von Ulrich Schödlbauer

Hier wird ein Knall vorbereitet, der beispiellos in der deutschen Nachkriegsgeschichte sein wird.
Leserkommentar, gefunden auf Tichys Einblick

I.

Regierungen, die nicht rechtzeitig abgewählt werden, nähren sich vom Zerfall. Der Bürgerblick wendet sich von ihnen ab und einer ungewissen Zukunft zu: Was ist dort zu sehen? ›Nichts‹, verkünden die Klugen, Spötter und Resignierte in einem, ›Umbrüche‹, große Umbrüche die Vorsichtigen, die kühn sein wollen und das Unvermeidliche als überlebensgroßen Schatten an der Wand buchstabieren. Der große Rest wartet ab und vertreibt sich die Zeit damit, vor ›sich abzeichnenden‹ Tendenzen zu warnen, der Tendenz zur wachsenden Demokratiefeindlichkeit etwa – ein Dauerbrenner des politischen Geschäfts. Man könnte ihn das Geschäft der Meinungsblockierer nennen, derjenigen Leute also, die sich blendend in der politischen Gegenwart eingerichtet haben und unruhige Blicke auf alles richten, was ihrem behäbigen Dasein gefährlich werden könnte. Die Dinge laufen doch bestens, so der Refrain ihrer medialen Zuarbeiter, wer daran etwas ändern will, kann nur verdächtig sein.

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Diese verdächtigen Subjekte wollen vor allem das eine: Sie wollen an die Macht. In der Regel empfinden sie die Aktivitäten der Meinungsblockierer als hilfreich. Meinungen, soviel verrät ihnen die Geschichte, lassen sich nicht blockieren. Bewusstsein kennt keine hermetisch abgeriegelten Räume. Wer Türen und Fenster verriegelt, muss erschreckt feststellen, dass irgendwann das Wasser durch alle Ritzen dringt und endlich von der Decke tropft. Wer blockiert, gibt sich Illusionen hin: kein schöner Anblick, kein überzeugender Anblick, kein sauberer Anblick auf Dauer. Zum ältesten politischen Inventar gehört der ›Saubermann‹. Nicht ohne Grund: Reinigungsrituale existieren für die Politik ebenso wie für den privaten Hausgebrauch. Laufen die Dinge gut, bleiben sie, oft über lange Zeiträume, ausgeblendet, bis man sich ihrer zu gegebener Zeit erinnert. Dann erscheint der Saubermann als Tabubrecher, der den Widerwillen, manchmal den Hass der Gesellschaft auf sich zieht: Der Bote ist die Botschaft. Im Hintergrund wirkt die Logik mehr oder weniger homogener Gemeinschaften: Nur der gekonnte Tabubruch entwickelt jene Dynamik, die ausreicht, einen fatalen Mehrheitskonsens zu zerbrechen.

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Unsaubere Praxis gegen unsaubere Gesinnung – wer bietet mehr? Das Spiel scheint offen, aber dem scheint nur so. Soll sie in diesem ungleichen Kampf bestehen, muss auch die geltende Praxis sich eine Gesinnung zulegen. Das kann, nach Lage der Dinge, nur eine Gegen-Gesinnung sein. Soll heißen, die geltende Praxis treibt, ganz von allein, ins Kielwasser der Empörung, die ihre Wortführer so beredt verdammen. Auf diese Weise steigert Bewusstsein sich aneinander und beendet den Status quo ganz ohne weiteres Zutun, indem es ihn in einen neuen status quo ante überführt. Das Bevorstehen übt eine unwiderstehliche Macht auf alle aus, die sich nicht wirklich bewegen wollen. Es schiebt, es drängt, es bedrängt sie, es nötigt sie: Mit einem Mal sagen und tun sie Dinge, die, im Sinn des Bestehenden, besser ungesagt und ungetan blieben, bis hin zur Publikumsbeschimpfung, deren Komik auf dem erreichten Grad der Erregung prompt untergeht. Ja gewiss, vieles am Kampf der erhitzten Gemüter wirkt komisch. Es merkt nur keiner. Im Sommerloch genügt dann die unbedarfte Geste eines Fußballspielers, um das Stadion der wohlfeilen Gesinnungen auf Wochen hinaus in einen Hexenkessel zu verwandeln: die Szene verengt sich zum Tribunal.

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Das Ende der Regierung Merkel ist nicht vorher-, aber absehbar. Damit stellen sich lange Zeit mehr oder weniger erfolgreich blockierte Fragen. Welche strukturellen Verschiebungen in der Wählerschaft und im Parteiengefüge sind in Gang, welche auf kurze, mittlere und längere Sicht zu erwarten? ›Struktur‹ ist gut, Struktur ist immer dann gut, wenn ungeprüfter Gestaltungswille auf ideologisch zementierte Routine trifft. Wahlniederlagen und Umfragewerte, zu anderen Zeiten als ›vernichtend‹ analysiert, spielen Schicksal, dem man sich willig unterwirft, weil einem keine andere Wahl bleibt. Die neue Lust am ›Verschwinden der Volksparteien‹ ist erkennbar ein Faktum, das analysiert werden sollte. Aber Vorsicht: in den Strukturen versickert die Schuld, für die niemand einstehen will, um an ungeeigneter Stelle als Selbstzerfleischung fröhliche Urständ zu feiern. »Welche Schuld?« fragt der Parteifreund, der stets auf die Linie achtet, auch wenn er sie in den wolkigen Sprüchen der Oberen nicht immer zu erkennen vermag. Schuld, mein Freund, sind immer die anderen, es kommt darauf an, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. So wird eine Regierung mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum am Ende moralisch – ›hypermoralisch‹ nennen es Gegner, denen daran liegt, die herrschende Moral zu diskreditieren. Das Wort stammt aus der Mottenkiste der Gesinnungskritik, die selbst auf Gesinnungen pocht, aber es stimmt: Die publizierte Moral derer, die gerade am Drücker sind, pflegt kein großer Glanz aus innen zu sein, sondern die speckige Außenansicht einer abgegriffenen Sache.

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Was für die Politik gilt, das trifft auch auf die Medien zu. Als Teil des politischen Kräfte- und Spannungsfeldes sind sie nicht in gleichem Maße rechenschaftspflichtig wie die Politik. Sie sind, um es vornehm auszudrücken, sensibel, und das in mehrfacher Hinsicht: gegenüber den Einflüsterungen der Macht, gegenüber der zahlenden Leserschaft und ihren Wanderbewegungen, gegenüber dem technologischen Wandel und, nicht zu vergessen, den mehr oder weniger volativen, mehr oder weniger subtilen Informations- und Desinformationsstrategien im nationalen und internationalen Raum. Desinformation lautet das Gebot der Stunde. Entsprechend bedarf es der Stundenzähler, um ihren Bocksprüngen auf der Spur zu bleiben. Was galt, was gilt, was hat schon gegolten und seine Zeit hinter sich? Was ist abgegolten, was drängt sich in Geltungsposition, mit welchen Mitteln, mit welchen Aussichten? Die Fake News-Parade der angeschlagenen, unter jähem Bedeutungsverlust ächzenden amerikanischen Leitmedien, angeheizt von einem begnadeten, zum ›homo sacer‹, zum globalen ›Narren‹ beförderten Player, erweist sich, eins zu eins in die heimischen Verhältnisse übersetzt, als Scharade: Was fehlt, ist der konsistente, in Zeit und Raum identifizierbare Gegner. Das atemlose Stöhnen der ›Guten‹, der fließende Wechsel der Themen und Anlässe, das Übermaß an Häme und schierem propagandistischem Nonsens lässt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Medien schwinden – beim klickenden Publikum erzeugt es eine selten angetroffene Informationswut, in der sich Enttäuschung, Empörung und Gleichgültigkeit angesichts des ebenso flüchtig Geschriebenen wie Gelesenen sammeln und gleichsam bei abwechselnd lodernder und schwindender Flamme verbrennen.

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Es ist oft bemerkt worden: die faktische Allparteienregierung aus CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP (soweit im Bundestag vertreten), unter Einschluss kooperationswilliger Teile der Linken, hat nicht nur das Wechselspiel von Regierung und Opposition im Bundestag ausgehebelt. Sie hat, vorsichtig ausgedrückt, die deutsche Öffentlichkeit in einen neuen Aggregatzustand überführt. Zum – gefühlten – nanny state, der, neben Recht, Umwelt, Sozialem und Infrastruktur, die geistig-moralische Betreuung seiner Bürger als Aufgabenfeld entdeckt hat, ist eine Nanny-Öffentlichkeit hinzugetreten, aus der mit der Verlässlichkeit der Ware Information auch die kritische Distanz zur Macht diffundiert zu sein scheint – also gerade jene beiden Kontributionen der vierten Gewalt, ohne die eine parlamentarische Demokratie auf Dauer nicht existieren kann. Macht machtet – sie erzeugt Abhängigkeit, alternativlose Macht erzeugt alternativlose Abhängigkeit, alternativlose Abhängigkeit erzeugt Einbahnstraßen-Bewusstsein, Einbahnstraßen-Bewusstsein erzeugt Ergebenheit, Ergebenheit erzeugt moralische Indolenz, Indolenz erzeugt Abwehr, Abwehr erzeugt Wut und gelegentlich Hass, also gerade den Stoff, dessen ein Establishment auf Abruf bedarf, um sich im Recht zu fühlen und letzteres vorsorglich anzuschärfen. Gefühltes Recht ohne Richter ist Rechthaberei ohne Ende, ein schwindelerregender Sturz in den Malstrom einer urteilslosen Gesellschaft.

