David Harveys Kleine Geschichte des Neoliberalismus
David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich (Rotpunkt Verlag) 2007, 280 S. |
Den in meinen Augen besten Wegweiser durch das unebene Gelände des vorherrschenden Neoliberalismus bietet David Harveys Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Man kann sich dabei dem Urteil von Leo Panitch – seines Zeichens kanadischer Politikwissenschaftler und Herausgeber des angelsächsischen Socialist Register – nur anschließen, der über das Buch seines US-amerikanischen Kollegen schrieb, es sei der bisher schwungvollste, lesbarste, umfassendste und kritischste Führer über und durch den Neoliberalismus, der dessen Ursprünge und Wege über den Globus ebenso aufdeckt wie die verheerenden Konsequenzen, die dies für die Mehrheit der Menschen weltweit bedeutet.
Und gleichsam en passant müssen sich dabei die deutschen Leserinnen und Leser von einer hier noch immer weit verbreiteten These verabschieden, denn es war eben nicht der Zusammenbruch des einstmals real existierenden Sozialismus, der als Ursache der heutigen politischen und sozialen Misere zu gelten hat, denn der war selbst nur eine (wenn auch selbst wieder nachhaltig wirkende) Folge anderer historischer Entwicklungen. Der wirkliche historische Wendepunkt, das zeigt Harvey schlüssig auf, ereignete sich bereits Ende der 1970er Jahre, als die Sowjetunion noch als ein Hort sozialer Stabilität angesehen wurde.
Zu Beginn der 1970er Jahre wurde die kapitalistische Weltwirtschaft von einer tiefen Rentabilitätskrise heimgesucht und stellte die scheinbar stabilen Pfeiler des sozialstaatlichen Kompromisses der 1950er und 1960er Jahre in Frage. Orientierten damals linke Alternativen (sozialistischer und kommunistischer Provenienz) auf die Ausdehnung von staatlicher Regulation und institutionalisiertem Korporatismus, stießen sich gerade hieran die Klasseninteressen des von der Rentabilitätskrise nachhaltig getroffenen Kapitals. Die damals um sich greifende politische Ideologie des Neoliberalismus war vor diesem Hintergrund ein gleichermaßen politischer wie ökonomischer Angriff auf die institutionalisierte Gegenmacht der subalternen Klassen und Schichten, ein Mittel zur Restauration von Klassenmacht. Und sie setzte dabei theoretisch wie praktisch auf ein politisch-ökonomisches Handeln, das – in scharfer Polemik gegen alle Spielarten von realem und vermeintlichem Kollektivismus – die optimale Förderung menschlichen Wohlstandes durch die grenzenlose Freisetzung individueller unternehmerischer Freiheit mittels privater Eigentumsrechte, freier Märkte und freiem Handel propagiert und mittels des Staates institutionell zu organisieren und abzusichern trachtet.
Den weltpolitischen Durchbruch dieses neoliberalen Denkens und Handelns markieren für Harvey vier Ereignisse: die 1978 eingeleitete ökonomische Liberalisierungspolitik des neuen starken Mannes in China, Deng Xiaoping; die Wahl Margaret Thatchers zur britischen Premierministerin im Mai 1979; der von Paul Volcker durchgeführte geldpolitische Kurswechsel der US-amerikanischen Notenbank im Juli 1979, sowie schlussendlich die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA im November 1980. Mit den von diesen Ereignissen ausgelösten Prozessen begann ein gesellschaftspolitischer Kurswechsel in den industriekapitalistischen Zentren, der Stück für Stück eine Denk- und Handlungsweise zur vorherrschenden machte, zu einem hegemonialen Diskurs also, »mit dem viele Menschen ihr Alltagsleben und das Funktionieren unserer Welt wahrnehmen und interpretieren« (Harvey). Die Logik des ökonomischen Konkurrenzkampfes ließ auch andere europäische Metropolenländer auf die neue Wirtschaftspolitik umschwenken. Und mittels der internationalen Schuldenkrise und der von ihr begleiteten Strukturanpassungsprogramme wurde sie zuerst auf die Länder der ›Dritten Welt‹ ausgedehnt und zuletzt auf die ›realsozialistischen‹ Länder.
