von Christoph Jünke

Spricht man mit einem politischen Linken oder einem Streiter für eine andere Globalisierung – es soll sie ja hie und da noch (oder wieder) geben –, erscheint der Neoliberalismus gleichsam als die Inkarnation jenes einen Ringes – »sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden«. Spricht man dagegen mit einem seiner überzeugten Anhänger, so hört man nicht selten das Argument, dass man von einer Vorherrschaft des Neoliberalismus in unseren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Gefilden doch nicht wirklich sprechen könne. Allzu viel sei noch korporatistisch verregelt und bürokratisch-populistisch blockiert, und allzu viel müsse erst noch in Gang gebracht werden von einem wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Denken und Handeln, das doch vermeintlich nicht nur den Problemen angemessen sei, die unsere Gesellschaftsordnung seit langem zunehmend aufweise, sondern auch einem Menschen- und Geschichtsbild, das sich als Krönung der Schöpfung vermutet.

Des scheinbaren Widerspruchs Lösung findet sich in der Unterscheidung von Produktionsweise und Gesellschaftsform. Denn der neoliberal gewendete zeitgenössische Kapitalismus ist ein solcher vor allem dort, wo es sich um die Leitlinien und Umsetzungsimperative einer marktwirtschaftlichen Produktions- und Austauschweise handelt, und ein noch nicht so umfassend neoliberaler dort, wo es um die Gesellschaftsform als Ganze geht, also um Fragen individueller und gesellschaftlicher Reproduktion sowie politischer Regulierung.

Dass sich die Gesellschaftswissenschaften erst vergleichsweise spät, eigentlich erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten, einer Theorie und Praxis zugewandt hat, die so allgegenwärtig wie undurchsichtig erscheint, mag auch damit zu tun gehabt haben, dass dieser Neoliberalismus erst mit seinem systematischen Übergriff auf die Gesamtgesellschaft an identifizierbaren Konturen gewonnen hat. Erst nachdem sich der Neoliberalismus in die gesellschaftliche Logik als Ganze fortgepflanzt und es dort – in Form vor allem der mexikanischen Zapatistas und der internationalen globalisierungskritischen Bewegung Mitte/Ende der 1990er Jahre – zu einer ersten weltweit sichtbaren gesellschaftspolitischen Gegenbewegung gekommen ist, fokussiert sich auch die politische Wissenschaft auf jenes »Lande Mordor, wo die Schatten drohen«, auf ein politisches Ideensystem also, das unser Schicksal schon um einiges länger nachhaltig bestimmt. Doch mittlerweile kann sich mit Unkenntnis niemand mehr herausreden, denn die Früchte dieser Beschäftigung – von denen im Folgenden lediglich drei, wenn auch hervorragende, vorgestellt werden – lassen sich durchaus sehen.


David Harveys Kleine Geschichte des Neoliberalismus

  David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich (Rotpunkt Verlag) 2007, 280 S.

Den in meinen Augen besten Wegweiser durch das unebene Gelände des vorherrschenden Neoliberalismus bietet David Harveys Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Man kann sich dabei dem Urteil von Leo Panitch – seines Zeichens kanadischer Politikwissenschaftler und Herausgeber des angelsächsischen Socialist Register – nur anschließen, der über das Buch seines US-amerikanischen Kollegen schrieb, es sei der bisher schwungvollste, lesbarste, umfassendste und kritischste Führer über und durch den Neoliberalismus, der dessen Ursprünge und Wege über den Globus ebenso aufdeckt wie die verheerenden Konsequenzen, die dies für die Mehrheit der Menschen weltweit bedeutet.

Und gleichsam en passant müssen sich dabei die deutschen Leserinnen und Leser von einer hier noch immer weit verbreiteten These verabschieden, denn es war eben nicht der Zusammenbruch des einstmals real existierenden Sozialismus, der als Ursache der heutigen politischen und sozialen Misere zu gelten hat, denn der war selbst nur eine (wenn auch selbst wieder nachhaltig wirkende) Folge anderer historischer Entwicklungen. Der wirkliche historische Wendepunkt, das zeigt Harvey schlüssig auf, ereignete sich bereits Ende der 1970er Jahre, als die Sowjetunion noch als ein Hort sozialer Stabilität angesehen wurde.