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Nichts ... nichts charakterisiert die Atmosphäre der letzten Jahre so sehr wie die anschwellende, in allen Tonlagen vor, hinter und unter der Hand geflüsterte Frage: Wo leben wir eigentlich? Nicht wie, nicht warum, nicht wofür, nein: wo? Warum so ratlos, ließe sich zurückfragen, da die Antwort doch auf der Hand liegt: In diesem unserem Land mit seinen altbekannten, reflexhaft eingefahrenen Ritualen, in dem ›wir‹ dennoch, folgt man einer gern verhöhnten Wahlkampfparole, ›gut und gerne leben‹. Wirklich? Anders zurückgefragt: dieses anschwellende Wir, von vielen arglos, von anderen mit erschreckender Schärfe gebraucht – steht es für die Staatsbürger dieses Landes, die sich ihrer Stellung im Gemeinwesen nicht mehr sicher sind? Für eine politische Fraktion unter ihnen, die sich an oder über den Rand des erwünschten oder erlaubten Spektrums gedrängt sieht? Für den ›einfachen Mitbürger‹, der an kultureller Dissoziation zu leiden beginnt und Sicherheit und Ordnung, die beiden Grundfunktionen des Staates, nicht mehr gewährleistet sieht? Für einen unbestimmten Mix aus alledem? Angenommen, ›wir‹ wüssten, wofür es steht, wüssten es ganz genau – wer wären dann wir? Dieses allgegenwärtige Wir, wir ahnen es bereits, ist nicht objektivierbar. Es ist eine intrinsische Größe, die mit jedem Propagandaspruch fremdgeht.

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Nein, es ist ihr Land nicht mehr. Eine wachsende Zahl lieber Mitbürger hat ihm den Rücken gekehrt und freut sich bereits auf die Rückkehr aus dem Exil, dem inneren wie dem äußeren, sollten die Dinge sich irgendwann wenden. Die forscheren unter ihnen denken ans Auswandern und stellen Visa-Anträge, vorerst, um noch ein wenig von der Welt zu sehen, bevor man weitersieht. Die Grimmigen unter den Zweiflern sehen entschlossen weiter und halten den Blick starr auf das Gebälk des Systems gerichtet, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, zu dem es zusammenkracht. Ist es schon so weit? Ist es wieder so weit? Die Neugier wächst, das Publikum sammelt sich. Auf keinen Fall will es das Ende der Verunsicherung verpassen, in die eine wechselweise als ›Glücksfall‹ und als ›naiv‹ empfundene Politik das Land gestürzt hat.

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Der Duden, Sprach-Ratgeber in allen Lebenslagen, kennt das Wort ›Gegenöffentlichkeit‹, aber er kennt nicht seine Bedeutung. Das ist merkwürdig und hilft, die Wahrnehmung zu schärfen. Jeder Stammtisch kennt die Regel, der zufolge eine »sich gegen eine als öffentliche Meinung geltende oder als solche dargestellte Ansicht artikulierende Gegenmeinung« – so die Definition des Dudens – unterschiedlich darstellt, je nachdem, ob sie öffentlich oder privat geäußert wird. In den sozialen Medien mag der Unterschied verschwimmen, aber das ändert nichts daran, dass eine Meinung, gleichgültig, ob sie als Original- oder Gegenmeinung daherkommt, ›öffentlich‹ oder ›privat‹ gemeint sein kann – genauso, wie sie ›ironisch‹ oder ›sarkastisch‹ oder ›ganz ganz ernst‹ gemeint und entsprechend aufgenommen sein will. Solche Kriterien können vor Gericht eine Rolle spielen, sie sollten daher ernst genommen werden. Wer will, darf Öffentlichkeit auf den Begriff der öffentlichen (oder veröffentlichten) Meinung herunterfahren, aber er wird sie auf diese Weise nicht los. Öffentlich ist öffentlich, ›für jedermann einsehbar‹, Gegenöffentlichkeit eine Öffentlichkeit für Leute, die der Überzeugung anhängen, die Öffentlichkeit, wie sie sich in der Regel präsentiert, präsentiere nicht alles, was ihrer Ansicht nach ›für jedermann einsehbar‹ sein sollte.

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Die Schwierigkeit einer solchen Definition liegt auf der Hand: Wenn alles öffentlich ist, was für jedermann einsehbar vollzogen, angezeigt, beklagt oder verhandelt wird, dann mag es zwar Lücken in der öffentlichen Wahrnehmung geben, aber der Ausdruck ›Gegenöffentlichkeit‹ ist per se sinnlos. Entweder etwas ist öffentlich einsehbar oder nicht. Sinnvoll wird der Begriff erst dann, wenn eine manipulierte, also eine Schein-Öffentlichkeit unterstellt wird, in der gewisse, an die Allgemeinheit adressierte Inhalte nicht zugelassen und daher für sie nicht wahrnehmbar sind. Auch dann bleibt eine gewisse Paradoxie zurück. Denn der Ausdruck unterstellt, dass es trotz allem möglich sein muss, die Zulassungsschranke zu durchbrechen und auch solche Inhalte öffentlich zu kommunizieren. Angenommen, ihre Kommunikation wäre illegal und würde, sobald sie ruchbar würde, von den ›Organen‹ des Staates unterbunden – was, weltweit gesehen, nicht so selten vorkommt –, dann wäre Gegenöffentlichkeit einfach der unterdrückte Teil der Öffentlichkeit, verstanden als aufblitzender Widerspruch gegen eine degenerierte Öffentlichkeit, in der ein Teil das Ganze zu sein beansprucht. An dieser Stelle sollte man genau sein. Nicht ›die Öffentlichkeit‹ wäre in diesem Fall der Gegner, vielmehr wären es die Kräfte der Verstümmelung, die sich im Zentrum der Macht die Hand geben.

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Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Damit etwas öffentlich, sprich allgemein einsehbar werden kann, muss es einige Filter passieren. Sie sind teils technischer, teils organisatorischer, teils rechtlicher Art. Dazu kommt der innere Zensor, der auf den gesellschaftlichen Zensor abgestimmt ist: Nicht alles, was kommuniziert werden kann, passiert die Schicklichkeitsschranke. Vieles davon bleibt besser unveröffentlicht, manches ›unsäglich‹, es sei denn, es verläuft sich im engeren Kreise – letzteres kann sich, vor allem bei Politikern, als eine trügerische Annahme erweisen. Öffentlichkeit kommt ohne diese Art der Unterdrückung nicht aus, sie gehört zu ihr wie die Unterdrückung gewisser Geräusche zu einer gesitteten Mahlzeit. Zur Öffentlichkeit gehört auch, dass die Schicklichkeitsschranke in ihr selbst als Thema verhandelt wird. Aus gutem Grund: Nur so kann verhindert werden, dass, weitgehend unbemerkt, Tabus eingeschleppt werden und sich verbreiten, die irgendwann jede freie Artikulation zu ersticken drohen, oder dass umgekehrt grenzenlose Verrohung die Öffentlichkeit zu einem Schreckensort verkommen lässt.

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Der Begriff ›Gegenöffentlichkeit‹, wie er heute gebraucht wird, ist ein Produkt der ’68er Jahre des letzten Jahrhunderts (wie man immer dazusetzen sollte, will man nicht der allgemeinen Ikonisierung jener Zeitläufe Tribut zollen). Soll heißen, er ist behängt mit dem Flitter der damals gängigen Kritik der bürgerlichen Öffentlichkeit und der vermeintlich politischen Absicht, sie um eine plebejische oder proletarische Komponente zu erweitern – nicht, damit beide künftig in freundlicher Koexistenz nebeneinander existierten, sondern damit die eine die andere am Ende – in dem Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung, der sich im ›Marsch durch die Institutionen‹ abzuzeichnen schien – verschlingen könnte, und sei es nur deshalb, weil jene andere sich dann mangels Adressaten erübrigt hätte. Die Prozesse sind, wie man weiß, etwas anders verlaufen. Verlaufen hat sich die linke Gegenöffentlichkeit – wenn man von hartnäckig gehaltenen Widerstandsnestern in den Sperrzonen bürgerlicher Rechtschaffenheit einmal absieht – nicht zuletzt deshalb, weil die ›bürgerliche‹ Öffentlichkeit sich als weit aufgeschlossener erwies als von der Theorie unterstellt und fast mühelos die verschiedenen Emanzipationsprojekte von der Straße saugte. Erstaunlicherweise war, als dank der ›neuen Medien‹ endlich eine ›flache‹, wenig hierarchische, plebejisch anmutende Öffentlichkeit entstand, der ›linke‹ Zensor zur Stelle und verhängte, mit zweifelhaftem Erfolg, ›Hass‹-Verbote, statt sich der damaligen Überlegungen zum Code der unterprivilegierten Bevölkerungsteile (und seiner ›karnevalesken‹ Drastik) zu erinnern.


