...neulich im Einstein
es war wohl noch Ramadan, am Abend saß eine lustige palästinensische Familiengesellschaft am Nachbartisch, alle ganz westlich gekleidet, in bester Stimmung, die Geschwister kringelten sich vor Lachen, mein Blick blieb aber an zwei nachdenklichen Bübchen hängen und ich dachte an Gunnar Heinsohns neue Theorie von der Geburt des Terrorismus aus der Not der Nachgeborenen…
Dessen Youth-Bulge-Theorem ließ mich (momentan assoziierte ich: bullshit) an eine betagte Großtheorie denken, die sich vom bulge einer anderen Menschengruppe, dem Proletariat, ebenfalls geschichtlich einschneidende Zäsuren versprach (die man dann je nach eigener sozialer Lage zu erhoffen oder zu befürchten hatte).
Dieser neue Einfall ist vom Denken her überraschend strukturidentisch mit jenem älteren Aufklärungsversprechen: so wird wieder (a) ein Umschlag von Quantität in Qualität vermutet, (b) die Idee wieder einmal (jetzt als Islam) zur materiellen Gewalt, wenn er die Zweit-bzw. n-Geborenen ergreift, (c) auch dieser Glaube allmächtig, weil er wahr ist, und deshalb hätten (d) letzlich also die jungen Heißsporne erneut nichts zu verlieren als ihre Ketten(-imitate von Versace).
Aber auch hier scheint mir - was einst schon die ältere Theorie geringschätzte - ein erheblicher Mangel an anthropologischer Unbestimmtheit alles Geschichtlichen überspielt zu werden, - hier wieder mit sozusagen naturalistischen Gewissheiten. Sollte uns früher beim triumphalistischen Quantum vom Sechstel der Erde [=die Sowjetunion] Hören und Sehen vergehen, so heute bei der Warnung vor der Verelendung von Neunzehntel der Erben.
Der Königsberger Menschenkenner Kant nannte jene statistische Wahrnehmung eines Rückgangs zum Ärgeren übrigens - ganz modern (wie immer bei ihm) - die terroristische Vorstellungsart der Menschengeschichte…
Im Weggehen wünschte ich inbrünstig nur eines: Allah möge die zwei wohlerzogenen Bübchen von jenem Abend im Einstein vor fatalen Gürtel-Geschenken schützen, schon damit sie sich immer wieder jenes paradiesischen Treffens in der Berliner Kurfürstenstrasse erinnern können.
Steffen Dietzsch