von Ulrich Schödlbauer

Die explosionsartige Vermehrung der Friedensmenschen (›Friedensleute‹) könnte, wenn sie denn stattfände, die Rettung bringen.

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Die Explosion müsste in aller Stille erfolgen und die Öffentlichkeit fluten, bevor sich Widerstand formiert.

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Es gibt eine Klasse falscher Friedensleute, die den Frieden einfordern – ärgerlich, überheblich, besserwisserisch, ewig beleidigt. Sie sind Lädierte des gesellschaftlichen Unfriedens, falsche Fuffziger, und nahezu unbrauchbar. Auch sie sind Zwillinge.

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Wir begeben uns auf die Suche nach Nicht-Zwillingen. Das wird eine lange und harte Suche. Dabei ist die Suchbewegung ganz falsch. Sie sind überall. Sie sind nur nicht sichtbar. Der Mechanismus der Sichtbarmachung verschluckt sie. Das gilt nicht nur in der Gesellschaft, es gilt auch im Individuum. Der Zwilling drängt sich vor. Er hat das Sagen.

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Diese Zwillinge … man sollte irgendwann begreifen, dass sie alle aus einem Stall kommen (sonst wären sie keine). Im gegebenen Fall aus der Kirche der linksliberal gemäßigten Ultras. Wer nicht dazugehörte, wer nicht Teil der Bewegung war, der gilt in dieser Welt nichts. Er ist kein Ketzer, er ist ein Heide. Der Ketzer ist der Feind, der Heide kommt nicht in Betracht. Das heißt, diese Feindschaft ist selbstverständlich und bedarf keiner permanenten Auseinandersetzung.

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Zwischenbetrachtung: Staatsfeind und Parteifeind. Der ›rechte‹ Rechte, einmal als ›rechtextrem‹ markiert, ist Staatsfeind. Er wird mit staatlichen Mitteln bekämpft (Verfassungsschutz, Gerichte) und im Bedarfsfall weggesperrt. Der linke Rechte, der Abgesprungene, der Renegat ist Parteifeind, er wird mit Mitteln unterhalb direkter staatlicher Repression bekämpft: Verweigerung von Dienstleistungen, Kontosperren, Boykotts, Drohungen, anonyme Gewalt. Interventionen von Staatsorganen, wo sie dennoch stattfinden, bedürfen in der Regel eines Vorwandes oder lösen sich in Nichts auf. Gefragt sind gesellschaftliche Kräfte.

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Societas civilis moribunda – die todkranke Gesellschaft, die weiß, dass der Tod jederzeit eintreten kann und über dieses Wissen hinweglebt (wie über einen ausbruchsbereiten Vulkan), nennen wir friedlos. Diese Friedlosigkeit gewinnt im Zwilling Gestalt. Man kann auch sagen: Der Zwilling übersetzt die moribunde Friedlosigkeit in Feindschaft und lässt sie so lebbar erscheinen. Was, auf mittlere Sicht, eine Täuschung ist.

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Zwillingsfeindschaft springt auf jeden Gegenstand über. Das ist ihr Markenzeichen. Deshalb geht jeder Versuch der Einhegung ins Leere oder erzeugt neue Spannungsherde.

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Wie ist man kein Zwilling? Das klingt wie »Wie schafft man es, kein Zwilling zu sein?« Aber in der zwillingsverseuchten Gesellschaft ist die Formel »Wir schaffen das!« Ausdruck der Zwillingsexistenz. Wie ist man kein Zwilling, wenn jeder, buchstäblich jeder, mit buchstäblich jeder Behauptung dich zum Zwilling stempeln kann, anders gesagt, dich in die Sphäre der Sichtbarkeit heben kann, aber eben als Zwilling. Kein Zwilling sein heißt unsichtbar sein. Das Sichtbarwerden der Nicht-Zwillinge (der Friedensmenschen) wäre also per se, das heißt unter den Bedingungen der friedlosen Gesellschaft, paradox. Oder … das Ende der Friedlosigkeit.

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Was bewirkt der Stempel (das Etikett)? Der Abgestempelte nimmt den Stempel in sich auf, er wird Teil seiner Existenz. Er kann ihn gutheißen, er kann ihn mit allen Fasern ablehnen, aber er hat schon gegriffen. Es gibt eine Therapie: Sie heißt Lachen, doch sie wirkt sehr ungleich und versagt im entscheidenden Moment. Das Brandzeichen schwelt fort.

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Gesellschaftlich aktive Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit vielen Etiketten bedacht, schmeichelhaften und weniger schmeichelhaften. Das ist ganz normal. Aber erst die moribunde Gesellschaft verteilt Brandzeichen, die niemals weggehen und die Frage, ob gerecht oder ungerecht, gegenstandslos erscheinen lassen. Das Auftauchen solcher Brandzeichen ist ein Menetekel für die Gesellschaft. Sie tauchen parallel zu den sogenannten Graffiti auf, den anonymen Schmierereien an den Wänden der Großstädte, die man lange Zeit für Kunst hielt und jetzt als eine der großen Plagen der städtischen Menschheit verflucht.

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Die moribunde Gesellschaft stirbt. Sie kann und muss sterben: Das ist ihr Los. Dass niemand den Tag und die Stunde weiß, verleiht der Sache etwas Unheimliches und ist Teil der Krankheit zum Tode. Es beflügelt die übliche Gesundbeterei, die mit Beten so wenig zu tun hat, dass man sich über das Wort wundert. Natürlich bedeutet das nicht, dass dann auch ihre Bewohner sterben. Unter der alten Gesellschaft wächst die neue. Ganz zweifelsfrei ist das nicht, vor allem dann nicht, wenn die demographischen Daten anderes sagen.

