von Ulrich Siebgeber

Der Bote ist die Botschaft. Das bestätigt sich gerade aufs Neue angesichts des drastischen Vertrauensentzugs, den der Verein Deutsche Umwelthilfe (DUW) durch die herrschende Politik erfährt, nachdem die ersten Fahrverbote in deutschen Innenstädten erlassen und weitere in Sicht sind. Dabei darf daran erinnert werden, dass auch die Deutsche Umwelthilfe vor Gericht nur erstreiten kann, was vorher in EU-Amtsstuben ausgebrütet, vom EU-Parlament für gut befunden und vom Deutschen Bundestag, von Ländern und Kommunen in geltendes Recht und entsprechende Verordnungen umgesetzt wurde. Nun, da es fühlbar wird und sich in Wählervoten umzusetzen droht, ist der Bösewicht rasch gefunden, der das ihm vom Gesetzgeber eingeräumte Recht wahrnimmt, geltendes Recht einzuklagen: ein absurder Vorgang, der den Stand politischer Dissoziation im Staat derer, die schon länger hier sind, plastisch illustriert.

Ein bereits früher bewährter Sündenbock soll dem ›Sonderbewusstsein der Ostdeutschen‹ auf die Sprünge einer an den Urnen scheiternden Politik helfen: auf die Treuhandgesellschaft, aufs Heftigste kritisiert von der sächsischen Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping in einem Buch mit dem suggestiven Titel Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, ist bekanntlich Verlass, sobald sich das berühmte Sonderbewusstsein der östlichen Landesteile einmal wieder regt. Zu Köppings Thesen hat Richard Schröder in Globkult das Nötige gesagt. Nicht thematisiert hat er den Widerspruch, den eine hochfahrende Politik erfahren muss, die alte Wunden aufreißt, um neue zuzupflastern. Wer lesen kann, dem verrät es schon der Titel, der Volkes Meinung halbiert, um munter von anderem reden zu können: Bevor ihr andere integrieren wollt, integriert doch erst mal uns! Soll heißen: Wenn ihr glaubt, das Integrieren mache sich so leicht, dann fragt doch erst, was uns geschah.

Nun umfasste das schöne Wort vom ›Aufbau Ost‹ nicht nur die Integration von Personen. Betroffen waren Industriestandorte, Verwaltungsstandorte, Institutionen und dringend sanierungs- und funktionsbedürftige Gebäude der öffentlichen Hand. In der von Gunter Weißgerber zusammen mit Rainer Fornahl und Manfred Kolbe herausgegebenen kleinen Dokumentation Selbstbewusst. Die Rettung der Leipziger Geodäsie und weitere Meilensteine finden sich Schmuckstücke der besonderen Art wie die Antwort des Bundesjustizministeriums vom 28. Juli 1998 auf Fragen des Abgeordneten Gunter Weißgerber zum »physischen Zustand der Bestände der ehemaligen Reichsgerichtsbibliothek« in Leipzig: »… 240 Inkunabeln, ca. 4000 Bände aus den Jahren 1501 bis 1700 und 300 Handschriften: Hiervon sind gut 10% (474 Bände) geschädigt; 330 Bände mit überwiegend mechanischen Schäden und Insektenfraß (leichte bis mittlere Beschädigungen), 65 Bände mit Wasserschäden (Schimmel) oder mechanischen Schäden in Kombination mit Insektenfraß (starke Schädigungen), 57 Bände mit Wasserschäden (Schimmel) und mechanischen Schäden (starke Gefährdung), 22 Bände sind absolut vordringlich zu restaurieren. Hier besteht höchste Gefährdung… Der physische Zustand der Bände des 1800 (sic!) Jahrhunderts (etwa 5700 Bände) ist im Verhältnis zu den unter I. genannten Beständen als schlechter anzusehen, sowohl im Hinblick auf die mechanischen Schäden als auch hinsichtlich der Wasserschäden (Schimmel)…« (S.75) Undsoweiterundsoweiter. »Na und«, wird mancher Nichtbetroffene fragen, »was soll’s? Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Schimmel noch Wurmfraß auf.«