Zu Beginn der 1970er Jahre wurde die kapitalistische Weltwirtschaft von einer tiefen Rentabilitätskrise heimgesucht und stellte die scheinbar stabilen Pfeiler des sozialstaatlichen Kompromisses der 1950er und 1960er Jahre in Frage. Orientierten damals linke Alternativen (sozialistischer und kommunistischer Provenienz) auf die Ausdehnung von staatlicher Regulation und institutionalisiertem Korporatismus, stießen sich gerade hieran die Klasseninteressen des von der Rentabilitätskrise nachhaltig getroffenen Kapitals. Die damals um sich greifende politische Ideologie des Neoliberalismus war vor diesem Hintergrund ein gleichermaßen politischer wie ökonomischer Angriff auf die institutionalisierte Gegenmacht der subalternen Klassen und Schichten, ein Mittel zur Restauration von Klassenmacht. Und sie setzte dabei theoretisch wie praktisch auf ein politisch-ökonomisches Handeln, das – in scharfer Polemik gegen alle Spielarten von realem und vermeintlichem Kollektivismus – die optimale Förderung menschlichen Wohlstandes durch die grenzenlose Freisetzung individueller unternehmerischer Freiheit mittels privater Eigentumsrechte, freier Märkte und freiem Handel propagiert und mittels des Staates institutionell zu organisieren und abzusichern trachtet.

Den weltpolitischen Durchbruch dieses neoliberalen Denkens und Handelns markieren für Harvey vier Ereignisse: die 1978 eingeleitete ökonomische Liberalisierungspolitik des neuen starken Mannes in China, Deng Xiaoping; die Wahl Margaret Thatchers zur britischen Premierministerin im Mai 1979; der von Paul Volcker durchgeführte geldpolitische Kurswechsel der US-amerikanischen Notenbank im Juli 1979, sowie schlussendlich die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA im November 1980. Mit den von diesen Ereignissen ausgelösten Prozessen begann ein gesellschaftspolitischer Kurswechsel in den industriekapitalistischen Zentren, der Stück für Stück eine Denk- und Handlungsweise zur vorherrschenden machte, zu einem hegemonialen Diskurs also, »mit dem viele Menschen ihr Alltagsleben und das Funktionieren unserer Welt wahrnehmen und interpretieren« (Harvey). Die Logik des ökonomischen Konkurrenzkampfes ließ auch andere europäische Metropolenländer auf die neue Wirtschaftspolitik umschwenken. Und mittels der internationalen Schuldenkrise und der von ihr begleiteten Strukturanpassungsprogramme wurde sie zuerst auf die Länder der ›Dritten Welt‹ ausgedehnt und zuletzt auf die ›realsozialistischen‹ Länder.