II.

Auf der Achse des Guten hat Johannes Eisleben einen Beitrag zu Begriff und Programm einer aktuellen Gegenöffentlichkeit geliefert, der zur kritischen Überprüfung herausfordert. Die folgenden Überlegungen orientieren sich weitgehend am Gedankengang des Artikels (Das Lesen der Anderen vom 13.6.2018). Das geschieht nicht ohne Absicht: Da es sich nicht um eine ›Theorie‹ handelt, sondern um eine lose dem Thema ›Öffentlichkeit‹ zugeordnete Folge von Überlegungen, sollte, um es biblisch zu formulieren, kein Brosamen vom Tisch fallen, zumindest nicht, ohne zuvor kurz in Augenschein genommen zu werden. In einer Zeit, in der die Mehrzahl der öffentlich getätigten Äußerungen den Unterschied von Diskurs und Debatte nicht mehr zu kennen scheint, sollte es nicht gleichgültig sein, welches Öffentlichkeitsmodell den Äußerungen im Meinungsstreit zu Grunde liegt. An wenigen Stellen stoßen Meinungsfreiheit und Gesinnungstyrannei so hart aufeinander, an wenigen Stellen liegen sie so dicht beieinander. Welche Seite gewinnt, entscheidet sich auch, wenngleich vielleicht nicht an erster Stelle, an der Klarheit der aufgebotenen Begriffe.

Introitus. Der Bürger als Feind

»Wir leben in der Zeit eines sich destabilisierenden Herrschaftssystems. Durch die Behandlung der eigenen Bürger als seine Feinde zersetzt das heute herrschende System der pseudoliberalen Elite das Vertrauen der Bürger in den Staat.«

Wer diesen Ausgangspunkt nicht teilt, kann sich die Lektüre der folgenden Überlegungen sparen. Muss man ihn teilen? Was folgt daraus, wenn man ihn teilt? Die Richtigkeit einer Diagnose setzt voraus, dass sie auf verlässlichen Beobachtungen fußt. Die vom Verfasser (teilweise in anderen Beiträgen) aufgelisteten Tendenzen zur Auflösung bestimmter staatlicher Garantien (Ordnung, Recht, Sozialstaat, etc.) werden auch von anderen Autoren beschrieben. Am Ende der Ära Merkel addieren sich Fehlentwicklungen der politischen Kultur wie selten zuvor und verlangen mehr oder weniger stürmisch nach Korrektur. Die Frage, ob die gegenwärtig aktive Herrschaftselite den anstehenden Aufgaben gewachsen oder selbst ein Teil des Problems ist, darf, sie muss gestellt werden, will man verhindern, dass daraus eine irgendwann nicht mehr beherrschbare Systemfrage erwächst. Obenan steht, falls man den Umfragen trauen darf, der galoppierende Vertrauensverlust der staatlichen ›Gewalten‹ bei den Bürgern. Statistisch belegt scheint auch zu sein, dass sich die Kluft zwischen der in den Medien präsenten Elite und dem ›Volk‹, also der nicht zum handverlesenen Kreis der Meinungsführer und der von ihnen betreuten ›gut vernetzten‹, vorwiegend akademisch geprägten Verantwortungsträger zählenden Masse der Staatsbürger in den vergangenen Jahren vertieft und auf bestimmten Feldern verfestigt hat.

Misstrauen und Ablehnung anstelle von Vertrauen und Zustimmung, abzulesen an gängigen Einstellungen zu Parteien, Staat, Justiz (allgemein: an gewissen Elementen der herrschenden Politik) haben das Zeug dazu, ein Gemeinwesen durch Delegitimierung seiner Organe zu destabilisieren. Allerdings kann, wie Wahlforscher und Historiker wissen, es gerade an dieser Stelle zu paradoxen Verwerfungen kommen. Legitimität ist keine Einbahnstraße, sie ist auch kein fundamentum certum et inconcussum, auf dem alles andere im Staate sicher und gut zu stehen hätte, sie muss vielmehr in der Kontinuität politischen Handelns immer aufs Neue errungen werden. Demgegenüber wirkt die Diagnose ›Zersetzung‹, abgesehen von den unguten Reminiszenzen, die sie unweigerlich aufruft, geschichtsfern und ideologisch hilflos. Eine vernünftige Grundlage für politische Analyse und politisches Handeln bietet sie nicht.

Behandelt das ›System‹ die eigenen Bürger als seine Feinde? Die Aussage klingt krass und eine Antwort will gut überlegt sein. Es ist schwer zu leugnen: seit dem Auftauchen von Pegida und der allmählichen Verfertigung der heutigen AfD – andere werden sagen, seit Euro- und Flüchtlingskrise – hat das unter Demokraten lange Zeit stigmatisierte Denken in Freund-Feind-Kategorien virusartig vom Land Besitz ergriffen und die Politik trägt nichts dazu bei, ihn zu entschärfen. Im Gegenteil: Offenbar dient es gewissen Machtzirkeln als erzbequemes Mittel der Herrschaftsstabilisierung. Kaum zu leugnen ist auch, dass sich jene Bewegungen als Bürgerbewegungen verstehen – das Wort in eben dem Sinn genommen, den ihre Kritiker im Sinn haben, wenn sie von der ›sich radikalisierenden Mitte der Gesellschaft‹ reden. Schließlich hat die manichäische Aufteilung der Gesellschaft in ›Mitmenschen‹ warm- und kaltherziger Provenienz, in ›Hell-‹ und ›Dunkeldeutschland‹ und dergleichen mehr, verbunden mit der Theologisierung der öffentlichen Sprache, dafür gesorgt, dass wesentliche Elemente der Aufklärung, die lange Zeit als unverzichtbare Bestandteile des demokratischen Bewusstseins galten, über Bord geschwemmt wurden. Mittlerweile scheint es kaum noch Lokalpolitiker zu geben, die nicht vom Rausch ergriffen sind, im Mitmenschen zwanghaft das Böse zu orten und bekämpfen zu müssen. Das Böse sind die anderen, dem Hass und der Verfolgungslust der Menge preisgegeben. Das ist, ganz recht, eine verstörende Entwicklung.

Herrschaftsideologie

»Ihre Herrschaftsideologie beruht auf einer romantisch-chiliastischen Anthropologie, die zutiefst dekadent und selbstzerstörerisch ist. In ihren Konsequenzen zersetzt sie den Rechts- und Ordnungsstaat, entwurzelt die Menschen und entzieht ihnen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben.«

Hinter dieser Behauptung steht, neben anderen, Arnold Gehlens alter, gern wiederholter, vorzugweise an die Adresse linker Ideologen gerichteter Vorwurf, ihr rousseauistisches Dogma vom ›ursprünglich‹ guten, durch Kultur und Gesellschaft verdorbenen Menschen samt der aus ihm resultierenden Feindschaft gegenüber Institutionen sei anthropologisch gesehen falsch. Darüber lässt sich trefflich in beide Richtungen streiten. Existiert ein solches Dogma überhaupt? Ist es aktuell? Wäre es zu retten? Wo liegt der Fehler? Und, in der anderen Richtung: Muss der freie, von keinen ›Verhältnissen‹ geknechtete Mensch ›von Natur aus‹ gut sein, damit Freiheit für ihn gut sei? Und: Beleuchtet diese Frage ein ausschließlich linkes Problem? Schließlich die an beide Seiten zu richtende Frage: Liegt wirklich hier die Wurzel der pseudoliberalen, pseudolinken Herrschaftsideologie der gegenwärtigen ›Eliten‹?

Außer Zweifel steht die anarcho-sozialistische Herkunft eines Teils der heutigen deutschen Herrschaftselite. Gleichgültig, wie hoch man diesen Anteil beziffert, außer Zweifel steht auch, dass der berühmte ›Marsch durch die Institutionen‹ der einstigen Institutionenfeindschaft früh die Zähne zog. Die Parteigeschichte der Grünen – die der SPD sowieso – bietet dafür schlagende Beispiele. Erwägt man die Kernprojekte der gegenwärtigen bundesdeutschen classe politica, dann dienen sie ganz sicher nicht der Schaffung deliberativer oder anarcho-liberaler Freiräume. Im Gegenteil: Gefragt ist die Stärkung vorhandener und die Schaffung neuer institutioneller Strukturen. Die rigorose Verrechtlichung sexueller Praktiken und Milieus zählt ebenso dazu wie der öko- und klimarechtliche Umbau der Wirtschaft – nicht zu vergessen die Bürokratisierung und Kompetenzmehrung der Europäischen Union samt Errichtung der Euro-Zone, die als institutioneller Prozess zu begreifen ist.

