»Viele Maßnahmen der Orbán-Regierung entsprechen klassisch linker Politik«
Der DDR-Bürgerrechtler, SDP-Gründer und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete (1990-2009) Gunter Weißgerber ist ein großer Freund Ungarns – siehe dazu u.a. seinen Gastbetrag im BZ Magazin 45/2020. Die Budapester Zeitung unterhielt sich mit ihm über die Gründe für die Verschlechterung des deutsch-ungarischen Verhältnisse und mögliche Wege für seine Verbesserung.
Mainka: Was sind die wesentlichen Gründe für die Verschlechterung des deutsch-ungarischen Verhältnisses?
Weißgerber: Der westeuropäisch dominierten Europäischen Union fehlt zu ihrem großen Glück die doppelte Diktaturerfahrung der Mittel-Osteuropäer. Wo diese die Mitte zwischen den Extremen Links- und Rechtsextremismus suchen, verorten viele sogenannte Linksliberale des Westens die Mitte zwischen Linksaußen und der tatsächlichen politischen Mitte. Die momentane EU ist wie ein Zirkuszelt mit einer nach links abfallenden Mittelstange. Das heißt, die politische Statik der Europäischen Union ist lädiert.
Viktor Orbán weiß eine Zweidrittel-Mehrheit der Ungarn hinter sich. Wäre er ein linksliberaler Ministerpräsident vom Schlage eines Jean Asselborn, hätten er und die meisten Ungarn in der linksliberal domestizierten EU keine Probleme. Die schöne neue Welt wäre ungestört. Sie ist jedoch schwer gestört. Die Ungarn und Polen mit ihrer doppelten Diktaturerfahrung spielen das verlogene Spiel jedoch nicht mit. Sie pochen auf ihre Lebensweise genährt aus ihren in Jahrhunderten gewonnen Erfahrungen auf ihrem mittel-osteuropäischen Außenposten.
Ungarn und Polen retteten die Mitteleuropäer mehrfach in der Geschichte. Vergessen haben das nur die Westeuropäer. ›Wenn es dem Esel zu geht geht, geht er aufs Eis‹, heißt ein altes Sprichwort. Ungarn, Polen und die Balten erinnern ihre Partner in der EU daran. In ihrer Überheblichkeit fühlen diese sich daraufhin schwer brüskiert und schlagen wild um sich. Die Europäische Union ist noch immer ein closed shop. Drinnen sind die, die die Weisheit mit Löffeln konsumiert haben, draußen sind die, die sich alles selbst erkämpfen mussten.
Mainka: Viele Maßnahmen der ungarischen Regierung könnten ohne weiteres als klassisch linke Politik betrachtet werden. Warum finden sie bei linken deutschen Politikern keinen Anklang? Werden hier etwa ideologische Aspekte über ›Realpolitik für die kleinen Leute‹ gestellt?
Weißgerber: Selbstverständlich entsprechen viele Maßnahmen der Orbán-Regierung klassisch linker Politik. Das Problem ist nur: sie wird vom ›Falschen‹ praktiziert. Würde diese Politik – also beispielsweise die äußerst dynamische Anhebung der gesetzlichen Mindestlöhne, forcierte Reallöhnerhöhungen, die Befreiung weiter Teile der Bevölkerung aus der Fremdwährungskreditfalle, die behördlich verfügte Senkung der Wohnnebenkosten (Energie und Müllabfuhr), die Unterstützungen bei der Wohnraumschaffung, finanzielle Hilfe für junge Familien und vieles mehr – ein vom Westen der EU hofierter linker ungarischer Politiker praktizieren, er würde ohne Ende abgefeiert werden.
Viktor Orbán ergeht es wie Donald Trump: Wenn der Falsche das Richtige tut, dann ist es nicht richtig. Wären beispielsweise Barack Obama, Hillary Clinton oder Joe Biden auf die historisch unerhört bedeutsame Idee der Abraham-Vereinbarungen zwischen Israel und den Vereinigten Emiraten gekommen, hätte es Friedensnobelpreise gehagelt. So ist Donald Trump zwar ein Friedensstifter, allerdings ohne größeren Applaus.
Mainka: Inwiefern verfängt das permanente antiungarische Dauerfeuer von Seiten weiter Teile der deutschen Mainstream-Medien und der Politik bei den einfachen Bürgern in Deutschland? Wie weitgelingt es ihnen, die deutschen Bürger gegen Ungarn aufzuhetzen und antiungarische Ressentiments zu säen?