Harvey zeichnet diese Geschichte schlüssig nach. Doch nicht darin liegt die besondere Originalität seines Werkes. Sie liegt auch nicht darin, dass der versierte Theoretiker einer kapitalistischen Geografie aufzeigt, dass der neoliberalen Globalisierung eine technologisch bedingte Raum-Zeit-Verdichtung zugrunde liegt, die die größtmögliche geografische Reichweite neoliberaler Logiken mit einer möglichst kurzen Laufzeit der Marktkontrakte kombiniert. Sie liegt nicht einmal darin, dass er die neue Qualität der negativen Konsequenzen des Neoliberalismus aufzeigt (vor allem die neue Qualität der Verdinglichung, der »Kommodifizierung« der Welt, die sich vertiefende Umweltzerstörung und die zunehmende Aushöhlung von Bürger- und Menschenrechten) oder dem chinesischen ›Fall‹ ein eigenes umfangreiches Kapitel widmet, in dem er überzeugend nachweist »dass China den Weg der Neoliberalisierung und der erneuten Konstituierung kapitalistischer Klassenmacht beschreitet – auch wenn dieser Weg ›ein chinesisches Antlitz‹ besitzt«. Die wirkliche Originalität seines Werkes liegt vielmehr in seinem politisch-theoretischen Zugriff, in der Tatsache, dass er den Neoliberalismus nicht als eine bloße oder vorrangige Wirtschaftsdoktrin interpretiert, sondern als ein Herrschaftsprojekt, als Klassenkampf von oben. »Was das Ankurbeln der weltweiten Kapitalakkumulation betrifft«, schreibt er, »so war die neoliberale Wende nicht sehr erfolgreich; dagegen ist es ihr bemerkenswert gut gelungen, die Macht einer Wirtschaftselite wiederherzustellen oder – wie etwa in Russland und China – aus dem Nichts zu erschaffen.«

Mit diesem Zugriff aufs Thema kann Harvey schlüssig nachweisen, dass und wie der Staat auch weiterhin eine zentrale Rolle im neoliberalen Klassenkampf spielt. Denn politisch-institutionell haben wir es mit einem radikalen Umbau, nicht Abbau staatlicher Institutionen und Verfahren zu tun, »mit dem Ergebnis einer veränderten Balance zwischen Zwang und Konsens, zwischen Kapitalmacht und breiten Volksbewegungen, zwischen der Macht der Exekutive und Judikative auf der einen und den Kräften der repräsentativen Demokratie auf der anderen Seite«. Und dieser Umbau bleibt naturgemäß in sich unstabil und umkämpft, denn gerade der neokonservative Versuch, die immanenten Probleme neoliberaler Staatlichkeit mittels autoritärer Lösungen anzugehen, produziert mächtige Widerstände.

Mit seinem politischen Zugriff aufs Thema kann Harvey auch die erstaunlichen historischen Wandlungen des Neoliberalismus aufzeigen: Zuerst auf die geschichtliche Bühne getreten als »unheilige Allianz von Big Business und konservativen Christen«, vermag es der Neoliberalismus mittels seines radikalen Individualismus nämlich auch, oppositionelle (›linke‹) Kräfte und oppositionelles Denken dort einzugemeinden, wo diese entweder keine Alternative zu sehen vermögen oder aber den Individualismus zum sakrosankten Ziel an sich proklamieren, wo Befreiung also rein individuell, libertär gefasst wird, und wo Identitäts- und Multikulturpolitik von jenen sozialen Kräften getrennt werden, die diese wirklich umzusetzen vermögen.

Was also tun, fragt der engagierte politische Intellektuelle Harvey? Es gehe vor allem darum, »einen politischen Prozess in Gang [zu] bringen, der uns an den Punkt führen kann, an dem wir machbare Alternativen, also reale Möglichkeiten überhaupt erst identifizieren können«. Und hierfür müsse man aussprechen was ist: »Wenn etwas nach Klassenkampf aussieht und jemand wie im Klassenkampf agiert, dürfen wir uns nicht genieren, die Sache beim Namen zu nennen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung muss sich entweder in die historische und geografische Entwicklung fügen, die durch die erdrückende und noch ständig anwachsende Macht der herrschenden Klasse bestimmt wird, oder sie muss selbst als Klasse reagieren.«

Es fällt wirklich schwer, sich vergleichbare Worte aus der Feder eines deutschen Lehrstuhlinhabers vorzustellen – einfacher dagegen die Folgen, die eine solche Veröffentlichung für dessen weitere Karriere hätte. Wissenschaft und Engagement, das ist noch immer eine heikle Kombination in Deutschland – toleriert einzig als expertokratische »Policy-Beratung«.

 


Bernhard Walpens Propheten vom Berg

  Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg (VSA-Verlag), 2004, 495 S.