Dysfunktionalität

»Sie [die Herrschaftsideologie, Anm.] ist Ausdruck einer massiven Hybris der heutigen Oberschichten, die so lange gesellschaftliche Dysfunktionalität erzeugt, bis entweder ein friedlicher Wechsel diese Herrschaft beendet oder das Gefüge der Gemeinschaft zerbricht. Dann kehren enthemmte Gewalt und Willkür in unseren Alltag zurück, das Gewaltmonopol des Staats löst sich auf.«

Das ist sehr allgemein formuliert. Dysfunktionalität entsteht an den unterschiedlichsten Stellen. Sie ist aus dem sozialen Leben nicht fortzudenken. Die Vorstellung der Gesellschaft als einer durchfunktionalisierten Maschine, in der ein Rädchen verlustfrei ins andere greift, gehört zu den ältesten Dystopien. Dass eine Gesellschaft an ihren inneren Widersprüchen zerbricht, mag als Erklärung hingehen, ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen. In Wahrheit erklärt sie nichts. Widersprüche lassen sich am theoretischen Fließband konstruieren. Der ›realistische‹ Blick findet sie, wohin er sich auch wendet. Welche davon sind herrschaftsbedrohend? Das liegt nicht zuletzt an der Herrschaftsform und dem Konsens, den sie zu erzeugen weiß.

Gesellschaftlicher Konsens, soweit er benötigt wird, um ein Gemeinwesen zu stabilisieren, lässt sich ein Stück weit herstellen, darüber hinaus verpuffen die Anstrengungen. Im schlimmeren Fall wirken sie kontraproduktiv oder erzeugen jene frenetische Zustimmung, die als sicherer Indikator von Unfreiheit gilt. Bestimmte Regime verlassen einen vorhandenen Konsens um weiter gesteckter Ziele willen. Sie begeben sich, wie der gegenwärtige Zustand der europäischen Union zeigt, auf einen gefährlichen Weg. Genausogut gilt: Konsens kann falsch, kann gefährlich, sogar existenzbedrohend sein. In einem solchen Fall tut vorausschauende Politik gut daran, ihn aufzubrechen und um einen neuen Konsens zu werben. Anders liegt der Fall, wenn Verordnungen einen gesellschaftlichen Dissens, den sie auf administrativen Wegen bekämpfen sollen, unnötigerweise verschärfen oder überhaupt erst in die Breite der Bevölkerung hineintragen.

Dahin gehören bestimmte Aspekte der aktuellen Flüchtlings-, resp. Einwanderungspolitik ebenso wie, am anderen Ende der Erregungsskala, Gender-Mainstreaming auf Ampelniveau und scheinemanzipatorische Kinkerlitzchen, die es durch Zufallsmehrheiten auf den Verwaltungsweg schaffen. Gefährlich dysfunktional können Medien werden, wenn sie ihrem Informationsanspruch nicht mehr gewachsen sind und zu Weltsicht-Propagandisten verkümmern. Freier Informationsfluss gehört zu den Voraussetzungen demokratischer Herrschaft. Wann immer er stockt, nimmt das politische Urteil der Bürger Schaden. Am Ende kehrt es sich gegen den Auslöser der Misere. Man mag die Einstellung, die zu solchen Fehlleistungen führt, als Hybris bezeichnen, als Gleichgültigkeit gegen Befindlichkeiten, als Erziehungswahn oder als Hypermoral. Gemeint ist am Ende immer dasselbe: eine Politik, die vergessen hat oder zu vergessen in Gefahr schwebt, dass ihre Aufgabe darin besteht, den Tiger (das Selbstverständnis der Gesellschaft mitsamt seinen Unterströmungen) zu reiten anstatt, frei nach Nietzsche, auf seinem Rücken zu träumen.

Befremdlich wirkt an dieser Stelle die Sprache. Was bitte wäre das ›Gefüge der Gemeinschaft‹? Von welcher Gemeinschaft geht da die Rede? Von der verschworenen Gemeinschaft der Herrschenden? Von der ›Gemeinschaft zwischen Volk und Staat‹? Von Herrscher und Beherrschten? Von Gesellschaft als Gemeinschaft? All das möchte man gerne wissen, denn hier liegt glattes Parkett. Allgemein gilt: zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft besteht ein Spannungsverhältnis, das um der Freiheit des Einzelnen willen nicht preisgegeben werden darf. Die drohend aufgebaute Alternative von friedlichem Herrschaftswechsel und Bürgerkrieg (bellum omnium contra omnes) gemahnt an Szenarien, die bislang aus dem Selbstbild der Bundesrepublik verbannt blieben. Nicht nur aus ihm: Selbst die von Donald Trump während seiner Präsidentschaftskandidatur vehement, inzwischen nur noch hin und wieder beschworene Bewegung (die im Grunde seit den legendären Tagen der Tea Party unterwegs ist) hütete sich, Bannonscher Rhetorik zum Trotz, bislang davor, die Kontinuität des politischen Systems in Frage zu stellen.

Zeitfenster

Hier kommt ein Motiv ins Spiel, das lange Zeit von Öko- und Klimapropheten verwendet wurde, bevor Merkels Politik der Alternativlosigkeit es sich einverleibte: das des Zeitfensters.

»Auf welche der beiden Alternativen steuern wir zu? Das hängt im Wesentlichen davon ab, wie schnell die Bürger merken, was eigentlich passiert und ob sie sich rechtzeitig an der Wahlurne wehren. Dafür spielt die Gegenöffentlichkeit eine wesentliche Rolle.«

Jede Option hat ihre Zeit – das ist eine politische Binsenweisheit. Merken, was passiert ist die Grundtugend des zur Verteidigung seines Gemeinwesens bereiten Citoyen. Wo sie fehlt, herrscht bloß das undurchsichtige Spiel der Interessen. Wer dem Bürger hingegen aufschwatzen will, was ›eigentlich‹ passiert, sollte eigentlich wissen, dass er sich damit, willentlich oder nicht, zu denen gesellt, die sein selbständiges Urteil gleichermaßen in Abrede stellen und in Beschlag zu nehmen versuchen. Der Schematismus sich öffnender und schließender Zeitfenster passt zur Denkweise von Planungsexperten. Historiker verweisen seine Anwendung allzu oft in den Bereich leerer Spekulation – man denke nur an die verheerenden Implikationen des sogenannten Schlieffenplans, mit dem Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte. Im Feld der Entscheidungen gehört der Begriff zu den Unheilsfaktoren, weil er die Frage des rechten Zeitpunkts auf ein paar Parameter reduziert, auf Kurven in einer grafischen Darstellung, die sich an ein paar festgelegten Punkten schneiden und trennen. Handlungswirklichkeit erschöpft sich nicht in Parametern. Auf jeder größeren Entscheidung lastet die Verantwortung für das Unvorhersehbare, so wie jede Entscheidung neben den gewollten auch ungewollte Wirkungen hervorbringt – die oft genug die gewollten zunichte machen.

Allein deshalb verdient es der Vorwurf des ›Chiliasmus‹, des Hantierens mit bombastischen Endzeitszenarien inklusive Umkehrappellen – Jetzt oder nie! –, an jede Partei zurückgegeben zu werden, die sich anheischig macht, Schreckensbotschaften mit Zeitfenstern zu koppeln, es sei denn, sie wären so konkret wie ein herannahender Tsunami, die Aussicht auf eine Missernte oder ein militärischer Überfall. Eine Gefahr, die bezweifelt werden kann, muss auch bezweifelt werden können – nicht, um sie fortzureden, sondern um in aller gebotenen Nüchternheit Art, Umfang und Wahrscheinlichkeit zu ermitteln und, falls nötig, wirksame Abhilfe zu entwickeln. Das Gefährliche am politischen Meinungsstreit, den sich Deutschland seit 2015 leistet, liegt darin, dass in ihm die Grenze zwischen Debatte und Diskurs verschwimmt, soll heißen: Der Kampf gegen den dämonisierten politischen Gegner trägt alle Kennzeichen des Exzesses. Er unterminiert und verstümmelt die Beschäftigung mit den realen Gefahren und Lösungsmöglichkeiten der Krise. Im Irrgarten der Floskeln und Verunglimpfungen taumelnd steht keine Seite der anderen an donnerndem Pathos nach.