Harvey zeichnet diese Geschichte schlüssig nach. Doch nicht darin liegt die besondere Originalität seines Werkes. Sie liegt auch nicht darin, dass der versierte Theoretiker einer kapitalistischen Geografie aufzeigt, dass der neoliberalen Globalisierung eine technologisch bedingte Raum-Zeit-Verdichtung zugrunde liegt, die die größtmögliche geografische Reichweite neoliberaler Logiken mit einer möglichst kurzen Laufzeit der Marktkontrakte kombiniert. Sie liegt nicht einmal darin, dass er die neue Qualität der negativen Konsequenzen des Neoliberalismus aufzeigt (vor allem die neue Qualität der Verdinglichung, der »Kommodifizierung« der Welt, die sich vertiefende Umweltzerstörung und die zunehmende Aushöhlung von Bürger- und Menschenrechten) oder dem chinesischen ›Fall‹ ein eigenes umfangreiches Kapitel widmet, in dem er überzeugend nachweist »dass China den Weg der Neoliberalisierung und der erneuten Konstituierung kapitalistischer Klassenmacht beschreitet – auch wenn dieser Weg ›ein chinesisches Antlitz‹ besitzt«. Die wirkliche Originalität seines Werkes liegt vielmehr in seinem politisch-theoretischen Zugriff, in der Tatsache, dass er den Neoliberalismus nicht als eine bloße oder vorrangige Wirtschaftsdoktrin interpretiert, sondern als ein Herrschaftsprojekt, als Klassenkampf von oben. »Was das Ankurbeln der weltweiten Kapitalakkumulation betrifft«, schreibt er, »so war die neoliberale Wende nicht sehr erfolgreich; dagegen ist es ihr bemerkenswert gut gelungen, die Macht einer Wirtschaftselite wiederherzustellen oder – wie etwa in Russland und China – aus dem Nichts zu erschaffen.«
Mit diesem Zugriff aufs Thema kann Harvey schlüssig nachweisen, dass und wie der Staat auch weiterhin eine zentrale Rolle im neoliberalen Klassenkampf spielt. Denn politisch-institutionell haben wir es mit einem radikalen Umbau, nicht Abbau staatlicher Institutionen und Verfahren zu tun, »mit dem Ergebnis einer veränderten Balance zwischen Zwang und Konsens, zwischen Kapitalmacht und breiten Volksbewegungen, zwischen der Macht der Exekutive und Judikative auf der einen und den Kräften der repräsentativen Demokratie auf der anderen Seite«. Und dieser Umbau bleibt naturgemäß in sich unstabil und umkämpft, denn gerade der neokonservative Versuch, die immanenten Probleme neoliberaler Staatlichkeit mittels autoritärer Lösungen anzugehen, produziert mächtige Widerstände.
Mit seinem politischen Zugriff aufs Thema kann Harvey auch die erstaunlichen historischen Wandlungen des Neoliberalismus aufzeigen: Zuerst auf die geschichtliche Bühne getreten als »unheilige Allianz von Big Business und konservativen Christen«, vermag es der Neoliberalismus mittels seines radikalen Individualismus nämlich auch, oppositionelle (›linke‹) Kräfte und oppositionelles Denken dort einzugemeinden, wo diese entweder keine Alternative zu sehen vermögen oder aber den Individualismus zum sakrosankten Ziel an sich proklamieren, wo Befreiung also rein individuell, libertär gefasst wird, und wo Identitäts- und Multikulturpolitik von jenen sozialen Kräften getrennt werden, die diese wirklich umzusetzen vermögen.
Was also tun, fragt der engagierte politische Intellektuelle Harvey? Es gehe vor allem darum, »einen politischen Prozess in Gang [zu] bringen, der uns an den Punkt führen kann, an dem wir machbare Alternativen, also reale Möglichkeiten überhaupt erst identifizieren können«. Und hierfür müsse man aussprechen was ist: »Wenn etwas nach Klassenkampf aussieht und jemand wie im Klassenkampf agiert, dürfen wir uns nicht genieren, die Sache beim Namen zu nennen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung muss sich entweder in die historische und geografische Entwicklung fügen, die durch die erdrückende und noch ständig anwachsende Macht der herrschenden Klasse bestimmt wird, oder sie muss selbst als Klasse reagieren.«
Es fällt wirklich schwer, sich vergleichbare Worte aus der Feder eines deutschen Lehrstuhlinhabers vorzustellen – einfacher dagegen die Folgen, die eine solche Veröffentlichung für dessen weitere Karriere hätte. Wissenschaft und Engagement, das ist noch immer eine heikle Kombination in Deutschland – toleriert einzig als expertokratische »Policy-Beratung«.