Das in der Geschichte des Neoliberalismus besonders hervorragende und aufschlussreiche Verhältnis von Wissenschaft und Engagement, den wissenschaftspolitischen Aufstieg des Neoliberalismus, thematisiert Bernhard Walpen in seinem in den letzten Jahren bereits zum Klassiker mutierten Werk Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Auch der Schweizer Sozialwissenschaftler weiß, dass die Herrschaft neoliberaler Sachzwänge selbst als ökonomische eine vor allem politisch gewollte und gemachte Herrschaftsstrategie – eine spezifische Mischung aus Konsens und Zwang – ist. Er nähert sich dieser Strategie allerdings vom Aspekt des Konsenses her, von der ideologischen Produktion des neoliberalen Diskurses. Die heutige Hegemonie dieses Denkens beruht nämlich auf einem jahrzehntelangen, mühsam durchfochtenen intellektuellen Kampf, den Walpen anhand jener Geschichte der Mont-Pèlerin-Gesellschaft nachzeichnet, die bis heute als die intellektuelle Kaderschmiede des Neoliberalismus fungiert, aber bemerkenswert unbekannt geblieben ist.

Gegründet im Frühjahr 1947 im Schweizer Bergdorf Mont Pèlerin, ist diese Gesellschaft ihrer Struktur nach eine internationale Gemeinschaft von Ökonomen, Publizisten und Gesellschaftstheoretikern – »von vor allem wissenschaftlich arbeitenden Intellektuellen« (Walpen). Seit jener Zeit bildeten Leute wie Milton Friedman, Karl Popper oder Ludwig Ehrhard ein zwar nicht konfliktfreies, aber sehr erfolgreiches transnationales Elitennetzwerk. (Den aufschlussreichen Wahlverwandtschaften zwischen dem kritischen Rationalismus Karl Poppers und dem Neoliberalismus von Friedrich August von Hayek widmet sich, dies nebenbei, Jürgen Nordmann: Der lange Marsch zum Neoliberalismus. Vom Roten Wien zum freien Markt – Popper und Hayek im Diskurs, Hamburg (VSA-Verlag) 2005, 398 S.)

Angestoßen von Friedrich August Hayek und seiner Programmschrift Der Weg zur Knechtschaft (1944) verfolgte man das Ziel, den in den 1920er und 1930er Jahren durch Sozialismus, Faschismus und keynesianischem Neoreformismus nachhaltig in Frage gestellten klassischen Liberalismus zu erneuern. Der von Hayek und anderen propagierte Neo-Liberalismus teilte zwar noch die Ziele des alten Liberalismus – freie Marktwirtschaft und Vorrang des (bürgerlichen) Individuums –, propagierte jedoch von Beginn an Mittel und Wege, die expliziter als zuvor gegen jede Form von ›Kollektivismus‹, und damit gegen jede Form von Sozialstaat und Planwirtschaft gerichtet waren.

Der entscheidende Garant des Erfolges der Neoliberalen sei jedoch, so Walpen, die Fähigkeit der neoliberalen Vordenker gewesen, trotz ihrer eigentlichen Fundamentalopposition gegen keynesianische und ›kollektivistische‹ Versuchungen bündnisfähig zu bleiben, sozusagen Doktrinarismus mit Pragmatismus zu verbinden. So konnten sich neoliberale Theoreme und Diskurse mit jenem Nachkriegskonsens partiell verbinden, der auf den intervenierenden Staat als einen vermeintlichen Wohlfahrtsstaat setzte, und, von Linken und Progressiven überwiegend belächelt, überwintern, bis sie unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, in den 1970er Jahren also, ihre eigentliche »Reconquista« (Walpen) antraten. Pinochets Diktatur in Chile ab 1973, die Arbeiten der Trilateralen Kommission, die Verleihung von Nobelpreisen für Ökonomie an diverse neoliberale Vordenker, schließlich die neoliberalen Regierungsübernahmen unter Thatcher (Großbritannien) und Reagan (USA), verdeutlichen im nachhinein den Siegeszug neoliberalen Denkens und Handelns gleichsam von der Peripherie ins Zentrum spätkapitalistischer Gesellschaftsformationen – ein Weg, der, wie gesagt, über die Umwege Lateinamerika, Ostasien und schließlich Osteuropa ging und uns in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auch die Erfahrung eines sozialdemokratischen ›linken‹ Neoliberalismus bescherte.