Gegenöffentlichkeit

»Die deutsche Gegenöffentlichkeit war ursprünglich eine geistige Strömung realistisch-kritischer Liberaler und Konservativer, die sich zwischen 1950 und 1990 mit der oben geschilderten fatalen Entwicklung unserer Gesellschaft seit dem zweiten Weltkrieg kritisch auseinandersetzten.«

Einspruch: So wahr es ist, dass zur Geschichte der alten Bundesrepublik die Wortmeldungen kritischer Intellektueller gehören, so richtig es ist, dass die vom Autor an dieser Stelle genannten Arnold Gehlen, Friedrich Hayek, Ernst Nolte, Ernst Jünger lange Zeit am journalistischen Pranger standen und rituell aus dem linksintellektuellen Lager attackiert wurden, so wenig taugen sie zu Leitfiguren einer speziellen bundesdeutschen ›Gegenöffentlichkeit‹ (wobei gefragt werden könnte, wie weit Ernst Jünger, Chronist der Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs, vor dem Erfolg der späten Tagebücher als Nachkriegs-Gegenwartsautor überhaupt wahrgenommen wurde). Gerade als kritische Intellektuelle standen sie in der Öffentlichkeit (was nun nicht bedeuten darf, dass sie jenseits der Kritik stünden).

Hinter der Aufzählung steht eher ein soziologisches Problem: Akademisch-literarische Intellektuelle und Journalisten teilen nicht zwingend dasselbe Überzeugungsspektrum. Zwar gibt es Überschneidungen, doch in der Regel gilt, dass unter akademischen Intellektuellen die konservative Fraktion stärker ist als unter Journalisten, die berufsbedingt mit dem Zeitgeist und seinen Publikumslieblingen sympathisieren – stärker sowohl in argumentativer als auch in zahlenmäßiger Hinsicht. Bei den literarischen Intellektuellen kehrt das Verhältnis sich um: Sie kokettieren gern mit dem Titel der Avantgarde. Doch auch das Gegenteil kommt vor, siehe Jünger. Nimmt man die anders – und jeweils unterschiedlich – gestrickte, ebenfalls erwähnte Wissenschaftsprominenz der Koselleck, Forsthoff, Gadamer und Böckenförde mit ins Bild, dann verschwimmen die gewollten Konturen vollends und zurück bleibt die Binsenweisheit, dass liberale Öffentlichkeit mehr ist als das Dominanzstreben einzelner intellektueller Cliquen und Bravourjournalismus mit braun oder rot eingefärbten Pappkameraden.

Zeit der Diskurse

»Nach der deutschen Einheit hat sich das Spektrum der Protagonisten der Gegenöffentlichkeit dann auf alle Intellektuellen ausgeweitet, die in der Lage sind, gesellschaftliche Missstände oder Herrschaftssysteme zu durchschauen und offenzulegen, darunter viele, die sich früher selbst als Linke bezeichnet haben: Denn das Merkmal der Gegenöffentlichkeit ist es nicht, links oder rechts zu sein, sondern sich ein unabhängiges Denken außerhalb des Herrschaftsdiskurses bewahrt zu haben, das auf die Realität, wie sie die ganz normalen Menschen in diesem Land erleben, schaut.«

Öffentlichkeit, wie die liberalen Gesellschaften der westlichen Industriestaaten sie kennen, wird durch die Medien bestimmt. In diesem eingeschränkten (und darin mehr als einem) Sinn ist sie veröffentlichte Meinung. Authentische Orte des öffentlich ausgetragenen Meinungskampfs, das Parlament oder die Straße, liegen ohne Massenmedien brach – erst Zeitung, Fernsehen, Internet tragen ihre Botschaften ebenso in die Welt wie den letzten Kommentar aus der sprichwörtlichen ›Feder‹ eines ›meinungsbildenden‹ Journalisten.

Warum ist das wichtig? Intellektuelle, vor allem, wenn es sich um Berufsintellektuelle handelt, sind nicht zwingend Teil der allgemeinen Öffentlichkeit. Die meisten von ihnen ziehen die Präsenz in einer Fachöffentlichkeit vor. Was aus den diversen Fachöffentlichkeiten in die ›große‹ Öffentlichkeit diffundiert, hat in der Regel bereits einen Rezeptions-, Interpretations- und Filterungsprozess durchlaufen, der wenig übriglässt von dem, was wissenschaftlich ›von Belang‹ zu sein pflegt. Es ist ›Meinung‹, ›Bericht‹, ›Interpretation‹, ›Kritik‹, ›Statement‹ – nicht selten, aber auch nicht zwingend, mit politischem Hintergrund.

Klassische Intellektuelle à la Gehlen oder Habermas, die auf der Klaviatur der Medien zu spielen imstande wären, weil ihre Stellung in der Fachwelt sie der medialen Welt als Schwergewichte empfiehlt, sind ›nach der deutschen Einheit‹ nicht mehr aufgetreten. Ihre Stelle nehmen – teils mit eigenem Sendeformat, teils als Dauergäste bei den einschlägigen Talkshows – Fernsehintellektuelle ein, deren wissenschaftliches Œuvre, falls vorhanden, keineswegs mit ihrer öffentlichen Schaustellung korreliert.

Sind Journalisten Intellektuelle? Die Frage sollte, der Deutlichkeit halber, klar verneint werden. Intellektuelle sind gelegentlich Journalisten, einige von ihnen kommen vom Journalismus und kehren dorthin zurück, wenn es ihnen angemessen erscheint. Journalisten sind gelegentlich Intellektuelle, ablesbar an ihrer Beschlagenheit in intellektuellen Fragen und ihrer Fähigkeit, öffentlich zu argumentieren.

Die Selbstverständlichkeit, mit der im vereinigten Deutschland ›die Journalisten‹ in die verwaisten Posten eingerückt sind, die ihnen von den Intellektuellen hinterlassen wurden, speist sich aus drei Faktoren. Für Eingeweihte schimmern sie durch Eislebens Beschreibung hindurch, ohne wirklich kenntlich zu werden.

  • In Das Ende der Kritik (Berlin 1997, 2018) habe ich, zusammen mit Joachim Vahland, den ersten Faktor ausführlich analysiert: es ist die theoretische Erschöpfung der kulturkritischen Reflexion, aus deren Fundus sich Europas Intellektuelle über ein Jahrhundert bedienten, sofern und soweit sie sich aktiv an öffentlichen, meist politischen Auseinandersetzungen beteiligten – falls sie es nicht vorzogen, als bloße Parteiintellektuelle die ideologischen Vorgaben ihrer Parteizentralen abzuarbeiten.
  • Der zweite Faktor liegt im radikalen Ansehensverlust der hier als ›pseudoliberaler Mainstream‹ apostrophierten, meist westdeutschen Intellektuellen-Prominenz durch den politischen Einigungsprozess selbst, der die meisten von ihnen auf dem falschen Fuß erwischte und sie als Leitfiguren der kommenden Gesellschaft verblassen ließ, wenn nicht vollends desavouierte.
  • Den dritten, vielleicht kläglichsten, steuerte die einstige DDR-Elite bei, deren Regime-Verstrickungen es Feuilleton-Kriegern wie Frank Schirrmacher in der FAZ erlaubten, den Daumen zu senken und ihren Untergang zu besiegeln.

Zur Wendezeit jedenfalls waren die Journalisten schneller. In der Regel besaßen sie den schärferen Blick, gaben sich umtriebiger und wendiger. Kein Wunder also, dass sie über die besseren Karten verfügten, verglichen mit den Dinosauriern der Kritik und ihrem Schul-Tross, an dem zwei Reputationssysteme zur gleichen Zeit zerrten: das ungewisse öffentliche und das sichere Anstellungen verheißende universitäre.

Lange Zeit hatte es damit sein Bewenden. Der Bedarf der Republik an Theorie blieb bescheiden. Schließlich ging es darum, dem Osten das erprobte politische System des Westens zu implantieren. So wuchs der westdeutsch geprägte Journalismus unauffällig aus der für Signale aller Art empfänglichen Mittlerfunktion in die Systemvermittlerfunktion hinüber, die heute soviel Feindseligkeit erregt. Den Grünen hold war er schon vorher – das verstand sich von selbst, bezog er doch von ihnen die Themen, mit denen nach 1979 die westdeutsche Republik aufgemischt worden war.

Kein Wunder also, dass auch die von Eisleben angeführten neuen Dissidenten – denn um solche handelt es sich – vorzugsweise aus den Reihen des Journalismus stammen. Gemeinsam ist ihnen das Ungenügen an der grünen Weltanschauung, genauer: die mit der Zeit gewachsene Kenntnis der Divergenzen zwischen reiner Lehre und Wirklichkeitsbefund, zwischen Absicht und Wirkung, zwischen hehren Zielen und ›knallharten‹ Eigeninteressen der einst gehätschelten Kämpen, schließlich – nicht zu vergessen – die wachsende praktische Berufserfahrung in einem medialen Umfeld, in dem die kurzen Wege, fast wie zu Zeiten des Kalten Krieges, nur mit verändertem Inhalt, die lange Recherche immer öfter über Nacht zu Makulatur werden lassen, kurz: die Differenz zwischen Anspruch und Realität.

