von Johannes R. Kandel

Ralph Ghadban, aus dem Libanon stammender Islamwissenschaftler, bekannt geworden durch eine Reihe bemerkenswerter kritischer Arbeiten zu Migration, Integration und Islam (vor allem zuletzt mit: »Arabische Clans«, 2018), legt ein neues Buch vor. Ghadban beschäftigt sich schon lange mit den Ursprüngen des Islam und seiner Entwicklung im Lichte westlicher Forschung und der muslimischen Tradition. Seit einigen Jahren finden bedeutsame akademische Debatten statt. Wichtige Beiträge dazu hat ›Inarah‹ geliefert, das ›Institut zur Erforschung der frühen Islamgeschichte und des Koran‹, an dem der Autor beteiligt ist. (Auch ist die Frühgeschichte des Islam 2012 von dem englischen Historiker Tom Holland, »Im Schatten des Schwertes« populär aufbereitet worden, J.K.)

Der Islam fiel nicht vom Himmel

Ghadban sieht die ›Wahrheit‹ über den Islam vergraben unter tendenziösen muslimischen historischen Narrativen, die von der westlichen Orientalistik übernommen wurden. Er möchte dagegen »die von der religiösen Erzählung unterdrückte historische Wahrheit zur Geltung bringen« (S. 10). Ein erster Ansatz ist die Zurückweisung der bekannten islamischen Behauptung, Mohammed habe einem heidnischen Arabien, dass in der ›Dschahiliya‹ (Zeit der Unwissenheit) verharrte, das Licht des Islam gebracht. Dagegen wendet Ghadban unter Einbeziehung aktueller Forschungen ein, dass Mohammed nicht auf eine heidnische, sondern von zahlreichen jüdischen und christlichen Traditionen geprägte, Umwelt traf. Die häufige Bezugnahme im Koran auf jüdische und christliche Terminologie bestätige dies. Um die Ursprünge des Islam freizulegen, müsse der Forscher sich mit christlicher Theologie, Orthodoxie und den historischen Entwicklungen von Judentum und Christentum vor Ankunft Mohammeds beschäftigen.

Christliches ›Milieu‹ im Orient

Ghadban begibt sich mit einem propädeutischen Einstieg in den Dschungel frühchristlicher Theologie, Dogmengeschichte und Religionspolitik. Diesen zu durchdringen ist eine große Herausforderung, wie jeder weiß, der sich schon einmal mit der Frühgeschichte des Christentums beschäftigt hat. Nach der Trennung vom Judentum in der zweiten Hälfte des 1. und der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, entwickelte sich das Christentum aus einer jüdischen Sekte zu einer eigenständigen Religion, basierend auf den »Grundaxiomen« des Judentums: »Monotheismus und Bundesnomismus« (S.19). Die zu dieser Zeit im Gemeindechristentum verbreiteten unterschiedlichen Traditionen wurden zusammengefügt, zunächst durch die Kanonbildung (abgeschlossen im 3./4.Jahrhundert) und die Formierung einer Orthodoxie. Es war eine Krisenzeit des jungen Christentums, eine Zeit scharfer Auseinandersetzungen mit dem Judentum und intensiven innerchristlichen Streites, der bisweilen in Gewalt ausuferte. Es kämpften die Protagonisten unterschiedlicher theologischer Positionen miteinander, wobei im Mittelpunkt des Streites die Christologie stand: War Jesus ›nur‹ Mensch oder auch ›Gott‹? Und wie ließ sich das Verhältnis Jesu zu Gott, dem ›Vater‹ theologisch präziser bestimmen? Ghadban lässt die wesentlichen gegensätzlichen Positionen und Strömungen Revue passieren: Judenchristentum, Gnosis, Arianismus, Duo- bzw. Monophysitismus, Adoptianismus, dynamischer Monarchanismus (Bewährungstheologie) und ›Abrahamismus‹, eine auf Abraham fixierte Sonderform des Monotheismus in den ersten Jahrhunderten. Mit Unterstützung der politischen Macht (Kaiser Konstantin und seine Nachfolger) wurden die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen mit diversen ›Häresien‹ reichsdogmatisch entschieden, auf den Konzilien von Nicäa (325) und Chalcedon (451). Festgelegt wurde dort endgültig die Lehre von der Personeneinheit Jesu Christi in zwei Naturen (wahrer Mensch und wahrer Gott; ὁμοούσιος = ›homousios‹) und der Monophysitismus grundsätzlich abgewiesen. Dies führte zu der folgenschweren Spaltung der Christenheit in eine griechisch-lateinische ›duophysitische‹ und eine orientalische ›monophysitische‹ Richtung. Der griechisch-lateinischen Kirche im Westen standen bald die Nationalkirchen im Osten (Ägypten, Syrien, Armenien) gegenüber. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung im Orient ist die Ankunft und Verbreitung des Islam zu betrachten. Für den fachkundigen Leser sind das weitgehend bekannte Fakten, während der ›Laie‹ hier gewiss einige Schwierigkeiten bekommt und zu den klugen Ausführungen auf den Seiten 15 bis 41 vielleicht erläuternde Zusatzlektüre zu Rate ziehen sollte.