Die Vordenker in der Mont-Pèlerin-Society pflegten seit ihren Anfängen – und dies ist Walpens eigentliches Thema – eine damals noch eigenwillige, aber sehr erfolgreiche Organisationsform, als sie sich netzförmig in Institutionen, Stiftungen und »Think Tanks« in jenem öffentlich-rechtlichen Raum verbreiteten, den man heutzutage der ›Zivilgesellschaft‹ zuordnet. In der Regel frei von direkter staatlicher Hilfe (wohl aber mit dessen indirekter, finanzieller Hilfe), organisierten und organisieren sich diese Intellektuellen gerade dort, wo es gilt, die Hegemonie ihrer politischen Zielvorstellungen durchzusetzen, in Wissenschaft und Forschung, in Medien und Verbänden.

Wenn Walpen jedoch in dieser Netzformorganisation auch ein für linke Gegner des neoliberalen Kapitalismus vorbildliches Vorgehen sieht und »die Linke« auffordert, vom Gegner siegen zu lernen, macht er aus der Not eine Tugend, denn er verkennt gerade das, was er selbst so treffend beschrieben hat. Linke Gegner herrschender Verhältnisse können sich, anders als die neoliberalen Hardliner, allenfalls ansatzweise und nur in durchweg prekärer Dauer an die herrschenden Institutionen von Staat und Gesellschaft ›andocken‹. Es zeichnet linke Gegenmacht innerhalb kapitalistischer Gesellschaftsformationen (lassen wir einmal den Sonderfall der Gewerkschaften beiseite) aus, dass sie strukturell labil ist, da sie eben, anders als die bürgerliche Rechte, keine dauerhaften Stützpunkte innerhalb der spätbürgerlichen Gesellschaft zu bilden vermag. So wichtig also der Kampf um die intellektuelle Hegemonie auch für die Linken ist, so wenig kann er darauf beschränkt werden. Das hat etwas mit der Form der Gesellschaft zu tun, die Linke grundsätzlich überwinden wollen (und müssen, wenn sie ihr Programm durchsetzen wollen), Rechte und Neoliberale aber nur in eine bestimmte, letztlich immanente Richtung verändern wollen.

 


Naomi Kleins Schock-Strategie

Klein, Schockstrategie Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt/Main (Fischer) 2007, 763 S.

Betont Walpen in der herrschenden Dialektik von Konsens und Zwang die Seite der Ideologie und des Konsenses, verdeutlicht die neueste Veröffentlichung der kanadischen Autorin und politischen Journalistin Naomi Klein den anderen Pol, die Seite des Zwangs bei der Durchsetzung des vorherrschenden Neoliberalismus. Nicht zu Unrecht, möchte man sagen, denn Lenins Worte, dass der Kapitalismus seinen Gegnern und Opfern auch noch den Strick verkauft, an dem er sie aufhängt, sind zwar auch ein Jahrhundert später noch immer eindrucksvoll. Nichtsdestotrotz ist die geschichtliche Entwicklung bereits einen gehörigen Schritt weiter gegangen.

