von Ulrich Schödlbauer
Und Sie meinen also –? Sie meinen, wenn Amerika seine Sozialprogramme ein wenig hochfährt und bei den bösen Weißen ein paar Sprachregelungen durchsetzt, löst sich das dortige Rassenproblem in Wohlgefallen auf? Sie meinen, wenn die französische Regierung mehr EU-Gelder in die Pariser Vorstädte pumpt, schmilzt die Aggressivität der dortigen Gewaltszene wie Schnee in der Sonne? Sie meinen, wenn Israel … Aber ich sehe schon, Sie winken ab. Wenigstens das. Wie auch immer: Sie glauben, Sie hätten in Ihren aufgeräumten deutschen Schubladen die Lösung der Weltprobleme parat und die Verantwortlichen in jenen Ländern seien bloß zu dumm oder zu verantwortungslos oder zu arrogant oder zu ›rechts‹, um diese sehr einfachen Pläne umzusetzen? Sie glauben das wirklich?
Sehen Sie, das ist deutsch. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht kränken, aber Ihnen fehlt ein Puzzlestück zu dieser Welt, ein klitzekleines, das Ihnen, wenn man Sie darauf aufmerksam macht, nur ein verächtliches Schulterzucken abnötigt: Ihnen fehlt das Verständnis für Macht. Nein, es ist nicht das, was Sie jetzt denken: Ich weiß, Sie lieben die Macht, Sie wollen nichts lieber als Macht ausüben, am besten für einen guten Zweck, wofür denn sonst? Alles andere wäre ja, ich zitiere Ihr Wort: Machtgeilheit – gibt es Verächtlicheres? Sehen Sie, das meine ich. Sie verstehen nicht, dass Macht eine autonome Größe ist, dass sie ihren eigenen Gesetzen folgt, dass sie sich weder auf einen guten Zweck noch auf Persönlichkeitsstörungen von Führungsgestalten reduzieren lässt. Staaten – lassen Sie uns über Staaten reden –, Staaten verfügen über Macht, aber sie drücken sie auch aus und die Politik folgt den allgemeinen Regeln dieser Ausdruckskunst. Da mag an der Spitze stehen, wer will. Und wenn an der Spitze Ihres Staates ein guter Mensch steht, der bereit ist, all seine Machtmittel für einen Zweck einzusetzen (natürlich muss es ein Menschheitszweck sein, denn alle guten Zwecke sind Menschheitszwecke), dann setzt er damit, wenn’s ernst wird, die Existenz dieses Staates aufs Spiel, weil seine Mitspieler, weil die konkurrierenden Staaten das Spiel anders spielen. Verstehen Sie? Nein? Das dachte ich mir.
Es muss ja auch kein guter Zweck sein. Sagt Ihnen das ›perfide Albion‹ etwas? Der Schock, der den deutschen Verantwortlichen 1914 in die Knochen fuhr, als sich England auf die Seite Frankreichs und Russlands stellte und dem Reich den Krieg erklärte? Nein? Schade. Doch? Na sehen Sie. Woher der Schock? Weil in der deutschen Führungsschicht damals eine Ideologie kursierte, die unterstellte, in Europa würden sich eine romanische, eine germanische und eine slawische Rasse um die Vorherrschaft balgen. Verstehen Sie? Die Engländer waren ›Rasseverräter‹. So sah es aus in den Köpfen dieser naturwissenschaftlich gebildeten deutschen Elite. Oh ja, sie hatten ihren Darwin im Kopf, sie waren keine primitiven Rassisten, sie waren aufgeklärte Leute, die zu wissen glaubten, was Sache ist. Was sie nicht wussten… Sie wussten nicht, dass sie einem Wissenschaftswahn huldigten. Sie wussten es ebenso wenig wie die weiter östlich zündelnden Panslawisten, die es, wenngleich nur über die Bande, immerhin schaffen sollten, das größte Völkergefängnis aller Zeiten auf der Basis einer dem Kopf – aber sicher! – eines deutschen Philosophen entsprungenen Ideologie zu initiieren. Genützt hat es ihnen nichts. Glauben Sie, all diese Leute seien der Überzeugung gewesen, einem schlechten Zweck zu dienen? Wie seltsam muss man gestrickt sein, um so etwas zu glauben! Gerade jetzt sehen wir einen neuen Ansturm guter Zwecke, die sich des Staates, nein, dieses Staates bemächtigen, und alle treudeutschen Rauschgoldengel singen Halleluja. Wir sehen aber auch, wie sich die anderen Staaten, lauter patentierte Partner im Guten, klammheimlich aus diesen guten Zwecken davonstehlen, dass sie für sie nichts anderes darstellen als Spielkarten in dem uralten Spiel, das die Macht mit sich selbst spielt, nicht, weil einzelne Spieler machtlüstern wären, sondern weil sie Macht ist, aus keinem anderen Grund.
Dieser Sinn für die Macht, er beginnt ja nicht erst, wenn die Spitze des Staates erobert wurde. Er beginnt tief unten in den Slums, in den Einwanderervierteln, in den alternativen Szenen, die lange vor sich hindümpeln können, bis sie durch einen unwahrscheinlichen Zufall Oberwasser bekommen. Aber der Kampf um die Macht, dessen primitivste Form sich in der Randale ausdrückt, beginnt nicht im tiefsten Elend, wie das so schön heißt, das heißt dann, wenn das gesellschaftliche Unrecht am schreiendsten ist, sondern erst, wenn die Muskeln sich bereits spannten, wenn der ökonomische Aufstieg bereits begonnen hat. Er beginnt dann, wenn sich die Schere zwischen dem realen Erfolg und dem antizipierten öffnet, soll heißen, wenn es Grund zu hoffen gibt. Der Hoffnung, Sie kennen das, wohnt etwas Überschwängliches inne. Der Appetit kommt beim Essen. Sicher gibt es immer Menschen, deren höchster Wunsch darin besteht, unauffällig auf der gesellschaftlichen Leiter höher zu klettern, sich zu integrieren, wie es so schön heißt. Aber es gibt auch immer die anderen, für die sich die Machtfrage andersherum stellt: Die oder wir! Die mögen die Gegenwart für sich einnehmen – nehmen wir uns die Zukunft! So saß schon Lenin in Zürich, aber das ist nur eine alteuropäische Reminiszenz. Heute sitzen seine Nachfolger im Geiste, ausgestattet mit den absonderlichsten Visionen, rund um den Globus, sie sitzen nicht auf gepackten Koffern, die sie nur auffällig werden ließen. Sie sitzen buchstäblich auf Erwartungen. Nein, ich rede nicht von Identitätspolitik, diesem Spielzeug für Handlanger. Ich rede von der Macht. Davon verstehen Sie nichts.