Was so nicht zutrifft, wenn man sich den damaligen Zustand der Bestände im Allgemeinen und speziell des Gebäudebestandes in Erinnerung ruft, die der Sozialismus seinen Sanierern hinterließ. Welche ›Insekten‹ am Selbstbewusstsein seiner Bewohner gefressen haben mochten – um diese Frage entwickelt sich derzeit in der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen und anderswo ein Kampf um die Deutungshoheit, der zwar noch nicht entschieden ist, aber für die Zukunft Anleitungen zum ›Nachdenken‹ verheißt. Das ›Klima der Angst‹ bewohnt noch immer die alten Gebäude, es zieht jedoch, folgt man den Wahrnehmungshinweisen geübter Deutungsathleten, aus der bekannten Vergangenheit in die jüngste um, wo es insgesamt wärmer und behaglicher zugeht und daher jede Verfehlung in Wort und Blick doppelt zählt.

»Kanther grillt Ost-Kartographie« – so punktete das Neue Deutschland am 22. Oktober 1998 im Kampf um den Erhalt von Standorten, die allzu oft – aus den verschiedensten Gründen – nicht zu halten waren. Die Darstellung des zähen und mühsamen Ringens um die ›Ost-Kartographie‹, soll heißen der Leipziger Außenstelle des, verglichen mit anderen Behörden, eher kleinen Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie liest sich auch deshalb so aufschlussreich, weil sie zeigt, dass im Einigungsprozess gerade dort, wo der Westen mit harten Bandagen kämpfte, kluger Widerstand zum Erfolg führen konnte. Weißgerber, neben dem CDU-Abgeordneten Manfred Kolbe einer der politischen Hauptakteure im Interesse Leipzigs, erklärte öffentlich, »Da werden Sauereien konstruiert«, als er erfuhr, dass Kanthers Ministerium mit frisierten Gutachten zugunsten des Standorts Frankfurt operierte. Zum Besteck gehörten Tricksereien im Bundestag ebenso wie die unverhohlene Aufforderung des BMI an einen Unternehmer, für ein im Falle eines Umzugs der Frankfurter Hauptbehörde in Leipzig anzuschaffendes Gebäude einen weit überhöhten Kaufpreis zu nennen. Die Aufdeckung solcher Praktiken, wie überhaupt das energische Dagegenhalten, gehört überall zum politischen Geschäft. Wer sich ihm entzieht und stattdessen ressentimentfördernde Kollektivmärchen verbreitet, hat seine Aufgabe nicht verstanden oder ist gewillt, im Trüben zu fischen. Das gilt in der Situation, es gilt aber auch im zeithistorischen Rückblick.

»Die ›verlängerte Werkbank‹ im Osten wird immer, wenn es eng wird, abgeschüttelt.« So Weißgerber in einem Brief an die Leipziger Volkszeitung vom 9. Dezember 1997 (S. 50). Natürlich spiegeln sich darin Machtverhältnisse. Das Spiel wiederholt sich, wenn Bewohnern der östlichen Bundesländer, wann immer es für die Regierenden eng wird, das Recht abgesprochen wird, in Fragen von nationalem Belang mit eigener Stimme zu sprechen, da sie als DDR-Geschädigte erst die entsprechende Therapie zu durchlaufen hätten. Kratzt man an diesem Vorwurf, kommt leicht die neue Herrschsucht zum Vorschein, die gern Unmündigkeitsatteste an die Bevölkerung austeilt, vor allem, wenn es sich um ›Andersdenkende‹ handelt. Wer anders denkt, warum soll der nicht schweigen? Wer so denkt, der hält Demokratie für einen Massen-Manipulationsbetrieb (was sie sicher auch ist) und den Souverän für eine schädliche Fiktion, die es rechtzeitig aus den Köpfen zu vertreiben gilt. Diese neue Anfälligkeit für eine Denkweise, die den totalitären Keim in sich trägt, sollte in der Tat nachdenklich stimmen.