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Versuche diesen Zustand zu durchdringen. Der moribunde Körper ist weitgehend ›bloß‹ Körper. Das unterscheidet ihn von früheren Stadien, in dem er weitgehend Kommunikation war. Kommuniziert wird noch immer, womöglich hektischer als zuvor, aber der Zustand des Körpers verwandelt den Großteil davon in Müll, soll heißen, in wertloses Gerede. Zupass kommt das dem Zwilling, dem Inhalte, entgegen seiner Rede, gleichgültig sind.

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Das bedeutet, der moribunde Gesellschaftskörper erscheint in doppelter Ausfertigung: als Körper und als Gerede. Wem gilt diese Ausfertigung? Natürlich dem Volk, das den Körper bildet und ihm dennoch als einem Fremden mit Reserve begegnet, auffällig besonders dann, wenn es das System der feindlichen Zwillinge thematisiert, ohne es zu durchschauen. Die Leute leiden unter dem Zwilling, der sich an sie geheftet hat und sich nicht abschütteln lässt, und ihre Erbitterung verleiht ihm ihre volle Energie: ein Teufelskreis. Aber – ein großes Aber, das viele kleine einschließt – alle Auseinandersetzung, wie hitzig auch immer geführt, wirkt schal: ›dummes Zeug‹, ›Idiotie‹, ›Lügen‹, ›Betrug‹: Gerede…

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Währenddessen blockiert der Körper das Gesichtsfeld. Alles an ihm ist todgeweiht, darüber herrscht Konsens. Wer ihn ausspricht, erntet erbitterten Widerspruch, gleichviel von wem. Das geht bis ins Pathologische. Einfache Menschen können es nicht ertragen, wenn man vom Tod der Gesellschaft spricht. Todessüchtige haben die ideale Projektionsfläche ihrer Wünsche gefunden und versetzen ihre Umwelt in Angst und Schrecken. Beides zusammen bildet das Pandämonium der niederen gesellschaftlichen Kräfte. Aber der schweigende Konsens hält und mit ihm das Faszinosum: Wie wird das sein? Wie wird sich das anfühlen? Oder, weniger borniert: Wie viel Untergang verträgt das Land?

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Wer denkt, in diesem Stadium gehe es noch um Glaubwürdigkeit, der täuscht sich. Die moribunde Gesellschaft ist unfähig, Glaubwürdigkeit zu generieren. Glauben, selbst fanatischen, phantastischen, jeder Wirklichkeit Hohn sprechenden: ja – aber Glaubwürdigkeit? Nein! Wirklichkeitsmenschen, Möglichkeitsmenschen, Phantasten – sie alle stellen fest, dass sie im Unglauben der anderen feststecken wie in einem Stau, der sich nicht auflösen will.

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Sprechen wir vom Körper. Die einfachste Weise, von ihm zu sprechen, ist die Rede über Identität. Gerade weil sie so nahe liegt, gilt sie den Etablierten als die gefährlichste, so, als genüge ein Funken, um das Volk zu entflammen. Dabei erreicht auch sie den Körper nicht wirklich und die Menschen wissen das wohl. Der moribunde Körper bleibt nackt. Alle Zuschreibungen gleiten von ihm ab, sie verbleiben im Raum des Geredes.

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Das zweite Füllwort heißt Dekadenz. Man registriert den Niedergang in der Industrieproduktion, in der Versorgungs- und Alltagssicherheit, in Politik und Verwaltung, im Fehlen der fähigen Köpfe, im kulturellen ›Niveau‹, selbst im IQ der Bevölkerung: Das sind objektive Kriterien, die konzise Rede erlauben. Aber was als Niedergang erlebt wird, ist gleichzeitig Teil des planetarischen Alltags, des Gestern-wie-Heute, das jeden mitnimmt und mühelos andere Deutungen erlaubt. Und die Gefahr des plötzlichen Exitus ist durch den Begriff ›Dekadenz‹ nicht beschreibbar. Auch hier also: Gerede.

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Die Crash-Propheten, eine eigene Spezies. Der Crash als propagandistische Folie des kollektiven Exitus bietet den Vorteil, das Undenkbare denkbar zu machen. Der Nachteil besteht darin, dass er kaum mehr bietet als die müßigen Spiele der Rechthaberei: Steht bevor – steht nicht bevor – steht nicht bevor –steht bevor. Wann muss ich meine Ersparnisse auflösen, exportieren, aufstocken, und wohin? Soll ich die Fenster schließen oder gleich das Haus verkaufen? Der Guru hat meine Ängstlichkeit, meine Unruhe fest im Griff und lenkt sie nach Belieben.

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Das klingt ein bisschen, als sei der Körper des einzig Reelle in diesem Spiel. Stimmt das? Der Körper, nüchtern betrachtet, ist leere Totalität. Insofern ist auch er Karikatur. Wenn er eine Botschaft trägt, dann die: Das alles hier kann jeden Augenblick zu Ende sein. Das wissen auch die Entscheidungsträger. Es ist jeder ihrer Entscheidungen eingebrannt. Sie sind im voraus Geächtete kraft ihrer Entscheidungen, denn sie werden die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben.

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Die Literatur hat alle Endspiele durchgespielt, dieses hier inbegriffen. Sie hat darüber alles Pathos verloren und ist ruhig geworden. Am Ende war sie das Endspiel und das war kurz.

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Das Volk, müde der Äfferei, träumt, es sei ewig. Es kann seinen Untergang nicht denken. Soll heißen, das Denken des Volkes endet an dieser Schwelle. Wer sie überschreitet, verlässt die Plattform des Kollektivs und operiert auf eigene Rechnung.

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH †

JOBST LANDGREBE 
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G