Zur Überwindung von Sentimentalität beim Betrachten meines Bücherschranks
Das Wetter ist grauslich, also bin ich nicht in die Ausstellung gegangen, habe aufgeräumt und weggeworfen – ein paar alte Programme, Fizzelkram, der auf jeder freien Fläche liegt, Papier, Papier, Papier. Bücher wollte ich auch wegtun, aber das schaffe ich nicht. In die Werke von Bourdieu und all dieser Theoretiker aus Zeiten, in denen noch Weltbilder entworfen wurden, voraussichtlich auch in die von Kant und Hegel werde ich nie mehr hineinschauen … und wie viel Platz diese Wörterbücher, der Grimm, und das Kindler-Literaturlexikon okkupieren!
Immerhin nehme ich diesen dicken, breiten und langen Karteikasten in die Hand, letzte Heiligtümer aus Zeiten der Dissertation, werde ich nie mehr brauchen. Solides Material. Heinzmann, Johann Georg, ›Beobachtungen und Anmerkungen auf Reisen durch Deutschland, Leipzig 1788‹. Ob der Kollege das kennt der gerade recht erfolgreich den Alltag der Goethezeit auf den Markt geworfen hat? ›Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1690-1730‹. Toll, muss ich meiner Freundin Lisette erzählen, die gerade verzweifelt ihr Abschlusszeugnis von 1980 sucht, um ihre Rente zu beantragen. Morgen werde ich nach Zufallsprinzip testen, ob sich das alles im Netz, im Karlsruher Katalog oder gar in meiner Stadtbibliothek um die Ecke finden lässt.
Bei meinem letzten Besuch auf der Leipziger Buchmesse erklärte mir ein Mitstreiter aus jenen Prä-Computer-Zeiten, als wir noch mit der Hand Karteikarten ausfüllten, die DDR noch existierte und ich lustvolle Stunden, Tage und Wochen in Archiven verbracht habe: das sei alles überholt. Nach neueren Erkenntnissen ist auch das 18. Jahrhundert nicht mehr, was es mal war.
Der Altbuchhändler, bei dem ich manch tollen Stoff zur Erheiterung von Geist und Seele für 2 oder 3 Euro erstanden habe, sagt mir, er sei so voll und wisse nicht, wohin mit all den Büchern. Natürlich kenne ich diverse Buchabholdienste und habe sogar Präferenzen. Ich wähle den Service von Leuten, bei denen ich das Gefühl habe, die Sachen kämen in gute Hände oder wenigstens nicht auf den Müll. Drei volle Säcke warten auf meine Entschlusskraft, aber noch bin ich nicht bereit, mich davon zu trennen. Wenn mein Freund R., der viel fixer ist als ich, seine Schränke ausmistet, fragt er mich jedes Mal, ob ich dieses oder jenes Buch brauchen kann, immer interessiert mich dann doch etwas und steht nun auch noch bei mir herum.
Ist das eine Sucht? Gibt es dafür bzw. dagegen schon Selbsthilfegruppen? Ich klettere hinauf in den 11. Stock meines Regals, dorthin, wo ich mangels Leiter schon lange nicht mehr nachgeschaut habe, nehme hier und da ein verstaubtes Buch in die Hand, Ein wenig, zu wenig, landet in dem Karton für die verarmte Uni-Bibliothek, aber weder die Bücherschränke, noch die Stapel auf dem Boden sind wirklich reduziert. So wird das nichts, und mein Sohn wird sich um die Hinterlassenschaft kümmern müssen, wie ich mich mit der meiner Mutter herumschlagen musste (und wieder Bücher, Lexika, Rara behalten und in Regale gequetscht habe). Immerhin, ein paar Flächen sind leer geräumt, der Sack für Altpapier ist voll und ich stelle erstaunt fest, dass solche Aufräumaktionen enorm viel Energie freisetzen. Der Tag hatte mit einem Blues begonnen, aber jetzt brauche ich keine Tabletten/Animation/Drogen.
Mit all dem Schwung bin ich dann doch noch in die Ausstellung von Terry Fox in der Akademie der Künste gegangen, und habe dort unter anderem eine Klang-Installation gehört, die Töne eines Blinden, der mit seinem Stock durch die Stadt geht. Sie hat mich angeregt, über das Leben ohne Bücher nachzudenken, über eine Zukunft, in der vor allem gezappt, geklickt und gewischt wird. Vielleicht wird das Nebenwirkungen haben wie der Verlust von Sinnesorganen bei Blinden und Tauben und es entstehen, weil die wischenden Fingerspitzen der Nachgeborenen sich verfeinern, neue, bisher noch ganz unbekannte Synapsen und Sensibilitäten?