Geschichte und Heilsgeschichte

Im zweiten Abschnitt beschäftigt sich Ghadban sehr kritisch mit den islamischen Narrativen zu Herkunft und Entwicklung des Islam. Die Geschichte des Islam ist als Heilgeschichte geschrieben worden, vor dem Hintergrund des jüdisch-christlichen Milieus im damaligen Arabien, mit dem im 7. Jahrhundert noch nicht die Arabische Halbinsel gemeint war, sondern, in Anknüpfung an die Provinzgliederung im Römischen Reich, die Region von Syrien bis zum Roten Meer und dem Hedschas (S. 63). In den Wirren dieser Zeit im siebten Jahrhundert hatte sich eine Endzeitstimmung ausgebreitet, die ihren Niederschlag in apokalyptischen Schriften und Strömungen fand. Deren Einfluss auf den Islam ist offensichtlich, wie aus zahlreichen Versen im Koran und endzeitlichen Vorstellungen belegbar ist (S. 71). Zwar trat die Bedeutung der Apokalyptik in der Zeit der islamischen Eroberungen zurück (etwa analog zur christlichen ›Parusieverzögerung‹, J.K.), hat aber für das islamische, heilsgeschichtlich orientierte Narrativ Bedeutung gehabt. Ghadban konfrontiert die islamische Heilsgeschichte und ihre Quellen mit historischen Forschungen, vor allem neueren archäologischen Erkenntnissen, Numismatik und Inschriftenkunde. Er zeigt zahlreiche Widersprüche zwischen den islamischen Erzählungen selbst auf und vor allem im Blick auf außer-muslimische Quellen (S. 44ff.) Das kann hier nicht im Detail dargestellt werden, deshalb sollen nur die Themen und kritischen Punkte genannt werden, die bis heute strittig sind: Verhältnis zu den Juden, Gebetsrichtung, geographische Lage und Charakteristik Mekkas als Handelsstadt, Zusammenstellung mündlicher Traditionen zum Koran, Sammlung unter den Kalifen Abu Bakr und Osman sowie die Frage zur Abfassungszeit und der Authentizität des osmanischen Korans. Zweifel an der Historizität mancher Berichte über das Leben Mohammeds werden auch durch die Tatsache erhärtet, dass die bis heute von Muslimen als authentisch betrachtete Biografie Mohammeds von Ibn Ishaq (in der Version von Ibn Hisham) in den Rahmen der Heilsgeschichte eingepasst wurde, d.h. hier wurde eine Biografie konstruiert, die den damals aktuellen Erwartungen des gläubigen Publikums entsprach.

Islamische Theologie und politische Religion

Der Islam sei, so die Grundthese des Autors, eine ›politische Religion‹:

»Der Islam ist nach seinem Gründungsbuch, dem Koran, eine politische Religion. Das Heil der Menschen besteht in der Unterwerfung der Menschheit unter den Willen Gottes durch die umma der Muslime, Kampf, Sieg und Beute sind Bestandteile der Religion und keine Nebenangelegenheiten. Der Erfolg bestätigt die Richtigkeit der Offenbarung mit den Ergebnis, dass die theologische Reflexion der Politik untergeordnet wurde« (S. 106).

Diese Bewertung des Islam korrespondiert zweifellos mit den bisherigen Forschungen zur politischen Religion, beginnend mit dem Klassiker von Eric Voegelin (»Die politischen Religionen«, 1938). Religion wird gezielt zur Macht- und Herrschaftssicherung und zur Legitimation eingesetzt, historische Beispiele gibt es genug, wobei man nicht unbedingt die Totalitarismustheorie bemühen muss. Wie geschieht das im entstehenden Islam? Ghadban beschäftigt sich eingehend mit der Koranforschung und kommt in diesem Zusammenhang, angelehnt an philologisch-textkritische Forschungen (Puin, Luxenberg), zu überraschenden Ergebnissen. Der Islam entsteht in einer Phase heftiger machtpolitischer Konfrontationen zwischen Byzanz und dem sassanidischen Perserreich einerseits und rivalisierenden islamischen Fraktionen andererseits, die nach dem Tode Mohammeds (632) über der von ihm nicht geregelten Nachfolgefrage ausgebrochen waren. Wer sollte der Stellvertreter (›khalifa‹) und Nachfolger des Propheten werden? In diesen unsicheren und blutigen Zeiten islamischer Expansion und innerislamischer Auseinandersetzungen (›fitna‹) war die weit verbreitete apokalyptische Stimmung nur allzu verständlich. Die religiöse Seite dieses Zeitabschnitts bezeichnet der Autor in Anlehnung an die Studien von Volker Popp als

