von Jobst Landgrebe

Die Athener Vollbürger des 5. Jahrhunderts waren Freiheitsfanatiker. Sie liebten ihren Stadtstaat, weil es ihnen auf dem Höhepunkt der Demokratieentwicklung gelungen war, ihn durch soziale und rechtliche Normen so zu gestalten, dass der Staat das notwendige Gewaltmonopol innehatte, ohne es wesentlich zu missbrauchen. So waren sie wahrhaft frei, konnten ihren individuellen und kollektiven Willen ausleben, solange sie sich an die sozialen und rechtlichen Normen hielten. Freiheit auszuleben geht mit individueller Risikobereitschaft und kollektiver Wehr- und Opferbereitschaft sowie Dankbarkeit für das Gemeinwesen einher, da Willensentfaltung die Möglichkeit zum Scheitern beinhaltet und nach außen gerichtet zu Konflikten mit anderen Staaten führt. Die Athener waren bereit, diese Risiken zu tragen und im bewaffneten Konfliktfall selbst in den Krieg zu ziehen und sich für ihr Gemeinwesen zu opfern. Sie waren ihren Mitbürgern dafür zutiefst dankbar und ehrten die Opfer ihrer Risikobereitschaft.

Das heutige Deutschland ist von diesem Zustand sehr weit entfernt. Wir erleben derzeit den Übergang des Staates BRD von der früheren rechtsstaatlichen, mit hoher politischer Legitimität ausgestatteten Bonner Republik zu einem semi-usurpatorischen, zunehmend illegitimen Staatswesen, das sich durch einen permanenten staatlichen Rechtsbruch und eine vielschichtige Entdemokratisierung auszeichnet. Die politische und wirtschaftliche Partizipation der allermeisten Staatsbürger wird immer schlechter.

In diesen Zeiten gleichen nur wenige Bürger den Vollbürgern Athens, die meisten sind nicht dazu bereit, die Risiken der Freiheit zu tragen. Zwar will sich heute jeder selbst verwirklichen, doch ohne jegliches Risiko, ohne Opferbereitschaft und ohne Dankbarkeit für die Leistungen des Gemeinwesens. Neue Pharisäer, die Trägerschicht der heutigen Staatsordnung, dominieren unseren öffentlichen Diskurs als Parasiten der Freiheit. Zwar genießen sie die Vorzüge der Freiheit, doch sind sie nicht dazu bereit, etwas dafür zu leisten. Sie verwenden das Vokabular der Freiheit und des Naturrechts, doch wollen sie die Freiheit beendigen, indem sie im Rahmen einer aggressiven Gesinnungsethik Bürgerrechte, Eigentumsrechte und Meinungsfreiheit massiv einschränken und danach trachten, die wahrhaft Freien von der politischen Partizipation auszuschließen. Ja, sie wollen die essentielle Quelle der Freiheit, den Nationalstaat, überwinden.

Ulrich Schacht war hingegen ein wahrhaft Freier, ein im besten Sinne freiheitsfanatischer Vollbürger, er hätte gut in das Athen des Kleisthenes gepasst. Er hat als solcher den Niedergang unseres Gemeinwesens früh gesehen, begriffen und beschrieben, während viele andere Intellektuelle es erst später erkannt oder bis heute nicht verstanden haben. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass er 1994 mit Heimo Schwilk den Band Die selbstbewußte Nation herausgab. Wie konnte Schacht die Entwicklung zum usurpatorischen Staat zu einer Zeit erkennen, in der andere noch glaubten, sie erlebten das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama)?

Er hatte eine seltene Mehrfachbegabung, denn er war einerseits mit dem feinen Sensorium des Literaten ausgestattet und als Lyriker und Romanautor kreativ und produktiv, andererseits konnte er aber, anders als andere Literaten, auch analytisch sehr klar und präzise denken. Sein literarischer Feinsinn und seine Lebenserfahrung als politischer Häftling eines totalitären Staates verhalfen ihm dazu, aufziehende Missstände früh wahrzunehmen. Seine analytische Begabung ermöglichte es ihm, sie klar und deutlich zu analysieren. Dies zeigt beispielsweise einer seiner letzten Texte, der in der Zeitschrift Tumult im Sommer 2018 erschienene Artikel Selmayr. Deutsche Profile eines Dritten Totalitarismus.

Was trieb Ulrich Schacht an, woher kam die Energie für dieses reichhaltige und intensive Leben? Er liebte die Freiheit und die Gerechtigkeit, und er hatte buchstäblich am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn der Staat zum Gegner seiner Bürger wird. Er wollte verhindern, dass Deutschland erneut den Weg in die Knechtschaft geht. Als tiefgläubiger Christ lebte und handelte Schacht aus der »Freiheit eines Christenmenschen« (Martin Luther). Schachts Sicht auf die Entwicklung unseres Landes, aber auch der abendländischen Kultursphäre insgesamt, war kritisch bis pessimistisch, er sah klar, wie sich unsere Kultur von Humanismus und Christentum abwendet. Dennoch war sein Denken voller Zuversicht, Gelassenheit und Tatendrang, er ist durchdrungen vom Gottvertrauen, das uns die Freiheit schenkt, von der Apostel Paulus schreibt (Galater 5,13; Römer 7,6).

Wie kann ein moderner Mensch noch in der Gewissheit leben, ein Geschöpf Gottes zu sein und die Nachfolge Christi anzustreben? Die Offenbarungskritik der Aufklärung betont die Unmöglichkeit einer Glaubensgewissheit, da sie im Widerspruch zur Weltsicht des nur Sinnesdaten als Erkenntnisquelle zulassenden Positivismus und des Rationalismus, der die vernunftgegebene Autonomie des Menschen postuliert, steht.

Wir Protestanten glauben jedoch, dass die Offenbarung ihre eigene Wirklichkeit begründet und die Hinwendung zur Offenbarung uns die Glaubensgewissheit verschafft. Luther erkannte sehr klar, dass wir durch Gott in der Heiligen Schrift auf zweierlei Weise angesprochen werden: Durch die Forderung nach der Erfüllung des göttlichen Gebotes sowie die Zusage, dass Gott selbst durch seine Gnade die Voraussetzungen für die Befolgung des Gebotes schafft, indem er den am göttlichen Gesetz scheiternden Menschen gerecht spricht. Dieses Versprechen der Gnade wird uns durch die Menschwerdung Gottes in der Gestalt Christi zuteil, und durch die Wirkung des heiligen Geistes können wir Glaubensgewissheit erlangen. Dies ist das trinitarische Glaubensverständnis des Christen. Für Max Scheler stehen daher positives Wissen, Bildungswissen und Erlösungswissen gleichberechtigt nebeneinander, wenn auch die Grundlagen des Wahrheitscharakters der Aussagen in diesen drei Wissensgebieten unterschiedlich sind.

Schacht war ganz und gar dieser Überzeugung, und er lebte sein Christentum nicht als mönchischer, in sich gekehrter Glaubensmann, sondern als einer, der Gott aktiv im Nächsten suchte. Als solcher war er kein Körnlein des Salzes der Erde (Matthäus 5,13). Nein, er war ein grobes Korn, das dem Geist der Menschen, denen er begegnete, viel Würze, Liebe und Zuversicht geschenkt hat. Auch mir ist es mit ihm so ergangen.

Quellenangabe: Der hier abgedruckte Text ist eine leicht abgewandelte Variante des zuerst in Th. Seidel, S. Kleinschmidt (Hg.): Wegmarken und Widerworte. Ulrich Schacht zum 70. Geburtstag. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2021, erschienen Textes.

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