von Boris Blaha
In den vielen, meist nachdenklichen Aufarbeitungen der Demonstrationen in Berlin am 1. und 29. August wurde, mal mit mehr melancholischem, mal mit mehr optimistischem Grundton, auf das ›bunte Völkchen‹ verwiesen, die naiv-romantische Festivalstimmung wurde ebenso hervorgehoben wie der fehlende politische Ernst. Insgesamt vermisste man die mangelnde Orientierung und Ausrichtung auf einen klaren politischen Gegner. Das Volk müsse sich erst finden, hieß es.
Das ist alles richtig, dennoch fehlen mir in diesen Beschreibungen zwei wesentliche Aspekte. 1989 gab es eine östliche und eine westliche Wahrnehmung und zwischen beiden eine große Verständnislosigkeit. Nach der erfolgreichen Delegitimierung der bloß angemaßten ›führenden Rolle der Partei‹ durch das ›wir sind das Volk‹ änderte sich die Perspektive: Mit dem ›wir sind ein Volk‹ erging die Aufforderung an die westlichen Landsleute, den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes anzunehmen, was am lautesten die 68er Generation, die sich mit der Flucht aus der geschichtlichen Verantwortung profitable Positionen gesichert hatte, mit konsequenter Verweigerung quittierte. Otto Schilys peinlicher Bananenauftritt dürfte noch vielen in Erinnerung geblieben sein. Christian Meier gehörte damals zu den wenigen herausragenden öffentlichen Intellektuellen, die sich unermüdlich, aber weitgehend vergeblich darum bemühten, ein Gespräch in Gang zu bringen.
von Lutz Götze
Eine Reform des Wahlrechts steht seit Jahren auf der Tagesordnung. Der Bundestag platzt aus allen Nähten. Derzeit werkeln 709 Abgeordnete im Berliner Reichstag; sollte nichts geschehen, könnten es nach der nächsten Wahl im Jahre 2021 über achthundert werden: Unerträglich!
Das Dilemma beklagen wortreich alle Parteien, doch geschehen ist bislang nichts. Jetzt hat der Koalitionsausschuss aus Union und SPD eine ›kleine Lösung‹ beschlossen, die Finanzminister Scholz sogleich einen ›großen Erfolg‹ nannte, während die Unionschefin Kramp-Karrenbauer, eher zurückhaltend, von ›einem Dämpfungsschritt‹ sprach, der die Chance dafür biete, dass ›der nächste Bundestag auf jeden Fall nicht größer wird als der jetzige‹. Die Opposition verurteilte das Ergebnis unisono als ›Reförmchen‹, das obendrein eine Verzerrung des Zweitstimmenergebnisses mit sich bringe.
von Ulrich Schödlbauer
Das ganze Elend des etablierten Journalismus besteht darin, dass das Internet, also ein Medium, gnadenlos seine Inkompetenz aufgedeckt hat: Jeder Augenzeuge, der seine Smartphone-Kamera hochreckt, jeder Leserbriefschreiber, taktvoll ›Kommentator‹ genannt, jeder Blogger mit ein wenig Hintergrundwissen, jeder Wikipedia-Benutzer, jeder, der auch nur fünf Minuten per Mausklick recherchiert, weiß es besser als der Berufsjournalist, der von Thema zu Thema hetzt und dazu verdammt ist, die Twitter-Ausdünstungen unbedeutender Politiker als Nachrichten wiederzugeben: das zermürbt, es zermürbt unendlich und fördert damit die bockige Verhärtung, die diese Menschen als ›Haltung‹ missverstehen, weil ihnen die Vorstellung, sie besäßen eine, kompensatorische Befriedigung verleiht.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G