»einen Religionskrieg zwischen den orientalischen Anhängern eines semitischen Verständnisses von Christentum und den Vertretern der hellenistischen und römischen Sonderentwicklung« (S. 93).

Eckpunkte der neu entstehenden Religion waren der Monotheismus und die Überzeugung von der unbedingten Unterwerfung unter den Willen Gottes (=›Islam‹). Der omayyadische Kalif Abdel Malik unternahm die nächsten bedeutenden Schritte, »eine neue Religion zu gründen« (S. 95), bzw. die ideologische Absicherung der von ihm militärisch geschaffenen vereinigten Gemeinschaft der ›Gläubigen‹ (S. 97). Es gelang ihm mittels ›Arabisierung‹, Islamisierung der Verwaltung, Reform des Korans (›diakritische Zeichen‹) und vor allem die Ergänzung des Glaubensbekenntnisses um das Bekenntnis zu Mohammed, dem Propheten des Islam. Die Omayyaden waren bei Juden und Christen, sofern sie der monophysitischen Richtung angehörten, durchaus wohl gelitten, wie es das Beispiel des Johannes von Damaskus (650-754) belegt. Er war von 700-705 als höchster Finanzbeamter bei Kalif Abdel Malik tätig und verstand den Islam bis zu seinem Tode letztlich als die »hundertste und letzte [christliche, J.K.] Häresie« (97).

Ghadban skizziert die Fortentwicklung der islamischen Theologie (›kalâm‹), wobei er die vernunftgeleitete Theologie der Mu’taziliten aus Basra als ungeheure »kulturelle Bereicherung« des Islam heraushebt, gefördert vom Kalif Ma’mun (813-833), der in Bagdad das bekannte ›Haus der Weisheit‹ (›Beit al-hikma‹) erbaute. In dem dort forschenden und lehrenden Wissenschaftler-Team waren zahlreiche Christen und Juden beschäftigt (S.101). So sollten »die nächsten hundert Jahre« die »goldene Zeit der islamischen Zivilisation darstellen« (S. 101). Doch am Ende dieser Jahre stand der Sieg der Traditionalisten.

Die Verdrängung der autonomen Vernunft und die Sakralisierung der Gesellschaft

Der Sieg der Traditionalisten Mitte des 9. Jahrhunderts gelang mittels der Kanonisierung der religiösen Grundaussagen (Koran) und des Rechts (›fiqh‹), durchgesetzt von den ›Religionsgelehrten‹ (›fuqaha‹) und der Politik, d.h. der kalifatischen Staatsmacht. Zur zweiten Quelle des Rechts wurden die mündlichen Überlieferungen, als ›hadith‹ (Mitteilungen, Berichte, Erzählungen etc.), bezeichnet. Diejenigen ›hadithe‹, die sich auf die Taten und Sprüche des Propheten fokussierten, nannte man zusammengefasst ›Sunna‹ [Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm, J.K.]und deren Anhänger ›ahl al-sunna‹. So wurde die Sunna neben dem Koran zur zweiten Hauptquelle des Islam. Die Erläuterungen des Autors zum Entstehen der autoritativen Sammlungen der ›hadithe‹ (Buchari und Muslim) und der vier maßgeblichen Rechtsschulen im 9. Jahrhundert (Hanifiten, Malikiten, Schafiiten, Hanbaliten) sind hilfreich. Sie kamen zu unterschiedlichen Auslegungen in praktischen Rechtsfragen, was an diversen Methoden der Rechtsfindung lag. (S. 107-115). Auch zeigt Ghadban auf, dass zahlreiche ›hadithe‹ zur Legitimation der jeweiligen Rechtspositionen schlicht erfunden wurden. So kommt es zu einer »Islamisierung des Rechts« als dem grundlegenden Selbstverständnis der »neuen Religion« (S.115) und schließlich zur »Sakralisierung« der Gesellschaft. Die Wissenschaft wurde der Religion untergeordnet.

