geschichten, aber nicht, wenn sie durch Ideologie abgebremst werden, und Ideologie ist nun einmal das Rückgrat des Yagir, jedenfalls habe ich mir das so sagen lassen. Du willst eine einfache Geschichte erzählen und rennst aus einem Tabu in das nächste. Ein Mann, eine Frau, das wirft Fragen auf, neugierige Fragen, ein Mann, der durch den Spiegel diffundiert, um als Frau wieder aufzutauchen, daraus wird leicht ein Fall für den Staatsanwalt. Sagen wir so: Es ist beeindruckend, wenn Menschen ihre natürlichen Rechte geltend machen, das Beeindruckendste überhaupt – aber ist es auch beeindruckend, wenn sie dieselben Rechte anschließend unter dem Tisch an die Nächstbesten verscherbeln? Sicher, doch auf eine andere Weise.

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Im Yagir – ich überspringe wieder – tragen die Nächstbesten einen illustren, wenngleich etwas angegraut klingenden Namen. Man nennt sie dort Funktionäre. Funktionäre, was ist das, werden Sie fragen. Waren das nicht diese steifen Bürokraten, die einst den Ostblock regierten? Aber natürlich! Schlagen Sie sich ruhig an die Stirn, Sie sind auf dem richtigen Gleis. Sie sind im Thema! Bitte fallen Sie bei dem Tempo, das ich hier vorlege, nicht heraus. Unsere Frau – sie ist nicht unsere, aber die Erzählung hat sie dazu gemacht – weiß jetzt zwar, dass sie eine Frau ist, aber sie weiß nicht viel darüber, in welche Abhängigkeiten sie sich damit begeben hat, zumindest mental, aber was heißt das schon. Ich sage nur: Selbstzweifel. Im Yagir lebt davon eine Industrie. Doch nicht die Selbstzweifel sind das gröbste Problem. Das gröbste Problem ist wie immer die grobe Umwelt. Und gegen die grobe Umwelt hilft nur eins: geistige Aufrüstung.

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Wo immer Funktionäre am Werk sind, wird aufgerüstet. Funktionäre leben von Feindschaften, manche sagen: wie Maden im Speck, aber das rückt den Speck in ein seltsames Licht, das nicht jeder mag. Das Thema geht über jede Mann/Frau-Problematik weit hinaus, bis in die tundrischen Weiten der einstigen Sowjetunion, aber eigentlich erzähle ich hier eine Parabel aus der Funktionärswelt des Yagir und die geschlechtsbetonte Version ist nur der Honig, der Sie anlocken sollte.

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Wissen Sie, die Menschen haben ein Innen- und ein Außenleben, was aber die meisten nicht wissen, ist die schlichte Tatsache, dass meist das eine ein Abbild des anderen ist. Was innen in mir passiert, das projiziere ich, der Ausdrucksnot gehorchend, nach außen. Empfinde ich Hass, dann darf ich mich darauf verlassen, dass er über kurz oder lang sein Objekt finden wird, natürlich in der äußeren Welt, wo denn sonst? Natürlich findet auch das Umgekehrte statt und aus dem schönsten Hass, der mir entgegen schreit, wird glühender Selbsthass. Das gleiche gilt für den Selbstzweifel und andere Segnungen der Zivilisation. Es gilt auch für die Identität. Man nennt das Alltagspsychologie.

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Was soll ich sagen? Ich habe diese Frau geliebt. Das ging eine Weile gut, dann ging es nicht mehr gut, dann… aber alles der Reihe nach. Man erlebt keine zweite Geburt, ohne dass einen der Missionsdrang befiele. Das Wunder, das einem selbst widerfuhr, will man dem Rest der Menschheit nicht vorenthalten. Alles andere wäre ja, sagen wir, Verrat. Wenn ein Mann zur Frau wird, warum nicht ein zweiter und dritter, vor allem, wenn man sich ohnehin nahesteht? Davon steht zwar nichts im Gesetz, aber hier handelt es sich um das Gesetz des Herzens. Um es kurz zu machen: Die Frau, die mir nahestand, wurde die fleischgewordene Aufforderung an mich, ebenfalls mein Geschlecht zu wechseln. Ich kann es verstehen: Als lesbisches Paar hätten wir beide gemeinsam unseren männlichen Ursprung vergessen können. Vielleicht auch nicht vergessen, sondern lieben und verstehen, woraus sich noch ganz andere Konstellationen hätten bilden können. Doch meine Psyche versagte. Unfähig sich zu wandeln und das Tor zum Paradies ein paar Zentimeter weit aufzuschieben, geriet sie in jenen Zustand des Haderns, aus dem der beste Beziehungsstress entsteht.

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Heute, ein Greis, blicke ich mit Bitternis auf das, was danach geschah. Aus der Frau, die ein Mann war, wurde ein Geschöpf, pardon, eine -in, weich wie Wachs, ansonsten unbestimmten Geschlechts, in den Händen der Funktionäre, die ihr das Verhältnis zur Welt diktierten. Daran ist nichts Besonderes, schon gar nicht im Yagir, wo man Tür an Tür mit den Funktionären wohnt und oft genug keinen Schimmer von ihrer wahren Tätigkeit hat, geschweige denn von ihren Geldquellen. Wie auch immer letztere beschaffen sein mögen, Tatsache ist: Sie leben von ihrer Klientel. Sie leben nicht schlecht von ihr, kein Wunder also, dass sie, wie wahre Hütehunde, ihre Schäfchen zusammenzuhalten versuchen. Seit man im Yagir begriffen hat, dass Geschlecht und Identität spaltbare Materialien sind, die sich in immer neue Konstellationen bringen lassen, ist die Anzahl der Funktionäre explosionsartig gestiegen. Sie haben den Seelsorgern traditioneller Couleur (die diese Quelle seit alters plünderten) nicht nur die Kundschaft abgejagt, sondern sie zu ihren eigenen Klienten gemacht – ein strategisches Geniestück ersten Ranges, würdig eines Hannibal oder Napoleon, wenn man mich fragt (was niemand macht).

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Nun also: die Bitternis. Ich habe eine Feindin fürs Leben gewonnen. Ich weiß, sie belauert jeden meiner Schritte, sie belauert jeden meiner Freunde, sie lässt keine Gelegenheit aus, mir und den Meinen zu schaden, das alles nur, um ein wohlgefälliges Leben unter der permanenten Aufsicht ihrer Funktionärskaste zu führen. Ich weiß, das gibt ihr ein Gefühl der Stärke und Sicherheit, das ihr gegönnt sei, obwohl mir die Küchenpsychologie flüstert, dass sich dahinter Schwäche und Unsicherheit perpetuieren, vielleicht sogar die ewige Angst aller vom Urteil anderer Abhängigen, die Angst, das Wohlwollen gerade derjenigen zu verlieren, deren Existenz die Stabilität der eigenen garantiert. Mit wem immer ich im Yagir darüber reden möchte, er zeigt die landestypische Reaktion: Schweigen und Wegschauen. Das bietet den Vorteil, dass jeder, der an dieser Stelle den Mund aufmacht, sich als Funktionär zu erkennen gibt. Wie ich schon sagte: Sie haben hier ein Funktionärsproblem und müssen es über kurz oder lang lösen, ansonsten lade ich jeden ein, es mir gleichzutun – treten Sie ein und genießen Sie die Welt der Fiktionen.

 

Globkult Magazin

GLOBKULT Magazin
herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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