Zwischenspiel

»Dabei war Botho Strauß vor 25 Jahren (1993) im Spiegel als Aufsatz publizierte Aphorismensammlung ›Anschwellender Bocksgesang‹ ein Wendepunkt, der anzeigte, dass hochgeachtete Mainstreamintellektuelle der Bundesrepublik begannen, umzudenken – prompt wurde Strauß als ›neuer Rechter‹ ausgestoßen. Die Gegenöffentlichkeit blieb noch lange eine kleine Minderheit mit wenig Einfluss auf den politischen Diskurs.«

Auch wenn ich den Ausdruck ›Mainstreamintellektuelle‹ nicht mag, weil er Intellektuellendarsteller in den Rang von Intellektuellen erhebt –: an dieser Darstellung ist etwas dran. Botho Strauss’ gelegentlich wirrer, unter anderem vom Werk des hierzulande praktisch unbekannten Kulturwissenschaftlers René Girard profitierender Bocksgesang von 1993 zerrte am Einvernehmen einer juste-milieu-Gesinnungswelt, dessen Zeugnisse man heute mit dem Ausdruck ›Herrschaftsdiskurs‹ belegen darf, obwohl sie seiner, bei Licht betrachtet, nicht wert sind. Ähnlich erging es Peter Sloterdijks mit Heidegger ins 21. Jahrhundert spurtendem und von Habermas mit einer wütenden Attacke bedachtem Vortrag Regeln für den Menschenpark: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus (1999). Zwei Fälle, der gleiche Vorgang: Beide Male handelte es sich um den sprichwörtlichen Sturm im Wasserglas. Denn gleich nebenan, in der akademischen Provinz, war dies alles längst eingespeist. Nur der verfemte, auf einem liberalen Ideenfundament schreibende Historiker des Faschismus, Ernst Nolte, hatte gefälligst draußen zu bleiben.

Gegenöffentlichkeit? Es darf bezweifelt werden, dass einer der beiden je ernsthaft an so etwas dachte. Strauss schrieb für den Spiegel, der den Propheten des großen Kladderadatsch immer wieder zitierte, wenn es darum ging, das Einverständnis der Joschka-hörigen Weltverbesserer zu transzendieren. Sloterdijk gewann den Strauß mit Habermas und bekam seine Sendung im Zweiten Deutschen Fernsehen – keine gute Ausgangsposition, um als Exponent von Gegenöffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Als 1993 Helmut Kohl und François Mitterand gemeinsam bei Ernst Jünger einschwebten, schwadronierte der smarte Herr Schirrmacher in der FAZ: »Wer auf der Straße steht, zwischen Stauffenbergschem Schloß und alter Försterei an diesem 20. Juli 1993, der spürt, daß die Zeit über die Ufer tritt. Er kann ihr Rauschen vernehmen. Und er wundert sich sehr.« (22.7.1993) – Gegenöffentlichkeit?

Wendemarken

»Einige wesentliche von den pseudoliberalen Eliten getroffene Entscheidungen seit dem Jahr 2000 politisierten dann immer mehr Intellektuelle zu einer kritischen Haltung gegenüber unserem heutigen Herrschaftssystem...«

Hier liegt der Hase im Pfeffer. ›Gegenöffentlichkeit‹ ist ein Kampfbegriff. Er verdankt der mehrfach gewendeten Lektüre Gramscis mehr als der medialen Wirklichkeit. Die von Eisleben angeführten, kritisch gesehenen Entscheidungen –

»(i) die für das Klima der Erde belanglose, aber wahnwitzig teure und mittelfristig unsere Wirtschaftsweise gefährdende Energiewende [EEG 2000] samt Atomausstieg [2002], (ii) die unsere nationale Souveränität aushöhlenden, gegen den Willen des Souveräns zahlreicher europäischer Nationen durchgedrückten Verträge von Nizza und Lissabon [2003, 2009], (iii) die verfassungswidrige Eurorettung [seit 2009], (iv) die Aussetzung der Wehrpflicht [2010], (v) die verfassungswidrige Grenzöffnung [seit 2015], (vi) die in Westdeutschland seit 1934 erstmalige Wiedereinführung der Zensur (NetzDG) [ab 1.1.2018], (vii) und neustens die natürliche Kommunikation von Privatmenschen und Kleinunternehmen zersetzende sogenannte Datenschutzgrundverordnung«

– wurden grosso modo von den Leitmedien der Republik, obzwar mit Untertönen, die auch heftige Kritik einschlossen, mitgetragen – ›engagiert begleitet‹, wo professionelle Distanz zum handelnden Personal angebracht gewesen wäre, von der Selbstverpflichtung auf vorurteilslose Recherche und faire Wiedergabe abweichender Standpunkte zu schweigen. Insofern ist Eisleben Recht zu geben, wenn er schreibt:

»All dies und andere politische Entscheidungen wurden von einer kontinuierlichen Verengung des politischen Spektrums der öffentlichen Debatten in Parlamenten und Leitmedien mit einer Ächtung und Bedrohung Andersdenkender begleitet. … Nun begannen Intellektuelle auszuweichen…«

Es war die willkürliche Verengung der Berichterstattung in den Medien auf regierungs- und gesinnungskonforme Darstellung, die den neuen Dissidenten Auftrieb gab – zunächst einmal in der Frage, ob es lohnte, sich eigene Publikationsorgane zu schaffen, sodann von Seiten des Publikums, das, der Einheitsbemutterung überdrüssig, dankbar die neuen Publikationen honorierte.

Die neuen Organe

Es folgt eine Aufzählung der neu gegründeten Publikationsorgane von eigentümlich frei bis Tichys Einblick, die allesamt nach 2015, im Bann der anhaltend das Land spaltenden Flüchtlingskrise, »als vielen Bürgern endgültig klar wurde, dass unsere Eliten den Bezug zur Realität verloren hatten wie der Adel am Hofe der vorrevolutionären Bourbonen … ein exponentielles Leserwachstum und einen Zustrom intelligenter, kritischer und hochattraktiver Autoren« verzeichnen konnten.

Gleichgültig, wie vollständig oder unvollständig diese Liste sein mag – sie unterschlägt, dass die Grundlage für den Aufstieg der neuen Organe durch die ›Neuen Medien‹ geschaffen wurde, sprich: das 1991 eingerichtete ›www‹ und seinen anfangs ›web 2‹ genannten Ableger in den heute so dominant gewordenen sozialen Medien, denen man in Berlin und Brüssel beharrlich das Wasser abzugraben versucht.

Hier ist keine Gegen-, sondern eine genuin neue Öffentlichkeit, zumindest Öffentlichkeitssparte entstanden, in der die von Eisleben aufgezählten Neulinge, nicht zuletzt dank des persönlichen Einsatzes ihrer Gründer, sich wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser bewegen, während die Platzhirsche des Informations- und Meinungsgewerbes noch immer keine zufriedenstellende Erwerbsgrundlage im Netz gefunden zu haben scheinen und sich im Stellungskrieg gegen die großen Netzplattformen aufreiben. Indessen schmilzt ihre Leserschaft unaufhaltsam dahin.

Natürlich ist ›2015‹ in dieser Entwicklung ein Schlüsseldatum. Der blamable Konformismus der Leitmedien angesichts der exponierten Flüchtlingspolitik Deutschlands und ihrer Auswirkungen zu Hause, in Europa und im atlantischen Bündnis (inzwischen vielfach beschrieben) harrt noch immer einer umfassenden Analyse: Wie wurde dieser Kniefall vor der offiziellen Politik, verbunden mit dem kollektiven Versuch einer Branche, die Grundregeln des Journalismus auszuhebeln, überhaupt möglich – mental, institutionell, strukturell? Welche dem Publikum verborgenen Machtspiele wurden während dieser Zeit (die noch keineswegs vergangen ist, auch wenn sich etwas zu ändern beginnt) gespielt? In welche ökonomisch bedingten Abhängigkeiten hat sich die Branche in den Zeiten der Internetkrise begeben? Wer beeinflusst mit welchen Mitteln das Meinungsklima der Republik? Welche gruppendynamischen Mechanismen verstärken den Druck auf einzelne Journalisten, bis sie, scheinbar aus eigenem Antrieb, zu Bekennern und Jägern werden? Welche Rolle spielte die Netzkonkurrenz beim fatalen Zusammenrücken der Traditionsmedien?

Vor allem der letzte Punkt wirft Licht auf die Ambivalenz der Prozesse. In einem beispiellosen Anfall von Regierungshörigkeit öffnet die vom medialen Wandel getriebene Branche den Newcomern den Spalt zum großen Publikum, indem sie ihnen die mediale Ausgestaltung der anderen Seite des Dramas überlässt, das auf Jahre hinaus die Republik – und nicht nur sie – in Atem halten wird. Es ist der Glücksfall für die Kleinen, der sie im Netz zu ebenbürtigen Gegnern heranwachsen lässt und damit den großen Branchenumbruch vorantreibt: Verlierer pflegen Fehler zu begehen. Und das Bewusstsein, sich auf einer abschüssigen Bahn zu bewegen, stärkt die Bremser.