Weißgerber: Die deutsche Medienlandschaft ist linksliberal domestiziert. Bereits die klassische Mitte gilt inzwischen als „rechts“. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Bevölkerung – stärker im Westen als im Osten. Auch hier wirkt der Unterschied zwischen einfacher und doppelter Diktaturerfahrung. Wo es der vor 1989 erwachsen gewordene Ostdeutsche noch intuitiv spürt, ob er propagandistisch hinter die Fichte geführt wird, merkt das der normale Westdeutsche erst hinter der Fichte. Noch gelingt es den sogenannten Mainstream-Medien, die vielen alternativen Internetmedien klein zu halten. Das Kartenhaus dürfte aber mittelfristig zusammenfallen, falls die Mainstream-Medien nicht wieder zurück auf den Pfad der Tugend eines berichtenden und nicht politisierenden Journalismus finden.
Doch zurück zu Ihrer Frage. Orbán-Bashing ist beliebt und kommt immer an. Das damit auch zwei Drittel der ungarischen Bevölkerung eine Ohrfeige bekommen, wird eingepreist. Das fällt Parteien wie der SPD ohnehin leicht, da sich diese in den letzten Jahren faktisch von ihrer bisherigen Wählerschaft verabschiedet hat. Die SPD befindet sich inmitten eines grandiosen Feldversuchs namens ›Wahlen ohne Wähler gewinnen!‹. Während wir im Deutschen Bundestag zwei Jahrzehnte lang wie die Berserker um den ostdeutschen Aufschwung und um Arbeitsplätze kämpften, ist es der heutigen SPD scheinbar völlig egal, was aus dem Industrie-, Automobil-, Energie- und Forschungsstandort Deutschland wird.
Mainka: Welche konkreten Wege sehen Sie für eine Entspannung des deutsch-ungarischen Verhältnisses?
Weißgerber: Politik ist das Bohren dicker Bretter. Vorurteile sind besonders dicke Bretter. Für große Teile der deutschen Öffentlichkeit liegen Spanien oder Portugal näher an Deutschland als Ungarn. Dasselbe Problem hatten nach 1990 viele Ostdeutsche. Die Toskana lag vielen Westdeutschen näher als Ostdeutschland.
Ich kann den Ungarn nur raten, die eigenen Positionen immer freundlich-bestimmt zu vertreten – unabhängig davon, ob eine konservative oder eine andere Regierung in Budapest verantwortlich ist. Die anderen kochen auch nur mit Wasser. Die Europäische Union ist die Summe aller gleichberechtigten Mitgliedsländer.
Mainka: Was könnte Ungarn für Normalisierung tun? Mehr erklären? Besser kommunizieren?
Weißgerber: Es ist völlig egal, was Viktor Orbán sagt oder tut. Im Moment wird in Deutschland alles verzerrt, was mit ihm in Verbindung gebracht werden kann. Wäre er ungarischer Sozialdemokrat, wäre das mit Sicherheit anders. Viktor Orbán wird auf absehbare Zeit in Deutschland keine sachliche Behandlung zuteil. In der momentan schwer linkslastigen Bundesrepublik geht es vielen ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern inzwischen ganz genauso.
Wer für die politische Mitte ist, wird von den tonangebenden Kreisen derzeit als rechts eingestuft und zwar so rechts, dass er politisch zu ächten ist. Die Verhältnisse habe sich in eine bedenkliche Richtung verschoben. So werden es auch die deutsch-ungarischen Beziehungen weiterhin schwer haben. Den ungarischen Ministerpräsidenten trifft an deren schlechten Zustand die geringste Schuld.
Mainka: Solange die Orbán-Regierung an der Macht ist, sehen Sie in Anbetracht der bundesdeutschen Verhältnisse also keine Hoffnung auf eine nachhaltige deutsch-ungarische Entspannung?
Weißgerber: Zu den komplizierten Wechselbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Ungarn gehören grob gesagt zwei Pole. Hier eine wohlstandsverwöhnte und von den US-Amerikanern über Jahrzehnte behütete westeuropäische linksliberale überhebliche Gesellschaft und da das auf seine Erfahrungen pochende eigenständige, mitteleuropäisch orientierte Ungarn. Zuerst muss die westeuropäische Überheblichkeit verschwinden. Dafür sehe ich derzeit jedoch leider keine Anzeichen.
(Das Gespräch erschien am 27. Februar in der Budapester Zeitung.)