Als beispielsweise der Wirbelsturm Katrina die US-Stadt New Orleans zerstört und fast zweitausend Tote zurückgelassen hatte, beauftragte die US-Regierung (die durch ihre aggressive Aushöhlung der sozialstaatlichen Staatsapparate und Finanzbudgets wesentlich beigetragen hatte zu den katastrophalen Folgen dieser von Menschen gemachten Naturkatastrophe) die Tochter eines privatwirtschaftlichen Bestattungskonzerns, der wiederum einer der großen Geldgeber des Bush-Wahlkampfes war, mit der Einsammlung der Toten. 12 500 Dollar pro aufgesammelten Toten stellte die Firma der Regierung, sprich: dem Steuerzahler, sprich: der Gesellschaft, in Rechnung. Offensichtlich zu wenig Profit, denn die Klagen über nicht oder falsch registrierte Leichen häuften sich ebenso wie die über die langsame Abwicklung als solche: Noch nach einem Jahr (!) wurden verweste Leichen auf Dachböden gefunden.

Dies ist nur eine einzelne kleine Geschichte aus einem dicken Buch voller schockierender kleiner und großer Geschichten. Doch nicht darauf spielt der Titel des zu Recht sofort zum Bestseller mutierten Buches an. ›Schockstrategie‹ meint bei Klein, dass und wie die Herrschenden gelernt haben, gesellschaftliche und Umwelt-Katastrophen für ihre eigenen strategischen Zwecke auszunutzen. Das Desaster als entzückende Chance, mittels ökonomischer Deregulierung und Privatisierung ehemals staatlich-gesellschaftlicher Aufgaben ökonomische Gewinne zu privatisieren und ökonomische wie gesellschaftliche Verluste zu sozialisieren – das ist die Schockstrategie, deren Verlaufsformen Klein in der Geschichte des letzten halben Jahrhunderts nachvollzieht. Und anders als es die herrschende Journaille gerne kolportiert, bemüht sie sich darum, die kleinen und großen Geschichten ihres Buches gerade nicht reißerisch, nicht reizüberflutend und entsprechend die Köpfe ermattend aufzubereiten. Bei ihr bewirken diese Geschichten zumeist eine Art des befreienden Schocks, der die Leserin und den Leser im besten alten Sinne aufklärt über das Ausmaß der Barbarisierung unserer Zeit und über die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, die diese Barbarei gebiert.

Naomi Kleins Buch, man muss dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Medienkampagne gegen sie in aller Deutlichkeit sagen, ist ein herausragendes Werk, eines jener seltenen Bücher, die man uneingeschränkt jedem empfehlen kann und muss, der den Kopf nicht verlieren will in einer Zeit, die gerade hierzu einlädt. Sie schreibt die Geschichte des neoliberalen Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit journalistischer Verve und mit detektivischem Sinn. Und sie stiftet Zusammenhänge, wo andere nur oberflächliche Ähnlichkeiten zu sehen vermögen. Schnell wird deutlich, was der Wirbelsturm Katrina mit dem Irakkrieg zu tun hat, und was der Finanzcrash in Asien Ende der 1990er Jahre mit der Aufstandsbekämpfung gegen die lateinamerikanische Guerilla der 1960er Jahre. Deutlich wird nicht nur, in welchem Zusammenhang die lateinamerikanische Schuldenkrise zur ökonomischen Schockstrategie steht, die nach 1991/92 in Osteuropa angewendet wurde, sondern auch, was die Folter-Bilder von Abu Ghuraib mit den von der CIA finanzierten universitären Forschungen eines kanadischen Psychiaters in den 1950er Jahren zu tun haben.

So wie das Buch keine Originalität für sich reklamiert – es stützt sich unter anderem auf die Arbeiten einiger der besten linken Wissenschaftler und Publizisten unserer Zeit – und doch zutiefst originell ist, so kann man von der politischen Journalistin auch keine politisch-theoretischen Höhenflüge verlangen und wird doch mit gewichtigen Beiträgen zu einer solchen politischen Theoriearbeit belohnt. Vor allem zu nennen ist hier das reichhaltige Material, das sie über die neue Qualität der Entstaatlichung ausbreitet. Ihre Darstellung, wie die US-Regierung infolge des Schocks des 11. September 2001 den eigenen Staat aushöhlt, wie sie unter dem Banner des »Kampfes gegen den Terror« einen ökonomischen Katastrophen-Kapitalismus-Komplex als neue Leitindustrie durchsetzt, der auf der umfassenden Privatisierung des Krieges und des weltweiten Katastrophenschutzes aufbaut und einen neuen Sicherheitsstaat gebiert, der der neoliberalen Vision eines gleichsam hohlen Staates (und einer von jeder Kollektivität gereinigten Gesellschaft von vereinzelten Einzelnen) entspricht, ist eine Herausforderung für jede Diskussion um das Wesen und die Zukunft zeitgenössischer Demokratien.

