Chinesen essen alles
was vier Beine hat – außer es ist ein Tisch
was schwimmt –außer es ist ein U-Boot
was fliegt – außer es ist ein Helikopter 

von Immo Sennewald

Meine Frau ist Chinesin und beteuert, dieses Stereotyp sei von ihren Landsleuten selbst erfunden worden. Es mag albern sein, aber zahllose Hungersnöte mit Millionen Opfern bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein verleihen ihm Sinn. Tatsächlich ist die chinesische Küche unglaublich einfallsreich. Zutaten werden auf mannigfache Weise genutzt, zubereitet, mit Kräutern und Gewürzen veredelt, immer neu komponierte und abgewandelte regionale Gerichte kommen auf den Tisch, und der Gesprächsstoff bei Mahlzeiten – ob schmal oder üppig – ist mitgeliefert: das Essen und seine Wirkung auf Leib und Seele. Für Exotisches, möglichst mit wundersamer Wirkung etwa auf Lust und Fruchtbarkeit, werden exotische Preise gezahlt. Chinesische Küche und chinesische Medizin wachsen auf einem Holz – seit Jahrtausenden.

Beide sind auch seit langem Forschungsobjekte nicht nur in China. Was ist solides Erfahrungswissen, was Aberglaube an der traditionellen Heilkunde? Was lässt sich profitabel ins moderne Gesundheitswesen übernehmen? Lässt sich das Holz veredeln, wild wachsender Hokuspokus eliminieren? Eine heikle Aufgabe, nicht weniger heikel als die, wahre von falscher Information zu unterscheiden – und im Handumdrehen stellt sich die Frage nach der informellen Macht: Wer hat die Deutungshoheit? Was ist Wissen, was Glaube? Was ist Gerücht, Fakenews, gar Verschwörungstheorie?

Die Kommunistische Partei Chinas hat – wie alle, die auf Religionen oder ersatzweise Theorien von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao gründen – nur eine Antwort. Sie duldet keine abweichenden Auffassungen, sie verfolgt gnadenlos alle, die solche vertreten. Zu ihnen gehört Liao Yiwu, ein radikaler Beobachter des Wildwuchses. Seine Romane sind voll davon, das brachte ihn ins Gefängnis, trieb ihn ins Exil. Nun kann er nicht mehr selbst eintauchen in die verschwiegenen Tiefen der Gesellschaft, wie in Fräulein Hallo und der Bauernkaiser, das ihn berühmt machte. Er ist auf Tauchgänge im Internet angewiesen. Dort fischt er nach Wahrheiten in Gesellschaft all jener, die sich aus der Stromlinie regierungsamtlicher Informationen, aus den Schwärmen der Nutznießer, Profiteure, Karrieristen lösen, Überwachungssysteme, Schikanen umgehen, Drohungen missachten: im Trüben.

Das Geschehen der Covid-19-Pandemie ist eine Lektion darüber, wie Regierungen, supranationale Organisationen, Konzerne und ihnen dienstbare Medien den Kampf um die informelle Macht führen, wie sie opake Zonen in Wissenschaft und Kommunikation schaffen, Sprache regulieren, ritualisieren, tabuisieren. Und doch gelingt es immer wieder einzelnen, im Web vernetzten ›Querdenkern‹, Sachverhalte und Zusammenhänge aufzuklären. Sie werden – in China zumal – erbarmungslos gehetzt. Kcriss ist einer von ihnen, ein 25jähriger Blogger und V(ideo)logger, ehemals aufstrebender Moderator im Staatsfunk.

Wuhan beginnt mit einer Autojagd von Sicherheitsdiensten, nachdem sich Kcriss einem streng geheimen P4-Labor genähert hat, dem Ort, an dem mit Fledermausviren experimentiert worden war, dem möglichen Ursprung der tödlichen Seuche. Ehe seine Wohnung von Sicherheitsleuten in Schutzanzügen gestürmt und er selber weggeschleppt wird, gelingt es ihm, eine letzte Videobotschaft herauszusprudeln, sie landet auf dem Computerbildschirm von Zhuang Zigui, dem erzählerischen Ich von Liao Yiwu in Berlin.

