von Heinz Theisen

Mit dem Krieg in der Ukraine wird der westliche Universalismus noch vergeblicher und gefährlicher

Der Wille zur Selbstbehauptung schien in der westlichen Welt, besonders in Deutschland, gerade bei seinen Eliten erlahmt zu sein, von den Hochschulen über die Medien bis in die Parlamente. Statt mit ihrer Selbstbehauptung waren sie mit Kritik und Dekonstruktion unserer Kultur und unserer Interessen beschäftigt. Mit der gängig gewordenen Hetze gegen »toxische weiße Männer« und der luxurierenden Konzentration auf identitätspolitische Opfergruppen wurde der Westen sogar zum Hauptverursacher aller denkbaren Probleme stilisiert.

Diese radikale Selbstverleugnung ist ein evolutionär unwahrscheinlicher Vorgang, denn in der Evolution und Geschichte der Menschheit muss jedes Lebewesen, jede Gruppe von Menschen immerzu um Selbstbehauptung ringen.

Wie lange kann man es sich leisten, dies nicht zu tun? Diese Frage dramatisiert sich dadurch, dass andere Kulturen und Mächte – ob im Islamismus, im Darwinismus Chinas oder im Nationalismus Russlands – diese Haltung ausgenutzt und umgekehrt ihre Selbstbehauptung radikalisiert haben.

Schon zuvor haben die Überdehnungen in den Krisengürteln des Mittleren Ostens, Nordafrikas und dann auch noch in die russische Hemisphäre zur Destabilisierung dieser Räume beigetragen und sind dann durch Flucht, islamistischen Terror und Krieg auf Europa zurückgefallen.

Selbst ökonomisch haben die globalen Entgrenzungen der letzten dreißig Jahre die Welt nicht freier und sicherer gemacht. Die Globalisierung wurde von autoritären Regimen vielmehr dazu ausgenutzt, ihre Macht gegenüber den eigenen Bürgern und gegenüber dem Westen zu stärken. In der Corona-Pandemie sicherte China die Grenzen Wuhans zu anderen chinesischen Gebieten, nicht aber gegenüber dem Ausland, ein Akt ungeheurer Feindseligkeit.

Der Westen, unter dem wir die rechtsstaatlichen Demokratien der Welt verstehen, umfasst mit den EU-Staaten, Nordamerika, Ozeanien und einigen ostasiatischen Staaten kaum mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung. Die Demokratien werden weniger, Autoritarismus, im Islamismus und in China sogar der Totalitarismus, sind wieder auf dem Vormarsch.

Die verlorenen Grenzen des Möglichen

Auch hierbei zeigt sich erneut, dass dem westlichen Denken die wichtigsten Grenzen überhaupt in Vergessenheit geraten sind: die Grenzen des Möglichen und damit der Sinn für das Notwendige.

In einem surrealen Taumel überbieten sich eine überdehnte amerikanische Weltmachtpolitik, die Geldschöpfung der Europäischen Zentralbank, globalistische Aktivisten und hedonistische Individuen darin, möglichst viele Begrenzungen aufzuheben.

Die Realitätsverleugnung wird umso größer, je näher wir dem Reich der reinen Begriffe und Weltanschauungen kommen, den Hochschulen, Medien, Parteien und Parlamenten. Mit dem in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorherrschenden Konstruktivismus wurden Begriffe selbst zur Realität erhoben.

Statt der strengen Suche nach Objektivität zählten darin vor allem Gefühle, an die Stelle des Analysierens trat ein allgemeines Moralisieren, an die Stelle der Differenzierung nach der Logik von Funktionssystemen ein Moralisieren nach Gut und Böse, welche die eigene Logik etwa der Wirtschaft und der politischen Selbstbehauptung außer Kraft zu setzen droht.

Im gleichen Maße wie die Hoffnungen des religiösen Glaubens schwinden, gewinnen sie in der Politik an Zulauf. Auch hierbei werden Sünden gebeichtet, allerdings nur die der anderen. Von Erbsünde und Endlichkeit ist anders als im Christentum keine Rede mehr, es dominieren Selbstgerechtigkeit und Selbsterlösung.

Am fatalsten wirkte sich der Glaube an unbegrenzte Weltoffenheit in der Außenpolitik aus. Fremd ist, was wir nicht verstehen. Der Übermut, in fremden Kulturkreisen westliche Strukturen aufzubauen, stellt keine Widerstände in Rechnung. Tradition und Religion gelten ihm nur noch als folkloristische Relikte, die dem Glauben an den Fortschritt weichen sollten.

Die Entgrenzung der Räume ging mit einer Entgrenzung des Denkens einher. Niemand – so der Orientalist Gilles Kepel – habe die geistige Verwirrung vorausgeahnt, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergegangen ist. Die Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten habe uns die Orientierung verlieren lassen.

Nach dem Scheitern des westlichen Universalismus im Mittleren Osten folgten keineswegs Einsichten in unsere Begrenztheit, sondern die Flucht nach vorn in eine neue Weltanschauung des Globalismus. Sie kennt keine Kulturen und Nationen mehr, sondern nur noch »die Menschheit« und die »Eine-Welt«. Unterscheidungen zwischen Freunden, Feinden und Gegnern gingen verloren.

Die westliche demokratische Kultur wird nicht nur von außen und im Kulturmarxismus auch von innen angefochten, einerseits von der postmodernen Dekonstruktion sowie von der Überinanspruchnahme ihrer Errungenschaften.