So wie David Harvey und andere zeigt auch Klein auf, dass die von ihr untersuchte ökonomische Theorie und Praxis, dass die ökonomisch durchschlagende Politik der Deregulierung und Privatisierung keine Leidenschaft esoterischer Köpfe, sondern der Kopf einer Leidenschaft bestimmter Gesellschaftskreise ist. Die mittels Schockstrategie durchgesetzte Deregulierung und Privatisierung gesellschaftlichen Reichtums ist das Mittel eines Herrschaftsprojektes, eines Klassenkampfes von oben, der präventiv oder antwortend auf die radikaldemokratischen Bedürfnisse und Bewegungen der von bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft betroffenen Menschen reagiert, indem er ihnen nicht nur die institutionellen Grundlagen ihrer »Gegenmacht« entzieht, sondern, mehr noch, indem er ihnen gleichsam das Bewusstsein ihrer (wie auch immer kollektiv verankerten) individuellen Identität nimmt. Es ist diese Zerstörung einer individuellen wie sozialen Psychologie, ein Nihilismus mit System, die sich im von Klein ausführlich entfalteten Thema der neueren Foltermethoden auf erschreckende Weise niederschlägt. Und auch hier kann von einem falschen Moralismus bei Klein keine Rede sein, denn trotz der berechtigten moralischen Anklage dieser Gräuel betont sie gerade, dass es entscheidend darauf ankomme, zu fragen, wem und welchen Zielen diese Foltermethoden nützen.

Zu den dümmsten Vorwürfen gegen dieses Buch, die man im deutschen Fernsehen und Feuilleton hören und lesen musste, gehört die Behauptung, Klein vertrete eine Verschwörungstheorie. Nicht nur, dass sie sich von einer solchen explizit distanziert. Mehr noch zeigt sie auf, dass und wie das bewusste und mal verschworen-geheime und mal ganz offen angekündigte Handeln bestimmter Individuen und Pressure-Groups zusammenspielt mit der Logik eines gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns, das seine eigene Rationalität besitzt. All das herrschende Böse (ja, man muss es so nennen), das Klein in ihrem Buch so eindrucksvoll schildert, folgt aus dem Denken und Handeln, das seinen historischen Ort in der so genannten Chicagoer Schule des Neoliberalismus, seinen logischen Ort jedoch in der Funktionsweise eines entfesselten Kapitalismus findet, der offen auf individuelles Gewinnstreben und ungezügelte Bereicherungsgier setzt, um die vermeintlichen Kräfte der Marktwirtschaft zu beleben – als ob diese nicht schon viel zu lebendig seien.

Mit dem zunehmenden Übergriff neoliberaler Hegemonie und Logik von der ökonomischen Produktionsweise auf die Gesellschaftsformen als Ganze, hat sich nicht nur die gesellschaftliche und politische Gegenwehr zu formieren begonnen. Auch die wissenschaftliche Publizistik ist wieder in Bewegung geraten und trägt zunehmend mehr zur Orientierung dieser Gegenwehr bei. Ob es dabei reichen wird, die ökonomische Logik des Neoliberalismus nur neu zu regulieren, neu ›einzubetten‹, ist dabei politisch wie wissenschaftlich umstritten – die hier vorgestellten Bücher legen eher ein ›Nein‹ nahe.

 

Verlagsinformationen:

David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus.

Naomi Klein: Schock-Strategie.

Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft.

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