Um die Geschichte des ›Wuhan-Virus‹ aufzublättern, erfindet Yiwu ein Gegenüber in China, den Freund und Historiker Ai Ding, der aus Berlin nach China just in den Beginn des Lockdowns hinein geflogen ist und dadurch von Frau und Tochter abgeschnitten wird. Mit allen Mitteln versucht er, nach Hause, nach Wuhan zurückzukehren.

Daraus wird eine Odyssee. Der Leser lernt die schaurig-komischen und brutalen, die lächerlichen und grandiosen Tricks, Winkelzüge, Kraftakte, Schelmenstreiche, Liebesbeweise und Rücksichtslosigkeiten kennen, mit denen Chinesen im Reich der Kommunisten, geführt von Xi Jinping, ums Überleben kämpfen – so sie sich nicht bedingungslos ins System von Überwachung, Kontrollen, Isolation, Desinfektionsorgien fügen.

Während des mehrwöchigen Herumirrens schafft es Ai Ding, aus dem Ozean des Internets brauchbare Dokumente über die Geschichte der SARS-Infektionen und die Forschung an Corona-Viren, über das geheime P4-Labor, die Reaktionen politisch Verantwortlicher bis hinauf zum ›Kaiser‹ herauszufischen, verlässliche von irreführenden Informationen zu trennen und – von Taucherglocke zu Taucherglocke – mit seinem Freund in Berlin auszutauschen. Keine konfliktfreie Zwiesprache, aber für jeden, der sich mit Politik und Medien in Zeiten von Lockdowns, Kontaktsperren, Maskenpflicht und Erlösung durch Impfen befasst hat, vervollständigt sie kontrastscharf und einleuchtend Karten politischer, medialer, virologischer, epidemiologischer, immunologischer Ströme, Untiefen – auch die verschmutzter und tödlicher Zonen nicht nur in China. Für alle, die an Stereotypen hängen: Nein, das Virus wurde nicht durch Verzehr von Fledermäusen, Schuppentieren, Larvenrollern übertragen, sondern entkam höchstwahrscheinlich dem für absolut sicher gehaltenen, von Franzosen und Chinesen gemeinsam eingerichteten und von Amerikanern wie Anthony Fauci mitgenutzten P4-Labor.

Liao Yiwu schöpft seine erzählerischen Fähigkeiten aus, aber damit nicht genug: Er reflektiert über das bedrohliche Potential des Wahns totaler Kontrolle vom Typ ›No Covid‹, zweifelt an der Wirkung seines Schreibens, lässt dem eigentlich Mitte 2020 abgeschlossenen Teil einen Epilog mit der Wuhan-Elegie der Bloggerin Zhang Wenfang folgen, die dafür arretiert, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war, sowie seiner bitteren Ballade: Spucke ist meine einzige Waffe. Er dankt in kurzen Artikeln Helfern, Freunden, Übersetzern, so auch Brigitte Höhenrieder und Peter Hoffmann, die den ›Dokumentar-Roman‹ ins Deutsche übertragen haben; wie schon bei früheren Büchern des Autors taten sie es brillant.

Ein letztes Nachwort widmet Liao Yiwu der Bürgerjournalistin Zhang Zhan. Auch sie wollte über das P4-Labor berichten, wurde abgeholt, verschwand für Monate, wurde misshandelt, zu jahrelanger Haft verurteilt, trat in den Hungerstreik und war im November 2021 dem Tode nah. Das Stereotyp vom deutschen Spitzel, Büttel, Gefängniswärter fällt mir ein. Er erfüllt nur seine Pflicht ›zum Wohl des Großen, Ganzen‹, unerschüttert durch das Leid im Leben der Anderen. Und dazu der Refrain aus einem Gedicht von Peter Rühmkorf:
Bleib erschütterbar und widersteh‘!

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