Entgrenzungen dominierten auch das gesellschaftliche Leben, ob in Erziehung, Partnerschaft, Kunst, Alltag, dekonstruierender Philosophie und Geldpolitik. Umgekehrt galten Grenzen als Inbegriff des Bornierten, Rechten, Bösen. In der bunten globalen Welt waren weder Viren noch angreifende politische Mächte vorgesehen.

Aus der Epidemie in China wurde nicht zuletzt durch das Fehlen kontrollierender Grenzen in kurzer Zeit eine Pandemie. So sehr wir es an schützenden Grenzen gegenüber dem Virus fehlen ließen – noch bis zum Frühjahr 2020 konnten Passagiere aus China ohne Gesundheitskontrolle in Deutschland einreisen –, desto enger wurden die Grenzen der Bewegungsfreiheit der Bürgers gezogen. Die Weltoffenheit endete im Lockdown.

Der Westen denkt nicht mehr in Einflusssphären, weil er die ganze Welt zu seiner Einflusssphäre rechnet. Damit überhebt er sich ein ums andere Mal und zieht andere Staaten wie Irak, Libyen und die Ukraine damit ins Verderben. Der russische Angriffskrieg ist moralisch durch nichts zu entschuldigen, geopolitisch ist er erklärbar aus der Überdehnung des Westens in die Einflusssphäre Russlands. Nicht einmal die Illusion eines »Wandels durch Handel« ist uns nach der neuen Blockbildung zwischen dem Westen und Russland und China geblieben.

Der deutsche National-Globalismus

Die global denkenden Eliten Deutschlands fühlen sich weniger ihrem Land und ihren Bündnissen als der »Einen-Welt« verpflichtet. Ihre nationale Identität liegt im gemeinsamen Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen.

Bereitwillig opfern sie Partikularinteressen von Autoindustrie und Energieverbrauchern. Rechte der Staatsbürger werden »den Menschenrechten« untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl gilt die Kardinaltugend der »Weltoffenheit«.

Die Bejahung offener Grenzen war Grundlage für das Bündnis von Global Playern der Wirtschaft mit dem Humanitarismus von Nichtregierungsorganisationen. Das Outsourcing der einen ist die freie Zuwanderung der anderen.

Dem Anspruch auf Zukunftsfähigkeit fiel die Gegenwartsfähigkeit zum Opfer: vom Niedergang der Infrastruktur und der öffentlichen Verwaltung bis zum fehlenden Hochwasserschutz im Ahrtal.

Angesichts eines hochmütigen globalen Engagements – nur 0,8 Prozent der Menschheit sind Deutsche – blieb kein Geld mehr für die Sanierung von Brücken. Die Deutschen begleichen die Rechnungen weiter, aber die Spaltung nach Global und Local Playern, zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalität wird immer größer.

Längst ist auch der ortsgebundene Mittelstand dem Global Player »Amazon« schon deshalb nicht mehr gewachsen, weil er seine Steuern nicht europaweit optimieren kann. Die sozial-kulturelle Spaltung verläuft nicht zwischen »Links und Rechts«, wie es die Altideologen gerne hätten, sondern zwischen mobilen Anywheres und gebundenen Somewheres.

Die ersten Rettungsversuche vor dem Globalismus reichen vom Wutbürgertum der Gelbwesten und Donald Trumps bis hin zur Flucht der Brexiter aus der europäischen Solidarität. Bei ihnen handelte es sich nur um Antithesen. Statt neuer Absprachen in westlichen Bündnissen zogen sie bloß die nationale Karte. Von der Utopie zur Regression – dazwischen sollte es mittlere internationale Wege geben.

Die gemeinsame Suche in demokratischen Diskursen bleibt aus, weil die Ängste vor der Weltoffenheit diskreditiert wurden. Über dieses Diskursversagen wird die »offene Gesellschaft« – statt gegenüber ihren äußeren Feinden – nur gegenüber denjenigen verteidigt, die mehr Protektion einfordern. Das Ausbleiben des Diskurses treibt die innergesellschaftliche Polarisierung voran.

Sowohl mit dem Ausstieg aus der Kernenergie als auch mit immer neuen Maßnahmen gegen den Klimawandel gehen die deutschen Apokalyptiker »voran«. Doch kaum ein Land scheint ihnen folgen zu wollen. Wenn fast Ein-Drittel des weltweiten C02-Ausstoßes auf das Konto Chinas geht, ist die Verbesserung der deutschen Energiebilanz vergeblich, schlimmer noch, sie verschlechtert nur die eigene Wettbewerbsfähigkeit.

Als selbsternannte Avantgarde bezahlen wir dafür mit den höchsten Energiepreisen der Welt – und mit weiteren Dekonstruktionen der Industriegesellschaft. Der Preis der Unabhängigkeit von Kern- und Kohlekraftwerken war eine umso größere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Der deutsche Sonderweg hatte uns in der Grenz-, Energie- und Außenpolitik zum Geisterfahrer des Westens gemacht. Die Rückkehr in die westlichen Bündnissysteme wird nun von nackter Not und ohne jede Konzeption erzwungen.

Der deutsche Globalismus hat sich in so tiefe Widersprüche verstrickt, dass uns nur noch gute Freunde daraus befreien können. Etwa die EU-Kommission, die die Kernenergie neuerdings als »grüne Technologie« einstuft. Auch die spezifisch deutsche »Willkommenskultur« wird von den europäischen Nachbarländern nicht geteilt. Die Ampelregierung will illegale Zuwanderung nicht bekämpfen, sondern legalisieren, die anderen europäischen Staaten fühlen sich auch ihren Nahinteressen verpflichtet.

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