In gewisser Weise lässt sich der historische Pakt zwischen Regierung und Leitmedien, ganz allgemein: zwischen den Parteien der Macht und den vertrauten Verkäufern der ›Bilder‹, aus dem Strukturwandel deduzieren, der letztere nach neuen Geldquellen und erstere nach verlässlichen Aufbereitern ihrer Botschaften in der digitalisierten Welt Ausschau halten lässt. Angesichts der auf Hochtouren laufenden Gesetzgebungsmaschinerie der letzten Jahre lässt sich feststellen: Es funktioniert. Fragt sich nur, wie gut (und wie lange).

Doch ist es klug, als Gegenöffentlichkeit kleinzureden, was gerade seinen Anteil an der großen Öffentlichkeit erobert? Die technologisch-ökonomischen Aspekte des Umbruchs einmal beiseite gelassen: Wo stünde geschrieben, dass jede Stimme im allgemeinen Geschehen, jede notwendig werdende Debatte im Dauerringen um die richtigen politischen Lösungen in den bereits vorhandenen Medien zur Geltung gebracht werden müsste? Wäre nicht auch das Meinungstyrannei, privat geführte, mit privatem Geld bestrittene und von Privatleuten mit den Produkten ihres journalistischen Fleißes bestückte Informationsorgane darauf zu verpflichten, das gesamte Spektrum dessen, was gesagt werden muss, abzubilden? Weder sind sie die Öffentlichkeit noch haben sie am Ende die Mittel, den Markt der Meinungen und Gesinnungen vollständig unter sich aufzuteilen.

Und nicht nur das. Wie sich zeigt, kann bereits der Versuch, etwas in dieser Art zu unternehmen, rasch zum Bumerang werden. Welcher Gewinn sollte demnach darin liegen, als Charakteristikum von Gegenöffentlichkeit zu bezeichnen, was liberale Öffentlichkeit überhaupt erst konstituiert: die Entschiedenheit und den Mut, sich in den Besitz der Produktionsmittel zu bringen, um seine eigenen Auffassungen unter die Leute zu bringen?

Gemeinsamkeiten

»Was haben die Protagonisten der Gegenöffentlichkeit gemeinsam? Sicherlich sind es keine ›Rechten‹ oder ›Neu-Rechten‹ wie es der linke Mainstream anklagend behauptet, obwohl sicherlich auch viele Konservative unter ihnen sind. Viele, einschließlich des Autors dieses Artikels, sind aber auch Linke im echten Sinne: Menschen, die sich beispielsweise über die Forderung nach breit gestreutem Eigentum und ernsthafte Bildungsinvestitionen oder einen sinnvollen Sozialstaat für die Schwachen unserer Gemeinschaft einsetzen, dabei aber von realistischen Prämissen ausgehen.«

Die letzte Bemerkung ist geschenkt. Im aktuellen Kräftespiel behaupten alle Seiten, von realistischen Prämissen auszugehen. Das trifft zum Beispiel auch auf die NachDenkSeiten des sozialdemokratischen Urgesteins Albrecht Müller zu, die, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht in der Liste auftauchen, obwohl auch sie es sich angelegen sein lassen, einen Hauch von Gegenöffentlichkeit zu verbreiten.

Dennoch liegt hier der Clou der Aufzählung. Elitenkritik als moderne Form der Adelsschelte zielt darauf ab, den Kritisierten verlorene Bodenhaftung, mangelnden Kontakt mit der Wirklichkeit und überhebliche Ignoranz gegenüber den Fakten zu attestieren – selbst wenn die Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen kommen und die reklamierte Wirklichkeit alsbald in tausend Varianten zersplittert.

»Die meisten Autoren der Gegenöffentlichkeit haben ein realistisches Menschenbild, wie es Paulus, Luther, Hobbes, Machiavelli, Kant und Gehlen beschrieben haben. … Die Gegenöffentlichkeit besteht nicht aus ›Rechten‹, sondern es sind kritische Realisten, die um die Begrenztheit und Fehlbarkeit des Menschen und die Notwendigkeit stabilisierender Institutionen wissen.«

In dieser Republik ist man nicht rechts, schon gar nicht als Intellektueller oder Öffentlichkeitsarbeiter. Warum eigentlich nicht, ist man als Leser geneigt zu fragen, obwohl man weiß, dass angesichts geltender Sprachregelungen bereits die Frage unfair wäre. Paulus, Luther, Hobbes, Machiavelli, Kant hätten sich auch dann weder als links noch als rechts eingeordnet, wenn sie dazu Gelegenheit gehabt hätten. Ihr ›realistisches Menschenbild‹, was immer das sein mag, verdankte sich der Spekulation, keiner empirischen Feldforschung und keiner Erfahrung mit ›linker‹ Politik. Im Falle Gehlen liegen die Dinge ein wenig anders, aber kompliziert genug sind sie auch.

Andererseits: Wenn es eine linke Utopie gibt, dann müssen diejenigen, die daran glauben, sich wohl oder übel den Vorwurf des Utopismus gefallen lassen, gleichgültig, ob es ihnen passt oder nicht. Geglaubt wird viel in der gegenwärtigen Politik, das wenigste davon ist links in einem halbwegs differenzierten, historisch fundierten Sinn. Aber zweifellos wird es links drapiert. Ist das genug, um eine Gegenfront zusammenzuschweißen? Vielleicht ist es bereits zuviel. Die Partei der Vernunft, des ›rationalen Dialogs‹, der Wissenschaft, der Zivilisation lässt sich auf keiner Parteienskala verorten. Wer sie verlässt, der verlässt das Boot oder versucht es zum Kentern zu bringen. Was sind die Mittel, es zu verhindern? Höchst einfach: rationaler Dialog (untermischt mit Witz, Humor, ästhetischer Weisheit), Wissenschaft, die keine Scheu trägt, sich zu Wort zu melden, ziviler Umgang mit dem Gegner, Verzicht darauf, im Anderen das Böse zu lokalisieren und vernichten zu wollen, mit einem Wort: die klassischen Mittel liberaler Öffentlichkeit, in der man sich besser am Schreibtisch die Haare rauft als einander per Rufmord an die Wäsche zu gehen.


III.

Die Alternative

»Wir kommen damit zur entscheidenden Frage zurück: Wie und wann wirkt die Gegenöffentlichkeit? Sie leistet nicht nur sinnvolle und berechtigte Kritik am heutigen Herrschaftssystem, sondern artikuliert auch Alternativen zum Status quo bezüglich vieler gesellschaftlich-politischer Aspekte, nicht nur zu Rechts- und Ordnungsstaat, sondern beispielsweise auch zu Partizipation, Subsidiarität, Energieversorgung, Verteidigung, Marktregulierung, Währungssystem, Siedlungsstruktur, Landwirtschaft, Zwischenstaatlichkeit und vielem mehr. … Doch die unmittelbare politische Wirkung von Kritik und Gegenentwürfen ist beschränkt.«

Wer kritisiert, der will ändern. Der Status quo ist stets der der anderen. Seltsamerweise verfügt er über wenig Freunde, sobald erst einmal die Büchse der Pandora aufgeht und die Liste der wünschenswerten Änderungen obenauf liegt. Sich einbringen heißt: das Feld der Politik zu bestellen, in dem viele ackern. Anders geht es nicht, anders darf es nicht gehen.

Man kann als Intellektueller eine Partei wohlwollend kritisch begleiten – auch die AfD, ganz recht –, aber man sollte nicht alten Verschmelzungsträumen anhängen, in denen man selbst nur als ganz kleines Licht figuriert, einer aus der überwältigenden Schar schaffender Brüder und Schwestern, in deren Reihen man seinen Dienst an der Gesellschaft, am Volk oder einer präferierten Gemeinschaft verrichtet. Man sollte es ebenso wenig, wie man beleidigt sein sollte, wenn der Weltlauf sich nicht wie von selbst dem Gang der eigenen Gedanken anschmiegt, die man so behende zu äußern weiß. Warum? Weil man sonst kein Intellektueller mehr wäre.

Das Gehlen-Paradox

»Die meisten Menschen sind durch intellektuelle Analysen des Zustands unserer Gesellschaft nicht erreichbar, Gehlen sagt dazu (in ›Urmensch und Spätkultur‹, 1956):
Formal magisches Verhalten kann auch im Umkreis eines hoch rationalen Bewußtseins auftreten, es entzieht sich dann dem Bemerktwerden und hält sich, wie die archaische Magie, selbst für vernünftig und sachentsprechend. Der Glaube an die reale Fernwirkung von Meinungen gehört in diesem Sinne zu den magischen Beständen der Intellektuellenkultur, ebenso wie der, dass man vom Bewußtsein her das Verhalten der Menschen stabilisieren könne.‹«

Gehlens Akzent liegt auf dem Wort ›Fernwirkung‹. Das lässt daran denken, dass bedeutende Gelehrte, darunter der Mathematiker Leonhard Euler, Newtons Gravitationstheorie lange Zeit den Beifall versagten, weil sie darin einen unzulässigen Rekurs auf magische Fernwirkung witterten.