»Dieser Trend der Vertreibung der Vernunft im fiqh erreichte im 10. Jahrhundert seinen Höhepunkt, als das Tor des ijtihad (der freien, vernunftgemäßen Rechtsfindung, J.K.) geschlossen wurde« (S. 114). Das Ergebnis: »Im 14. Jahrhundert waren die profanen Wissenschaften entweder islamisiert oder aus dem islamischen Kulturraum verschwunden« (S. 119).

Das Recht übernahm die Funktion der Theologie und es wurde eine Pflichtenlehre entwickelt, jedoch entstand keine Orthodoxie analog zur Entwicklung im Christentum. Was ›islamisch‹, was Glauben oder Unglauben (›kufr‹) war, legten die Rechtsgelehrten fest, gestützt von der politischen Macht.

Religionskritik in der Moderne, die ›Nahda‹ und die ›Koranisten‹

Aufklärung und Moderne waren nicht nur für Europa eine geistes- und kulturgeschichtlich epochale Wende, sondern auch eine gewaltige Herausforderung für das versteinerte System des Islam. Der Niedergang des Osmanischen Reiches, beginnend mit der verheerenden Niederlage vor Wien 1683, die schrittweise Einführung westlich-säkularen Rechts durch den Sultan, das Streben nach Bildung eines Nationalstaates und die Modernisierungsaktivitäten von Muhammad Ali Pascha (1805-1848) in Ägypten, waren die entscheidenden äußeren Faktoren für die Entfaltung einer islamischen Renaissance (›Nahda‹). Islamreformer wie Gamal ad-din Afghani (1838-1897) und Muhammad Abdou (1849-1905) nahmen die europäische Herausforderung an, formierten sich aber gegen blinde Übernahme des »modernen Säkularismus der Nationalisten«. Sie machten dagegen geltend, »dass der wahre Islam die Bestätigung der autonomen Vernunft« sei »und das wissenschaftliche Denken gerade fördere« (S.132) Klassisch ist hierfür die Auseinandersetzung zwischen Afghani und dem französischen Schriftsteller, Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan, der in seinem berühmten Vortrag am 29. März 1883 an der Sorbonne behauptet hatte, der Islam habe »die Wissenschaft und die Philosophie immer verfolgt« und »sie schließlich erstickt« (S. 134). Afghani hielt dem entgegen, dass dies nicht an der Religion, sondern den Völkern liege, die den Islam adaptiert hätten. Alle Religionen seien »intolerant«, aber dennoch wäre Fortschritt möglich (Replik von Afghani im Wortlaut bei: Kurzman, Modernist Islam 1840-1940, S. 107ff. J.K.) Der Islam müsse zu seinen Ursprüngen zurück, zum »Koran und der Tradition der rechtgeleiteten Kalifen«, d.h. der ersten vier Kalifen (S. 136). Ghadban lässt weitere Reformisten Revue passieren, deren kleinster gemeinsamer Nenner darin bestand, Glaube und Vernunft als kompatibel zu betrachten. Auf politischem Gebiet ließ die Kritik von Abdous Schüler, dem Scheich Ali Abdelraziq (1887-1966), aufhorchen. Nach der Abschaffung des Kalifats 1924 in der Türkei, formulierte Abdelraziq in seinem aufsehenerregenden Werk Der Islam und die Grundlagen des Regierens (1925) eine grundstürzende Kritik des Kalifats, das er nicht aus der Religion begründet betrachtete, sondern als Ergebnis eines »Streits um die Macht« (S. 140). Auch die historisch-literaturwissenschaftliche Kritik am Koran als einem unfehlbaren religiösen Offenbarungstext verstärkte sich (von Taha Hussein bis zu Nasr Abu Zaid) (S. 141ff.). Über die kritische Koranexegese hinaus, wurde auch die Sunna zum Gegenstand fortschreitender Religionskritik, Befürworter und Gegner trafen hart aufeinander. Die Kritiker der Sunna machten auf die zahlreichen Fälschungen von ›hadithen‹ aufmerksam und Scheich Abu Raya (1889-1970) entlarvte gar Abu Huraira, den »berühmten Hadith-Überlieferer als Fälscher und Opportunist« (S. 147).

