von Ulrich Siebgeber

1. Die einfachste Weise, Brecht zu verwechseln, besteht darin, seine Stücke auf die Bühne zu bringen. Nicht, dass sie nicht auf die Bühne gehörten, aber diese Bühne ist längst vergangen und war ohnehin nicht mehr als ein Zipfel der großen Weltbühne, die sich seither gründlich gewandelt hat. Trotzdem werden immerfort die alten Stücke gegeben, Stück für Stück, ohne dass man irgendwo den Groschen fallen hörte. Auch der Nachwuchs nimmt sich ihrer gelegentlich an, wie gerade wieder vom Berliner Ensemble demonstriert.

2. Eine bei Schauspielern beliebte Weise, den Brecht zu verwechseln, besteht darin, ihn herunterzubrechen statt hinauf: auf die Verhältnisse nämlich, die sind, wie sie sind, weil sie sind und wir alle sie durch Zutun und Schweigen geschaffen haben, wenn wir davon absehen wollen, dass auch diese Tätigkeit Spezialisten verlangt, die dafür gut bezahlt werden wollen. Den Brecht herunterbrechen bedeutet nichts anderes als: Schwatzen wir seine Worte auf der Bühne nach und geben wir uns dabei, als lernten wir hier und heute Abend an ihnen das Schauspielern, Wort für Wort, Geste für Geste, Denkfetzen für Denkfetzen, während wir doch nur babbeln, wie uns der Schnabel gewachsen, und hüpfen, wie uns zumute ist. Und indem wir uns geben, wie wir eben sind, geben wir dem Publikum das, was es allemal benötigt: Aufklärung. So führen wir einen Diskurs auf Augenhöhe und das ist gut so, denn Brecht – unser aller Brecht – ist ein Klassiker.

3. Damit wären wir auch schon bei der dritten Weise, Brecht zu verwechseln. Der Mann Brecht tat viel, um ein sozialistischer Klassiker zu werden – und das bedeutete für ihn: Klassiker im Sozialismus, im entwickelten natürlich, für Menschen, die den sozialistischen Kindergarten durchlaufen, den Sozialismus studieren, um ihn weiter zu entwickeln, sozialistische Kinder zu zeugen und aufzuziehen und sich dabei von den Organen des Staatssozialismus überwachen zu lassen. Solche Menschen, so befand der Mann Brecht, sollten sich nicht mit den bürgerlichen Klassikern begnügen müssen, sie hätten ein Recht auf ihre eigenen und unter diesen wollte er Erster unter Gleichen sein, jedenfalls so ähnlich. Das alles erlaubt angesichts der Wendungen, die die Weltgeschichte genommen hat, nur einen Schluss: Brecht ist kein Klassiker. Was ist er dann? Ein ziemlich penetranter Unterhaltungskünstler? Vielleicht.

4. Die vierte Weise, den Brecht zu verwechseln, besteht darin, ihn zu kommentieren. Ich meine damit nicht den großen allgemeinen Brecht-Kommentar, genannt Brecht-Forschung, sondern die kleinen Handreichungen, die nun einmal zu einem ordentlichen Brecht-Theaterabend gehören wie Salzstangen und Piccolo. In diesen Kommentaren ist gemeinhin viel vom Kapitalismus die Rede, weniger vom Sozialismus, was verwundert, da man an diesem Ort nach wie vor im Sozialismus lebt, auch wenn er sich einigermaßen radikal gewandelt hat, so dass nicht wenige ihn nicht mehr wiedererkennen wollen. So ein Stücke-Kommentar gerät rascher in Widerspruch zur Aufführung als ins Himmelreich der Interpretation, soll heißen in Widerspruch zu der Art und Weise, wie die Schauspieler, ungeachtet aller Regie, sich auf den Brettern aufführen, die die Tantiemen bedeuten … ja sicher, in jeder Aufführung steckt eine zweite, vielleicht auch eine dritte und vierte, aber das setzt dann schon eine gewisse Verwandlungskraft voraus, die nicht jedem gegeben ist. Es wäre besser, der Kommentator würde die Schauspieler beobachten und sich darauf beschränken zu beschreiben, was sie – unter der Hand, aber in großer Offenheit – vom Leben ihrer Generation preisgeben, als dem sich informierenden Zuschauer vorzuschreiben, was er zu sehen habe, auch wenn alle Mühe vergebens ist. Darin könnte dann ein klitzekleines Stückchen Original-Brecht stecken, aber das vertrüge sich nicht mit der Aufgabe der Verwechslung und deshalb unterbleibt es.

5. Die fünfte Weise, Brecht zu verwechseln, besteht darin, sich seiner Theatertexte zu bedienen, als ließen sie sich sprechen. Dieser Schauspieler-Irrtum ist so eklatant, dass man nicht darüber reden müsste, wäre nicht gerade er es, der so einen Theaterabend zur Farce werden lässt. Niemand kann Brechts Theatertexte sprechen. Der einzige Mensch, der sie jemals sprechen konnte, war Brecht selbst, und da jeder Bauchredner Verkörperungen braucht, vor allem auf der Bühne, wo alles Illusion ist, gab er Stimme und Gestik an ausgewählte Schauspieler weiter. Ein Brecht-Stück spielt in den Eingeweiden des Autors und sonst nirgends. Die alte Garde der Angelernten aber ist längst ins Grab gesunken und niemand da, ihre Pseudo-Nach-Nachfolger von dem Verdacht zu reinigen, Plots auf Kinderbuch-Niveau mit Glockengeläut zu versehen. Doch halt, man sollte den Kinderbüchern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Brechts gelehrige Arbeiter sind keine Kinder, sie sind Bauchstimmen, die zugleich mit denen der Bühnenfiguren erklingen. Ihr Gezwitscher durchhallt seine Stücke, in ihm vollendet sich der Autismus des großen BB. Was haben die Schauspieler damit zu schaffen, vor allem, wenn sie noch keine sind und vielleicht nie welche werden? Sie machen was mit Brecht und wenn gerade Woke-Zeit ist und die Bundeswehr aufrüstet, dann heißt das Stück eben Mann ist Mann und es geht hin, wer will.

»Hat er da nicht recht, der Brecht?« fragte der Grenzsoldat des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden den Westbesucher, als er in einem der kontrollierten Brecht-Bände den feinen dünnen Bleistiftstrich von unbekannter Hand entdeckte, mit dem ein paar Szenen durchgestrichen worden waren. Nichts hat sich seither geändert: Noch immer die lauernde Frage, auch wenn sie längst nicht mehr ausgesprochen wird, noch immer der Kontrollblick aufs Gegenüber, in dessen Kopf sich womöglich Konterbande verbirgt, noch immer der verhaltene Stolz, auf der richtigen Seite zu stehen und sich hinter der Macht des geborgten Wortes das Ansehen eines Menschen zu geben, der die Befugnis besitzt, durch- oder abzuwinken, wen auch immer, ganz nach Belieben. Denn unser ist die Geschichte, und wenn schon nicht die Geschichte, so doch die Moral von der Geschicht’. Weshalb wir auch gleich mit ihr anfangen wollen. Der wirkliche Klassiker heißt: geborgte Macht, und sei es die des dekretierenden Wortes.

 

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