Nicht jede Fernwirkung ist magischer Natur, sonst könnte die Menschheit gleich das Telefonieren einstellen, von anderen hochwirksamen Tätigkeiten ganz zu schweigen. Würden Gedanken nur unmittelbar auf Herz, Hand und Fuß wirken, dann gäbe es keine. Das Wort ›Fernwirkung‹ ist ein Leercontainer, vor dem man sich lieber hüten sollte. Auf den Bereich öffentlicher Auseinandersetzung angewandt heißt das: Es ist besser, die heftigsten Kämpfe im Medium des freien Worts auszufechten, als mittels Straßenschlachten, Gefängnismauern und Schießbefehl.

Was Gehlen hier anspricht, ist einerseits die nirgends zu eliminierende Differenz zwischen Überzeugungen und Verhaltensweisen, andererseits die ebensowenig zu beseitigende Dynamik, die zwangsläufig zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entsteht: Entscheider eignen sich aus dem Intellektuellendiskurs an, was ihnen im gruppenspezifischen Erfolgsstreben nützlich erscheint (ihnen ›einleuchtet‹, wie der entsprechende Ausdruck lautet), während Intellektuelle viel Gedankenaufwand treiben, um die Spur ihrer Gedanken (und die ihrer Konkurrenten) als treibende Kraft im Leben der Nation oder anderer Großeinheiten zu verankern, soll heißen, Ideen (im Fall der Spieltheorie oder der Bevölkerungswissenschaft wider besseres Wissen) als handlungssteuernde Instanzen ins Bild der sozialen – und selbstredend politischen – Wirklichkeit einzufügen. Gewöhnliche Leser (um sie nicht ganz aus auszulassen) versuchen zu verstehen und kompensieren damit, negativ gesprochen, Orientierungsverluste – positiv gesprochen, halten sie, unterbrochen von größeren und kleineren Katastrophen, ihr Weltbild auf dem Laufenden, um halbwegs aufrecht durchs Leben zu kommen.

Es funktioniert, weil es nicht funktioniert: so etwa ließe sich zusammenfassen, was jeder Praktiker in der Regel zu beherzigen weiß – ›der Mensch denkt und Gott (das materielle Interesse, die Umstände, die Prä- und Postponderabilien, das Geheimnis der großen Zahl, das unerklärliche Etwas) lenkt.‹

Das ist nicht normal‹

»Stattdessen reagieren die meisten Menschen eher intuitiv auf die Umstände, die sie in ihrer unmittelbaren Lebenswelt beobachten. Nehmen sie Ereignisse wahr, die ihre Hintergrunderfüllung (Gehlen) erschüttern, werden sie aus dem gewohnten Lebenszusammenhang geworfen und müssen ihr Verhalten neu justieren. Solange sie sich aber noch sicher fühlen und sich materiell versorgen können oder vom Staat versorgt werden, denken sie nicht um. Das Umdenken ist schmerzhaft und erfolgt erst, wenn sich materielle Not breit macht oder der Staat seine Bürger nicht mehr konsequent vor privater Gewalt schützt und diese nicht mehr sichtbar ahndet.«

So ist es. Im parlamentarischen System folgt daraus die Notwendigkeit, die Spannung auszuhalten, die durch die Trägheit der Mehrheitsbevölkerung entsteht, wenn der vorausblickende Verstand bereits die Notwendigkeit von Kurskorrekturen erkennt, und mit seiner Auffassung nicht hinter den Berg zu halten, selbst wenn die sozialen Folgen für den Einzelnen schmerzhaft ausfallen sollten. Eine Gegenöffentlichkeit konstituiert auch das nicht. Doch es sorgt dafür, dass Öffentlichkeit nicht zum medialen Schein verkommt. Wer in Kampfbünden denkt, weil er glaubt, seine Zeit sei gekommen, der muss auch in Kauf nehmen, wenn der Nächstbeste ihn gleich an der Haustür stoppt.

Das schließt solidarische Aktionen nicht aus.

Die ›Gegenöffentlichkeit‹ ergreift die Massen

Was geschieht, wenn die Wahrheit die ›Massen‹ ergreift? Klassische Antwort: Sie wird unwahr. Was taugt eine unwahre Wahrheit? Nichts. Das liegt nicht an den Massen, es liegt an der Wahrheit, die täglich aufs Neue erobert werden muss und zum Eigentum der Massen ebenso wenig taugt wie zu dem eines Einzelnen.

Befände das Land sich nicht längst in einer tiefen, von beflissenen Politikern und Medienleuten unentwegt fortgewedelten Legitimationskrise, könnte man über solche Sätze lächeln. Ist willige Unterwerfung wirklich das Problem des modernen Staates? Gehen seine Repressionsmittel nicht in unfassbarem Maße über jedes Bürgervermögen hinaus? Ist nicht vernünftige, immer aufs Neue auszumittelnde Partizipation das Maß der öffentlichen Dinge?

»Da wir in einer Demokratie leben, könnte der Demos unser Establishment dann einfach abwählen.«

Ganz recht – vielmehr: nicht ganz. Abwählen lässt sich das ›Establishment‹ schon deshalb nicht, weil es sich fortwährend – von unten, von der Seite, von Seiten der Nachrücker, woher auch immer – erneuert. Die klassenkämpferische Entgegensetzung von ›Demos‹ und ›Establishment‹ ignoriert die prinzipielle Offenheit des Systems. Sie setzt einen Zustand der vollendeten Oligarchie als gegeben, in dem jeder Hoffnungsträger nach gewonnener Wahl ungerührt in die Fußstapfen seiner Vorgänger tritt. So funktionierte das System der Bundesrepublik bislang nicht. Eine lange, vielleicht überlange Regierungszeit, in der bedeutende Defizite sich sammeln konnten, verlangt nach Wechsel, verlangt in vielem nach Remedur. Das jedoch ist kein Einwand gegen das System, sondern seine älteste und immer noch treffendste Rechtfertigung.

Niemand sollte sich blind machen gegen die Gefahren unkompensierter Souveränitätsverluste (Brüssel), zunehmenden Regierungsopportunismus’ und schleichender Zensur (NetzDG u.ä.), nicht zu vergessen einer fahrlässigen, dissoziativ wirkenden Einwanderungspolitik. All das muss offen und breit verhandelt werden, nicht in den Avantgarde-Kämmerchen einer sich selbst missverstehenden, phantomhaft den großen Umschwung herbeiphantasierenden Gegenöffentlichkeit. So schnell ist diese Demokratie nicht mit sich durch. Die Erzählung von der Selbstauflösung der DDR taugt nicht für dieses Land. Wäre es anders, so existierte die DDR noch immer. Warum hätte sich jemand die Mühe geben sollen, sie abzuschaffen?

*

Gegenöffentlichkeit, der Name drückt es aus, ist gegen die etablierte Öffentlichkeit gerichtet, als sei, was man mit Unbehagen oder Zorn an ihr wahrnimmt, das Ganze. Legt man den freien Marktzugang für alle zugrunde, dann widerspricht sich ein solcher Gedanke selbst, weil er die Artikulation des eigenen Standpunkts von diesem Markt ausschließt. Das mag als Marketing-Gag durchgehen, als politische Standortbeschreibung führt es in eine jener Sackgassen, an deren Ende sich die Hoffnungstrümmer verflossener Kraftmeiereien stapeln: Meine Öffentlichkeit lasse ich mir von niemandem rauben, sie gehört mir und meinesgleichen. Mit ihrer Hilfe organisiere ich meine Leute, denen die Öffentlichkeit, die falsche, öffentliche, nichts mehr sagt. Umso mehr habe ich ihnen zu sagen – wir passen zusammen und formieren eine schlagkräftige Truppe, die eines nahen Tages das System aus den Angeln heben wird.

Die Sprache, wir kennen sie wohl. Es ist, jedenfalls im Westen der Republik, die Sprache der Traktätchenschreiber von anno dunnemal, der Nationalzeitung zur Rechten, zur Linken einer im AStA-Kampf gestählten K-Gruppen-Intelligentsia, die vor lauter Engagement nicht zum Studieren kam – mit Folgen, die bis in den heutigen Bundestag reichen. Sie ist der neuen, vielgestaltigen, ideen- und wortreichen Medienlandschaft nicht würdig.

Sie braucht sie auch nicht.

 

Johannes Eisleben: Das Lesen der Anderen http://www.achgut.com/artikel/das_lesen_der_anderen

 

Abb.: Paul Mersmann, Grasteufel überqueren eine öffentliche Bühne, ohne vom Publikum wahrgenommen zu werden (2009). Aufnahme: Renate Solbach