Eine Gruppe radikaler Kritiker der Sunna wurde im 19. Jahrhundert unter dem Namen ›Koranisten‹ bekannt. Diese zeigten zahlreiche Fälschungen von ›hadithen‹ und haarsträubende Widersprüche zu koranischen Aussagen auf. Sie bestritten die Gültigkeit und Glaubensnotwendigkeit der Sunna und forderten die alleinige Konzentration auf den Koran. Ghadban lässt, beginnend mit dem Ägypter Muhammad Tawfiq Sidqui (1881-1920), eine ganze Reihe dieser mutigen Kritiker vom 19. bis ins 20. Jahrhundert Revue passieren. Die grundstürzende Kritik stieß, wie zu erwarten war, auf den entschiedenen Widerstand der Traditionalisten, die an den Schalthebeln der religiösen und politischen Macht saßen. Zahlreiche Kritiker wurden verfemt, verdammt, verfolgt, verhaftet oder ins Exil getrieben, wie z.B. der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010), der nach der erzwungenen Scheidung von seiner Frau 1995 ins Exil in die Niederlande ging. Der bedeutendste ›Koranist‹ war der syrische Ingenieur Muhammad Charour (oder auch Shahrur) (1938-2019), der in seinem maßgeblichen Werk Das Buch und der Koran (1992), die Sunna als eine spät gesammelte politisch motivierte Fälschung bezeichnete und sie daher nicht als authentisch ansah. Diese unheilvolle »Sakralisierung der Sunna« und die Behauptung von der »Unfehlbarkeit des Propheten« (S. 157) habe, so Ghadban, mit dem Begründer der islamischen Rechtstheorie (›usûl al-fiqh‹) al-Schafi’i (767-820) begonnen und bestehe bis heute fort. (Wovon sich jeder überzeugen kann, der nur einen flüchtigen Blick in die hierzulande von den islamischen Verbänden angepriesene Literatur wirft, J.K.) Ghadban setzt den Koranisten ein literarisches Denkmal:

»Sie begründeten die Gleichheit zwischen den Geschlechtern, die Überflüssigkeit der Geschlechtertrennung, sie sexuelle Selbstbestimmung, die Gleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, die Legalität des Zinses, die Glaubensfreiheit, die interreligiösen Ehen, die politischen und religiösen Rechte der Frauen, die Menschenrechte; sie plädierten kurz gesagt für einen säkularen Staat, in dem alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben mit denselben Rechten und Pflichten leben können« (S. 160).
 

Die Spaltung der ›nahda‹, die Salafisten, der Wahhabismus und der politische Islam

Innerhalb der ›nahda‹ zeichneten sich nach Abschaffung des Kalifats 1924 unterschiedliche Orientierungen ab, wobei es letztlich zur Spaltung der Bewegung in einen rationalistisch-liberalen Zweig und einen gegen die Vernunft gerichteten fundamentalistischen Zweig kam. Aus dem fundamentalistischen entwickelten sich verschiedene Strömungen: der Salafismus, der Wahhabismus, d.h. schließlich der politische Islam oder Islamismus. Dabei gab es zunächst Gemeinsamkeiten zwischen den ›Liberalen‹ und den Salafisten: Beide wollten zurück zum ursprünglichen, ›wahren‹ Islam, d.h. in der Sprachregelung der Salafisten zum Koran, der Praxis der ›salaf‹ (der frommen Väter, J.K.) und des Propheten »wie sie in der Sunna wiedergegeben sind« (S.167). Den Liberalen lag dagegen an der Wiederherstellung eines vernünftigen Islam. Beide richteten sich gegen den ›Volksislam‹ (v.a. den Sufismus) und den Westen, jeweils aus verschiedenen Gründen. Für die rationalen Aufklärer galt die »Anwendung der Vernunft ohne Einschränkung sowie die vorhaltlose rationale Interpretation,ta’wîl«; (s.168), den Salafisten war im Rückbezug auf die ›salaf‹ lediglich an der »Säuberung der Erneuerungen, bi’da« (S. 167) gelegen (Theologie, Philosophie). Ghadban verfolgt die Entwicklung durch die islamische Geschichte und zeichnet den Aufstieg des politischen Islam und seiner Vorläufer (Wahhabismus) nach, wobei wiederholt die ausgezeichnete Kenntnis des Autors zur Geschichte des Islam zum Tragen kommt (S. 167-186). Die Vertreter der liberalen Religionskritik, verbunden mit der politischen Linken, die auf einen säkularen Nationalstaat hinarbeiteten, erlagen letztlich dem Übergewicht der Traditionalisten und Islamisten. Sinnfällig wird die Übermacht der Islamisten in der 1928 gegründeten ›Muslimbruderschaft‹ in Ägypten, gewissermaßen die ›Mutter‹ aller islamistischen Bewegungen. Liberale wurden – in der mildesten Form der Feindseligkeit – ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, aber eine Reihe von ihnen bezahlte ihre Courage mit dem Leben: So wurde der ägyptische Autor Faraj Fuda (1946-1992) von der Terrororganisation ›al-djamâ’a al-islâmiya‹ 1992 in Kairo regelrecht hingerichtet (S.183).

Der Arabische Frühling und die neue Religionskritik

Ghadban ist davon überzeugt, dass der ›Arabische Frühling‹ trotz seines politischen Scheiterns doch eine bemerkenswerte neue Religionskritik ausgelöst habe, die sich auf die bislang unwidersprochenen heiligen Traditionen beziehe. Neu daran sei, dass diese »das religiöse Milieu in den religiösen Institutionen« erreicht habe (S. 188). Zum Beleg seiner These präsentiert er sehzig auf YouTube veröffentlichte Videos kritischer arabischer Autoren (S. 190-288). Für den deutschen Leser hat er die wesentlichen Aussagen der arabischen Autoren knapp und nach Themen gegliedert zusammengefasst. Die ganz große Mehrheit von ihnen sind Sunniten, nur zwei Schiiten werden genannt. Sie kommen überwiegend aus Marokko, Tunesien, Syrien, aber auch Saudi-Araber und Palästinenser sind dabei. Hilfreich sind die kurzen Angaben zur Person der Betreffenden (S.314-317) und ein Glossar zu den wichtigsten arabischen Begriffen (S. 317). Bis auf drei Namen (Hamed Abdel Samad, Hamid Tawfiq und Wafa Sultan) kannte ich keinen, obwohl ich mich auch viele Jahre mit Islamkritik und Islamreform beschäftigt habe. *** Ghadban hat hier ein einzigartiges Kompendium kritischer Stimmen aus der arabisch-islamischen Welt zusammengestellt, das dem des Arabischen unkundigen Leser faszinierende Perspektiven in die dort schon länger stattfindenden Diskurse bietet.

Die Personen und Inhalte der vorgetragenen Kritik können hier aus Platzgründen nicht alle genannt werden. Nur so viel: Immer wieder geht es um die ›Offenbarung‹, den ›Koran‹ und die ›Sunna‹. Widersprüche und Fälschungen werden aufgezeigt. Zum Koran wird angemerkt: Dieser sei nicht schlicht »Gottes Wort«, es sei Menschenwort, von »Gott inspiriert« (S. 195). Aus der Sammlung von 700 000 ›hadithen‹ soll der Herausgeber der bis heute von den Traditionalisten als authentisch anerkannten Kompilation, al-Buchārī, nur 5000 für akzeptabel gehalten haben: »Das allein zeigt das Ausmaß der Fälschungen« (S. 221). Rashid Aylal bezweifelt gar die Autorenschaft von al-Buchārī (S.228f.). Andere verweisen auf einige von ihm präsentierte ›hadithe‹, die geeignet sind, den Islam »lächerlich‹ zu machen, so z.B. ein ›hadith‹ über »Unzucht« bei Affen oder über das »Stillen der erwachsenen Männer, damit sie mit den Frauen allein sein dürfen« (S.225). Die al-Azhar Universität habe dagegen autoritativ erklärt: wer al-Buchārī misstraue, sei »ein Gottloser, fâsiq, und sein Zeugnis sei ungültig« (S. 232). Massiv beschweren sich die Kritiker über Salafisten und Muslimbrüder, welche die ehrwürdige Universität »vom Kopf her unterwandert« hätten (S.233). Scheich Muhammad Abdullah Nasr, der von Islamisten bedroht wird, formuliert eine grundsätzliche Kritik an al-Azhar und verweist auf die stereotypen Repliken der Traditionalisten, die er als »Schwerter zur Abwehr« bezeichnet: Der »Konsens der Gelehrten«, der Rückbezug auf die »Altvorderen und ihre Tradition«, und ihre Einmischung in das Alltagsleben (S. 235). Freies, selbständiges Denken sei nicht erlaubt, denn es werde nur die Methode der Nachahmung (›taqlīd‹) gestattet. Die Vernunft habe keine Chance, weil die »Religionsgelehrten .. aus der Religion ein Sammelbecken für Okkultismus und Aberglaube gemacht« hätten (S. 247). Der Koran trete hinter die Tradition völlig zurück (S. 235).

Deutlich werde die Wissenschaftsfeindlichkeit des Islam: Verfemung und Verfolgung von Geistesgrößen auf verschiedenen Gebieten, z.B. Al-Kindi, Philosophie, Ibn Sina (Avicenna), Medizin, Hassan ibn al-Haitham, Optik, Jaber Ibn Hayyan, Chemie. Einer der Chefideologen der Traditionalisten, dessen Werke bis heute von Islamisten verschlungen und zitiert werden, Ibn Taimiya (1263-1328), verdammte die Chemie als »haram« (S. 197). Die Rückständigkeit des Islam auf wissenschaftlichem Gebiet, die den Traditionalisten wohl bewusst war, versuchten sie mit einem Trick zu leugnen: Jede Erfindung, alles Neue wurde auf Koran und Sunna zurückgeführt, um die Überlegenheit des Islam zu retten und zu beweisen:

»Die hervorragenden wissenschaftlichen Entdeckungen dienen nicht als Anreiz zum Einsatz der Vernunft, um in der Tradition von Averroes die Welt zu verstehen, sondern als Anlass, um in den religiösen Schriften etwas zu suchen, das eventuell darauf hinweist« (S. 277).

Kein heikles Thema wird ausgespart, auch nicht die ewige Debatte über Hass und Gewalt im Islam. Der Koran predige Hass und Gewalt (Yussuf al-Siddiq, S. 201f.). Sarkastisch merkt der marokkanische Historiker Rachid Aylal an: »Wir haben es hier mit einem Gott zu tun, der sieben Milliarden Menschen erschafft, um 90 Prozent von ihnen zu hassen« (S.202, auch S. 281). Bekanntlich wurden mittels der Methode der Abrogation (die späteren Verse ersetzen die früheren, J.K.) die früheren friedlichen Verse im Koran zugunsten der späteren kämpferischen getilgt. Dies geschah aus politischen Gründen: »Sie wollten die Menschen regieren und beherrschen« (S. 203).

Die Vorstellungen im Koran von Paradies und Hölle werden sehr spöttisch kommentiert. Ein Autor vergleicht das islamische Paradies mit einem

»Schafstall. Es gibt nur Essen, Trinken, Verehelichen und Weintrinken«. Und: »Für die Frauen gibt es keine Huri. Die arme Frau, die rechtschaffene, wartet auf ihren Mann, er hat tausend Huri, das kann eine Million Jahre dauern, bis sie dran ist« (S. 208).

Die Ausmalung des Paradieses und der Höllenstrafen dienen als »Anreiz und Drohung« zugleich (S. 210). Den Männern wird ewige sexuelle Potenz versprochen, damit sie ihre diesseitigen Versagensängste überwinden können. Offenbar kommen auch nicht nur die Ungläubigen in die Hölle, denn ein ›hadith‹ verkündet, dass der Prophet die Spaltung der ›umma‹ in 73 Sekten prophezeit hat, von denen nur eine errettet wird. Es wird teilweise sehr grundsätzlich daran gezweifelt, dass Mohammed überhaupt existiert hat (S. 218f.). Hat er gelebt, so wird Kritik an der »Vergöttlichung« Mohammeds geübt und darauf hingewiesen, dass er nur ein fehlbarer Mensch gewesen sei. Was über ihn in der ›sira‹ (der Biographie Mohammeds, J.K.) und den ›hadith‹ geschrieben stehe, sei »zweifelhaft und taugt nicht als Basis für die Scharia«. Für sein Verhältnis zu Gott und den Gottesdienst brauche der Muslim die Scharia nicht (S.216f.). (Siehe dazu auch Nagel, Allahs Liebling, 2008).

Weitere Themen sind das Verhältnis von Staat, Politik und Religion, die Apostasie und die Frauenfrage. Scheich Ayad Jamaladdin fordert klar und deutlich den religiös neutralen säkularen Staat (S.272f.) – in der Wahrnehmung der Traditionalisten ein Sakrileg! Das Verlassen des Islam wird im Koran nicht als Verbrechen betrachtet, das im Diesseits mit dem Tode zu bestrafen sei. Genau dieses fordert aber die Tradition. Trotzdem wagen es immer mehr Muslime, den Islam zu verlassen. Ahmad Haraqan begründet seinen ›Abfall‹ mit den Versen im Koran, die »Leid und Hölle« verkündeten und die Sakralisierung Mohammeds, inklusive »Terror und Gewalt« verewigten (S. 286).

Nicht zu vergessen ist die seit Jahrhunderten diskutierte Stellung der Frauen im Islam. Ganze Bibliotheken sind mit diesem Thema gefüllt worden. Die muslimischen Reformer beklagen die Unterordnung, Diskriminierung, Bevormundung und allseitige Kontrolle der Frau durch ein ausschließlich von Männern geprägtes Recht. Es regiere ein »Sexismus«, der die Frauen zur permanenten Bereitschaft zum Sex verurteile und den Mann als Triebwesen darstelle, stets »startbereit wie ein Stier« (S. 266). Das Kopftuch sei im Koran nicht als Verpflichtung für alle Muslime belegt:

»Es gibt im Koran keinen Text, der das Kopftuch rechtfertigt, und kein Wort, das diese Bedeutung hat. Alles wurde sehr spät von den Gelehrten erfunden…« (S. 269).
 

›Paradimenwechsel‹: Eine neue Religion und Theologie?

Ghadban ist recht optimistisch. Es gebe »eine ganze Schar von Intellektuellen und eine bedeutende Anzahl an Religionsgelehrten, die ihre Religion hinterfragen« (S. 289). Eine religionskritische Stimmung habe sich ausgebreitet und eine »schleichende Säkularisierung« eingesetzt (S.289). Ausgehend von Zahlen, die vom ›Arab Barometer‹ der BBC veröffentlicht wurden, hat in zehn arabischen Ländern und den palästinensischen Gebieten der Anteil der Nichtreligiösen von 8 Prozent im Jahre 2013 auf 13 Prozent 2018/19 zugenommen, bei den jüngeren zwischen 18 und 30 Jahren gar auf 18 Prozent. Immerhin, das ist schon ein bemerkenswerter Trend. Doch was kann prognostiziert werden? Gewiss gibt es mehr mutige Religionskritik und auch immer mehr Muslime, die trotz der anhaltenden scharfen Apostasie- und Blasphemiegesetze entweder den Islam verlassen, oder zum Christentum konvertieren. Ob eine neue Theologie im Kommen ist, die mit den Traditionen aufräumt und sich wieder am Vernunftgebrauch der mutazilitischen Schule orientiert, steht dahin. Ich bin da etwas skeptischer als der Autor. Die Traditionalisten, Salafisten, Islamisten verteidigen ihre versteinerte Religion mit Zähnen und Klauen. Ghadban sagt ja auch: »Die Macht der religiösen Institutionen ist ungebrochen« (S. 302). Solange die Staatsmacht die (fragwürdigen) Traditionen und ihre Propagandisten stützt, wird sich wenig ändern. Immer noch bedarf es großer Courage wider den Stachel zu löcken. Wir im ›Westen‹ stehen am Rande, aber könnten Diskursräume öffnen für die muslimischen Kritiker. Was jedoch hierzulande geschieht, stimmt nicht sehr optimistisch. Das weiß Ghadban auch und hat es in seinem vorhergehenden Buch Die Arabischen Clans weidlich beklagt. Der Staat, von den christlichen Kirchen ganz zu schweigen, kooperiert nicht mit den wenigen Reformern und ›Liberalen‹, sondern kuschelt mit den reaktionären Islamverbänden und Islamisten. Die von der staatlichen Islampolitik ausgegrenzten ›Islamkritiker‹ (ein ihnen feindselig aufgeklebtes Etikett!) haben wenig Möglichkeiten, gehört zu werden. Dafür könnten zahllose Beispiele genannt werden, was an dieser Stelle nicht möglich ist. Eine eigene Studie wäre dafür erforderlich. Die bisherigen ›Deutschen Islamkonferenzen‹ haben armselige Ergebnisse erbracht und die konservativ-islamistischen Positionen des Verbandsislam eher noch gestärkt. Einer der schärfsten Islamkritiker, Hamed Abdel-Samad wandte sich dann auch mit Grausen und trat aus der Islamkonferenz aus.

Was bleibt? Die von Ghadban glänzend präsentierten Tendenzen neuer Religionskritik sind immerhin ein Pfund, mit dem gewuchert werden kann, immer in der Hoffnung, dass sich die vernünftigen und daher besseren Argumente gegen versteinerte Traditionen und politische Ideologien in religiösem Gewande durchsetzen werden.

 

***[Das lag vor allem an der Sprachbarriere. Von 2005 bis 2011 habe ich seinerzeit bei der Friedrich-Ebert-Stiftung internationale Foren zur Islamkritik und Islamreform veranstaltet: ›Berlin Forum for Progressive Muslims‹, an denen der Autor auch aktiv teilgenommen hat. Dabei sind kritische Themen sehr kontrovers diskutiert worden. Dokumentationen können der in der Digitalen Bibliothek der FES eingesehen werden. (Katalog der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung (fes.de): https://library.fes.de/TouchPoint/start.do?View=sunrise)]